Steht Österreich vor seinem eigenen Orbán-Moment? – EURACTIV.com


Die „Orbánisierung“ Österreichs ist zu einem festen Begriff im österreichischen politischen Diskurs geworden. Doch was steckt hinter den Vorwürfen über schwindende Medien- und Justizautonomie in der Alpenrepublik?

Die Anschuldigungen der “Orbánisierung” gehen auf das im Mai 2019 durchgesickerte Ibiza-Gate-Video zurück, das den Führer der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und späteren Vizekanzler Hans Christian Strache zeigt, wie er Ungarn als Vorbild für Österreich darstellt.

“Ich will eine Rolle wie Orbán”, sagte Strache in dem durchgesickerten Video und bezog sich dabei auf den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. „Wir wollen eine Medienlandschaft ähnlich der von Orbán aufbauen.“

Zwei Jahre später werden Bundeskanzler Sebastian Kurz und seine Österreichische Volkspartei (ÖVP) für seinen wahrgenommenen Einfluss auf die österreichischen Medien und seinen Umgang mit der Justiz kritisiert.

Die Vorwürfe der Opposition sind heftig:

„Die Kurz-Partei versucht, Österreich nach dem Vorbild des autoritären ungarischen Ministerpräsidenten Orbán wieder aufzubauen“, sagte SPÖ-Bundesvorsitzender Christian Deutsch gegenüber EURACTIV.

„Genau wie Orbán versucht die Kurz-ÖVP, die Medien unter ihre Kontrolle zu bringen“, sagte Deutsch und verwies auf die totale Nachrichtenkontrolle, Drohungen gegen Journalisten und die Platzierung von Regierungsanzeigen als Beispiele für die angebliche Einflussnahme Orbáns auf die die Medien.

Obwohl Österreich im Vergleich zu anderen EU-Ländern im World Press Freedom Index noch immer einen beachtlichen Spitzenplatz einnimmt, hat sich sein Rang in den letzten Jahren stetig verschlechtert.

Damit liegt das Land weltweit auf Platz 17 und übertrifft damit andere europäische Länder wie Frankreich (Platz 34) oder Großbritannien (Platz 33) und weit vor Ungarn (Platz 92).

Allerdings gebe es „Entwicklungen, die Anlass zur Sorge geben“, sagte Fritz Hausjell, Medienwissenschaftler und Vorstandsmitglied von Reporter ohne Grenzen, gegenüber EURACTIV.

Als Beispiele für diese besorgniserregenden Entwicklungen nannte er zweifelhafte Medienkäufe und staatliche Werbung.

Das Büro von Kurz, das von EURACTIV kontaktiert wurde, um sich zu den Vorwürfen zu äußern, antwortete nicht.

Medienakquise

Das geleakte Video von 2019 zeigte, dass Strache daran interessiert war, sich in die österreichische Medienlandschaft einzukaufen und den österreichischen politischen Diskurs zu seinen Gunsten zu gestalten.

„Und tatsächlich haben wir jemanden, der vor dem Erwerb bedeutender Anteile an Österreichs größten Zeitungen noch nicht im Medienbereich tätig war“, sagte Hausjell.

Im Rampenlicht: Immobilienmagnat René Benko, dessen Vermögen auf 4,7 Milliarden Euro geschätzt wird. Benko, ein Anhänger von Kurz, der zu seinem engsten Kreis gehört, hatte sich wenige Monate vor dem Ibiza-Gate in zwei der größten österreichischen Zeitungen eingekauft.

Er hält derzeit rund 25 % an zwei der größten österreichischen Medienunternehmen und hat den „ausdrücklichen Wunsch, als Miteigentümer aktiver zu werden“, sagte Hausjell gegenüber EURACTIV.

Als Benko eine 60-Millionen-Euro-Immobilie im Herzen Wiens kaufen wollte, wurde über die Feiertage das Amtsgericht eigens für ihn geöffnet und ein Beamter aus dem Urlaub geholt, um die Transaktion durchzusetzen.

Der Fall gab Anlass zu Vorwürfen, dies sei eine Gegenleistung für politische Gefälligkeiten.

„Es hätte andere Bewerber gegeben, aber die Regierung hat hier einen Unternehmer bevorzugt. Da stellt sich die Frage, ob sich hier eines der Elemente dieser sogenannten ‚Orbanisierung’ herausgebildet hat“, so Hausjell.

Regierungswerbung und PR-Apparate

Es gibt auch andere Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Medien, unter anderem durch staatlich bezahlte Anzeigen in Zeitungen.

Im Jahr 2020 platzierte die Regierung Anzeigen im Wert von 47 Millionen Euro in den Medien, dreimal so viel wie die vorherige Regierung. Die regierungsfreundlichen Boulevardmedien sind die großen Profiteure des üppigen Werbebudgets.

„Hier gibt es Überschneidungen bei der Regierungsfreundlichkeit und der Platzierung von Werbung“, sagt Hausjell.

Die österreichischen Medien sind von diesen staatlichen Anzeigen finanziell abhängig, was sie unter Druck setzt, günstiger über Regierungsangelegenheiten zu berichten.

„Aufgrund der Weiterentwicklung der staatlichen Werbung in den letzten Jahren erreichen viele politische Ereignisse nicht mehr die mediale Bühne“, kritisierte Hausjell die Abhängigkeit und Berichterstattungsbeschränkungen vieler Medienunternehmen.

Auch den PR-Apparat der Regierung hat Kurz auf ein bisher nicht gekanntes Niveau ausgebaut: Allein im Bundeskanzleramt sind rund 60 Personen beschäftigt.

„Das ist definitiv ein Problem“, sagte Hausjell und verwies auf das Missverhältnis zwischen dem PR-Apparat der Regierung und der schrumpfenden Redaktion der Zeitungen. „Bei diesem Zusammenschluss steht der Journalismus unter erheblichem Druck“, betonte er.

Ermittlungen gegen Kurz’ Schergen

Seit Kurz, der im August 35 Jahre alt wird, die Kanzlerschaft übernommen hat, sind viele der wichtigsten politischen Ämter an ihn treue Persönlichkeiten vergeben.

Die veröffentlichten Chat-Logs von Thomas Schmid, dem ehemaligen Alleinvorstand der selbstständigen Holding Österreichische Industrieholding (ÖBAG), zeigen, wie die Post in der Praxis funktioniert hat.

Schmid hat 2019 durch direkte Intervention von Kurz und Finanzminister Gernot Blümel den Vorstandsposten der ÖBAG erhalten.

Blümel schrieb ihm, dass „SchmidAG ist bereit“ unmittelbar nach der ÖBAG-Entscheidung zu seiner Ernennung und bezeichnete Schmid als „Familie“. „Man kann sowieso alles bekommen, was man will“, versicherte ihm Kurz, worauf Schmid antwortete: „Ich bin so glücklich, ich liebe meine Kanzlerin.“

Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) sagte, das Chatprotokoll könnte auf einen möglichen Gefälligkeitshandel zwischen den beiden hindeuten.

Doch das System von Kurz gerät ins Wanken. Gegen acht Spitzenvertreter der ÖVP ermittelt die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) derzeit aus unterschiedlichen Gründen, darunter nicht nur Finanzminister Blümel, sondern auch Kurz selbst.

Als Reaktion darauf ging die ÖVP in die Offensive. Nach Bekanntgabe der Ermittlungen gegen Blümel im Februar sagte die Bundeskanzlerin gegenüber der Staatsanwaltschaft: “Es hat so viel Fehlverhalten gegeben, dass ich glaube, dass es dort dringenden Änderungsbedarf gibt.”

Viele Spitzenanwälte sahen den Schritt als Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz.

Auch Christian Deutsch (SPÖ) kritisierte den Schritt und sagte gegenüber EURACTIV, dass die Angriffe auf die Justiz „die Demokratie gefährden“ und „das Vertrauen“ in die Unabhängigkeit der Justiz untergraben.

Die Tiraden der ÖVP gegen die Staatsanwälte gehen jedoch weiter. Erst kürzlich bezeichnete der ÖVP-Klubvorsitzende August Wöginger die Ermittlungen gegen seine Parteikollegen als “politisch motiviert”.

Staatsanwalt Franz Merli sagte gegenüber EURACTIV, die ÖVP sei gut beraten, „die Staatsanwaltschaft in Ruhe arbeiten zu lassen“.

Doch trotz der jüngsten Skandale um das Netzwerk von Kurz kann seine Partei noch immer auf erhebliche Unterstützung der Wähler zählen. Die ÖVP liegt aktuell bei 33 Prozent, ihr größter Konkurrent – ​​die Sozialdemokraten – hinkt 8 Prozentpunkte hinterher.

Österreichische Altlasten

Das Problem des Einflusses der Politik auf die Medienbranche ist ein Phänomen, das Österreich schon lange beschäftigt. So wurde wiederholt über den Einfluss von Regierungen, die bereits unter SPÖ-Führung standen, auf die Medienberichterstattung spekuliert.

Darüber hinaus hat Österreich eine lange Tradition von Parteizeitungen, ein Trend, der durch die Digitalisierung verstärkt wurde.

FPÖ, SPÖ und ÖVP betreiben alle eigene Online-Zeitungen, die allerdings möglichst neutral erscheinen, sodass die Leser oft gar nicht wissen, dass es sich um eine Parteizeitung handelt. Teilweise generieren diese Online-Medien mehr Zugriffe als etablierte Zeitungen.

Der Einfluss der Politik auf die Medienlandschaft ist daher an sich nichts Neues. Unter der Regierung Kurz ist jedoch ein deutlich negativer Trend zu erkennen.

„Das Problem wurde nicht von Kurz entwickelt, sondern von Kurz verschärft“, sagte Hausjell.

Was die „Orbanisierung“ der österreichischen Justiz angeht, scheint die Debatte jedoch übertrieben: Der Angriff auf die Justiz erfolgt vorerst nur verbal, und Österreich ist ohnehin weit davon entfernt, sich nach Orbáns Bild wieder aufzubauen.

„Ich kann nur sagen, dass es eine Tendenz gibt, sich mit der Justiz anzulegen. Das muss aber kein schlechtes Zeichen sein, denn ein unbedingter Glaube an die Objektivität der Justiz ist auch nicht das Beste für eine demokratische Gesellschaft“, sagt Alexander Somek, Rechtsprofessor an der Universität Wien, gegenüber EURACTIV.

“Wir können derzeit noch nicht abschätzen, wohin das gehen wird.”

[Edited by Zoran Radosavljevic/Josie Le Blond]





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