Warum Deutschland den 60-Milliarden-Euro-Kreis nicht schließen kann – POLITICO

BERLIN – Während sich Deutschlands gespaltene Koalitionsregierung nach einem Bombenurteil des obersten Gerichts des Landes mit der Frage auseinandersetzt, wie sie ein 60-Milliarden-Euro-Loch im Bundeshaushalt stopfen kann, drohen möglicherweise weitere finanzielle Schwierigkeiten.

Ein Urteil des Verfassungsgerichts von letzter Woche zwingt die deutschen Staats- und Regierungschefs bereits dazu, die Finanzierung von Subventionen für Energie, Industrie und Mikrochips neu zu überdenken, was möglicherweise ehrgeizige Pläne zur Ankurbelung der stagnierenden deutschen Wirtschaft und zur Beschleunigung des grünen Wandels untergräbt.

Das Gericht entschied, dass ein Plan der Regierung, 60 Milliarden Euro, die aus einem COVID-19-Notfallfonds übrig geblieben seien, zur Finanzierung der grünen Agenda des Landes umzuwidmen, verfassungswidrig sei.

Aber die finanzielle Belastung könnte sich noch verschlimmern, da das Urteil am Ende weitreichende Auswirkungen haben könnte, die die Möglichkeiten der deutschen Staats- und Regierungschefs – sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene – einschränken, auf eine Vielzahl von Sonderfonds zurückzugreifen, die zur Senkung der Energiepreise geschaffen wurden und Finanzierung von Investitionen in saubere Energie.

Der jüngste Staatsausgabenplan, der aufgrund des Urteils von letzter Woche unter die Lupe genommen wird, ist eine 200-Milliarden-Euro-Energiepreisbremse für Verbraucher und Kleinunternehmen, die letztes Jahr eingeführt wurde, nachdem Russland die Gaslieferungen nach Deutschland eingestellt hatte, was auf EU-Ebene Kontroversen auslöste. Diese Energiesubvention wurde aus einem speziellen „Wirtschaftsstabilisierungsfonds“ finanziert.

Bisher wurde nur ein Teil des Stabilisierungsfonds in Anspruch genommen. Das Problem für die Koalition ist jedoch, dass bis Ende März rund zehn Milliarden Euro aus dem Fonds für die Finanzierung anstehender Energiesubventionen vorgesehen waren. Die geplanten Ausgaben sind nun zweifelhaft.

Als Konsequenz drohen „höhere Strom- und möglicherweise auch höhere Gaspreise für die Bürger“, warnte Wirtschaftsminister Robert Habeck am Montag in einem öffentlich-rechtlichen Radiointerview. Das Gerichtsurteil von letzter Woche sei „so grundlegend“, dass es „im Grunde für alle Sonderfälle gelte“. Fonds, die eingerichtet wurden.“

Die Abgeordneten des Haushaltsausschusses des Bundestags werden am Dienstag eine öffentliche Anhörung mit Rechtsexperten durchführen, um den Schaden einzuschätzen, doch die Opposition droht bereits mit Maßnahmen. Friedrich Merz, Vorsitzender der Mitte-Rechts-Christlich-Demokratischen Union (CDU) – der Partei, die die Klage eingereicht hat, die letzte Woche zum Gerichtsurteil führte – sagte, er erwäge nun, eine weitere Klage gegen den 200-Milliarden-Euro-Fonds einzureichen.

„Alle Sondervermögen werden derzeit analysiert und überprüft“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag.

Die Schuldenbremse umgehen

Das Urteil der letzten Woche unterstrich, wie sehr die aus drei Parteien bestehende Regierungskoalition von Bundeskanzler Olaf Scholz inzwischen auf Sonderfonds angewiesen ist, um die in der Verfassung des Landes verankerte Schuldenbremse zu umgehen, die das Bundesdefizit außer in Notzeiten auf 0,35 Prozent des BIP begrenzt.

Um einen Großteil ihrer Klima- und Industrieagenda zu finanzieren, setzt die Koalitionsregierung auf einen Klima- und Transformationsfonds, der hauptsächlich durch Einnahmen aus dem Verkauf von CO2-Emissionszertifikaten finanziert wird. Um diesen Fonds zu stärken, versuchte die Regierung, Kredite in Höhe von 60 Milliarden Euro, die aus einem COVID-Notfallfonds übrig geblieben waren, umzuwidmen.

Nachdem das oberste Gericht des Landes diese Umwidmung der Gelder nun für verfassungswidrig erklärt hat, bemüht sich die Scholz-Koalition um alternative Finanzierungsmöglichkeiten. Es gibt jedoch keine Anzeichen dafür, dass eine Einigung in Reichweite ist, da es nur wenige schmackhafte Optionen gibt, die drei Regierungsparteien mit unterschiedlichen politischen Zielen zufriedenstellen würden.

Steuererhöhungen sind unwahrscheinlich, weil Finanzminister Christian Lindner und seine konservative FDP, die mit Scholz‘ Mitte-Links-Sozialdemokraten und Habecks Grünen regiert, einen solchen Schritt ablehnen.

Am Montag schlug FDP-Chef Christian Dürr vor, dass Deutschland die Sozialausgaben kürzen könnte. Doch dieser Vorschlag kommt bei vielen Sozialdemokraten und Grünen nicht gut an.

„Wo wollen Sie 60 Milliarden Euro an Sozialleistungen einsparen?“ sagte Habeck im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ein solcher Vorschlag „geht an der Dramatik der Situation vorbei“, fügte er hinzu.

Eine als unwahrscheinlich erachtete Möglichkeit besteht darin, dass die Regierung einen Notstand ausrufen könnte, um die Schuldenbremse für das kommende Jahr auszusetzen, wie sie es während der Pandemie und zu Beginn der umfassenden Invasion Russlands in der Ukraine getan hat. Aber ein solcher Schritt würde wahrscheinlich zu weiteren Klagen führen.

Eine etwas wahrscheinlichere Möglichkeit besteht darin, dass die Regierung auf eine Reform der Schuldenbremse drängen könnte, um mehr finanziellen Spielraum zu schaffen.

Schließlich hat Habeck die wirtschaftlichen Folgen der hohen Energiekosten in alarmierenden Worten beschrieben und davor gewarnt, dass die Folgen für den grünen Wandel in Deutschland und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung enorm seien.

„Die Abwanderung der Industrie schadet unserem Land und unserer Gesellschaft“, warnte der Minister in einem am Sonntag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlichten Interview.

Die Probleme mit der Verwendung von Sondermitteln beschränken sich nicht nur auf den Bund.

Die Länder Berlin, Bremen, Nordrhein-Westfalen, das Saarland und Schleswig-Holstein haben allesamt Sondermittel außerhalb ihres regulären Haushalts eingesetzt, um neue Investitionen in die Infrastruktur oder Zuschüsse für die grüne Wende zu finanzieren. Sollten solche Sonderfonds für rechtswidrig erklärt werden, könnte die finanzielle Not der Staaten die Probleme der Regierungskoalition verschärfen.

Was steht auf dem Spiel?

Bereits jetzt sind verschiedene Förderprogramme, die über den Klima- und Transitionsfonds finanziert werden, gefährdet.

Dazu gehört eine neue Maßnahme zur Senkung der Stromkosten für energieintensive Industrien, die diesen Monat nach monatelangen Machtkämpfen innerhalb der Regierungskoalition über die Maßnahme vereinbart wurde.

Auch die Finanzierung der milliardenschweren Zuschüsse, die den Chipherstellern Intel und TSMC Anfang des Jahres für den Bau neuer Werke in Ostdeutschland zugesagt wurden, ist nun fraglich.

Die gleiche Unsicherheit gilt für Subventionen für die deutsche Industrie, um den kostspieligen Übergang zu erneuerbaren Energien wie Wasserstoff zu unterstützen. Nur wenige Unternehmen der Stahlbranche – wie Thyssen-Krupp und Salzgitter – haben bereits Garantien der Regierung erhalten, eine klimaneutrale Produktion zu unterstützen.

Darüber hinaus ist unklar, wie die Scholz-Koalition die dringend notwendige Modernisierung des überlasteten Schienennetzes in Deutschland finanzieren soll, die teilweise aus dem Klimafonds finanziert werden sollte.

Es besteht wenig Optimismus, dass solche Mittel der Regierung auch in Zukunft zusätzlichen finanziellen Spielraum verschaffen werden.

Alexander Thiele, ein Verfassungsrechtler, der die Regierung letzte Woche im Verfassungsgerichtsverfahren vertrat, sagte während einer Podiumsdiskussion am Freitag, dass es tatsächlich gute Gründe für die Annahme gebe, dass das Urteil bedeute, dass Sonderfonds auf Bundes- und Landesebene illegal seien .

Dennoch scheint es, dass nicht jeder die Botschaft verstanden hat.

Erst am Montag hatte die Berliner Stadtverwaltung erklärt, sie wolle in ein Hochgeschwindigkeits-Magnetschwebebahn-Projekt investieren. Dem Vorschlag zufolge würde die Stadt in eine mehrere Kilometer lange städtische Teststrecke investieren.

Schätzungen zufolge würde das rund 80 Millionen Euro kosten, eine stolze Summe für eine verschuldete Stadt. Die Lösung, so die örtlichen Verantwortlichen?

Das Geld soll aus einem Sonderfonds stammen.


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