Zwangs-Patienten gehen durch die Hölle

Veit Roessner und sein Team behandeln jedes Jahr mehrere Tausend junger Patienten mit Tics, Zwangsstörungen und Tourette-Syndrom. Wie er den Kindern hilft – und was er Eltern rät.

Professor Roessner, Sie haben in Dresden einen Schwerpunkt auf die Behandlung von Tic- und Zwangsstörungen gelegt. Was genau ist ein Tic?
Man kann den Beginn der Erkrankung, die ja meist im Kindesalter auftritt, mit Schluckauf vergleichen: Die Betroffenen haben den körperlichen Drang, eine bestimmte Bewegung auszuführen, die sie oft nicht unterdrücken können. Das beginnt typischerweise im Gesicht, weshalb der Blinzel-Tic einer der häufigsten ist. Dann gibt es Grimassierungen wie Naserümpfen, Mundwinkel verziehen, aber auch schnelle Augenbewegungen. Tics breiten sich meist vom Kopf über den Körper bis zu den Extremitäten aus. Am Anfang sind wenige Muskelgruppen betroffen, dann werden die Bewegungen komplexer. Auch Anspannungen etwa der Bauchdecke und vokale Tics gehören dazu.

Viele Menschen summen ständig vor sich hin. Ebenfalls ein Tic?
In der Regel nicht, sondern ein Tick; also mit ck geschrieben. Damit sind eher merkwürdige Angewohnheiten gemeint. Tics und Ticks sind manchmal gar nicht so einfach zu unterscheiden. Es gibt zum Beispiel das Phänomen der Echolalie: Manche Patienten haben den Drang, das letzte Wort, das ihr Gegenüber sagt, nachzusprechen. Sie leiden unter einem Tic. Wenn Leute aber in einer Unterhaltung mit Freunden immer die letzten zwei, drei Worte wiederholen, eher um sich am Gespräch zu beteiligen, ist das eine vielleicht skurrile, aber harmlose Angewohnheit. 

Tics reduzieren ein quälendes Vorgefühl

Welchen Sinn haben diese Tics? 
Wie beim eingangs erwähnten Schluckauf haben die Tics eigentlich gar keinen Sinn. Bei den betroffenen Kindern tritt ab dem Alter von durchschnittlich elf Jahren häufig ein Vorgefühl auf, das sie als sehr unangenehm empfinden, eine Anspannung etwa oder ein quälendes Kitzeln. Die Tics reduzieren meist dieses Vorgefühl. Ein Ansatz in der Therapie ist zu gucken, ob die Patienten das Vorgefühl aushalten können, ohne den Tic auszuführen.  

Wodurch werden Tics verursacht?  
Aus Berichten von Betroffenen wissen wir, dass sie Reize weniger gut abschirmen können. Sie halten es nicht aus, eine Uhr zu tragen oder einen Ring, können nicht lange auf einem Stuhl sitzen, weil es so drückt, das Etikett in der Kleidung kratzt. Das sogenannte “sensorische Gating” funktioniert nicht so gut, also die Unterdrückung von Reizen, die für eine anstehende Aufgabe irrelevant sind. Da fehlt quasi ein Filter. Hinzu kommt, dass Betroffene eine erhöhte Angewohnheits-Neigung haben. 

Kann man Tics erben?
Ja, die Genetik spielt eine wichtige Rolle, ähnlich wie bei ADHS und Zwangsstörungen. Das ist in der Sprechstunde manchmal spannend wenn man die Eltern fragt: “Haben Sie denn selber Tics?” – und der Vater antwortet “Nein” und dann räuspert er sich häufig oder blinzelt. 


Veit Roessner leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Dresden. Dort baute er eine Ambulanz für Tic- und Zwangsstörungen auf.

© Iona Dutz / STERN

Wann wird aus einem Tic ein Tourette-Syndrom? 
Wenn man länger als ein Jahr mindestens zwei motorische und einen vokalen Tic hat, sprechen wir von einem Tourette-Syndrom. Darunter leidet etwa ein Prozent der Bevölkerung. Drei bis vier Prozent haben eine chronische Störung, also entweder motorische oder vokale Tics, die länger als ein Jahr andauern.

Gerade Tourette übt eine ungeheure Faszination aus. Manche Youtuber, die selbst betroffen sind, haben Tausende Follower. 
Ein Grund ist sicher die Koprolalie, also das Phänomen, dass manche Tourette-Patienten Obszönitäten, Schimpfwörter und Flüche ausstoßen. Diese können mit entsprechenden Bewegungen und Gesten gekoppelt sein, das nennt man Kopropraxie. Beiden gemein ist, dass sie sozial unangemessen sind. Wobei es ein Mythos ist, das Tourette-Syndrom auf diese Obszönitäten zu reduzieren, auch wenn man sich genau daran besonders erinnert. Wie schon gesagt, reichen zwei motorische und ein vokaler Tic für die Diagnosestellung aus, also zum Beispiel Augenblinzeln, Naserümpfen und Räuspern. So verwundert es auch nicht, dass viele Betroffene nicht mal wissen, dass sie eine Tic-Störung, noch weniger, dass sie die “Unterform” Tourette-Syndrom haben. 

Hitliste der benutzten Fluchwörter

Was spielt sich da im Gehirn ab? 
Wir wissen es nicht. Dieses Dranghafte kennt man auch beim Fluchen. Wir bereiten gerade ein Projekt vor, in dem wir Gesunden und Tourette-Patienten in einem recht aufwendigen Setting Flüche und koprolalische Tics hören lassen, um herauszufinden, was dabei im Gehirn abläuft. Wir wissen vom Fluchen, dass es eine entlastende Funktion hat; auch Sprachgefühl und Sozialisation spielen eine Rolle: Bestimmte Abfolge von Lauten und Tönen werden schöner als andere empfunden. Das ist wie ein Ohrwurm. In jeder Sprache gibt es eine eigene Hitliste der am häufigsten benutzten Fluchwörter. 

Tic-Störungen und Tourette-Syndrom schränken massiv die Lebensqualität der Betroffenen ein. Wie kann man ihnen helfen?
Mit Medikamenten und begleitender Psychotherapie. Allerdings treten Tics nur selten allein auf. 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben zusätzliche psychiatrische Probleme, oft ADHS oder eine Zwangsstörung. Und diese Krankheiten schränken in der Regel die Lebensqualität noch viel stärker ein als die Tics. Etwa zehn Prozent leiden “nur” unter einem oder mehreren Tics. Wenn die Betroffenen sich früh im Kindes -und Jugendalter bei uns vorstellen, kommen sie relativ gut zurecht. Ich vergleiche die Behandlung oft mit der der Kurzsichtigkeit. Wenn es leicht ausgeprägt ist, geht es so. Wird des schlimmer, setzt man eine Brille auf – also nimmt ein Medikament ein. Wenn man das Medikament dann irgendwann weglässt, sind die Tics wieder da, als ob man nie ein Medikament benutzt hätte. So wie auch die Kurzsichtigkeit da ist, wenn man die Brille absetzt.

Aus sinnvollen Ritualen werden absurde Zwänge

Ein anderer Schwerpunkt Ihrer Arbeit sind Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Wenn die heranwachsenden Kinder eine Stunde duschen, kann das Eltern wahnsinnig machen. Ab wann sollten sie sich Sorgen machen?
Wenn die Zwangshandlung chronisch wird. Reinlichkeit und Hygiene sind ja ein ganz typisches Thema für Zwänge. Evolutionär betrachtet ist das auch sinnvoll. Wer sich regelmäßig wäscht und die Höhle sauber hält, schützt sich und andere vor Krankheiten und sichert das Überleben. Gleiches gilt für das Bedürfnis nach Kontrolle, Ordnung und Symmetrie oder für die Angst vor Vergiftungen. Auch diese Verhaltensweisen sind eigentlich sinnvoll und dienen dem Überleben. Es ist wichtig, einen Überblick über die Vorräte in der Höhle zu haben und sie ordentlich zu lagern oder Angst vor unbekannten Beeren zu haben, weil sie giftig sein könnten. Doch Zwangspatienten entwickeln Rituale und Kontrollen, die absurd sind. Sie waschen sich so oft, dass ihre Knöchel blutig werden, müssen immer wieder gucken, ob das Haus abgeschlossen ist, kommen keine Treppe mehr hoch, weil das Zählritual unglaublich aufwendig geworden ist. 

Betroffene sehen oft Zusammenhänge, die Außenstehenden völlig verrückt erscheinen. Woher kommt das? 
Das geht in Richtung magisches Denken, was jeder von sich kennt. Besonders Kinder durchschauen Zusammenhänge des Lebens nicht so wie Erwachsene es aufgrund ihrer Lebenserfahrung können. Das erzeugt Angst und Unsicherheit. Und je weniger Informationen ich über die Welt habe, umso anfälliger bin ich für magisches Denken. Ein anderer Teil scheint angeboren. Diese jungen Patienten machen sich früh zu viele Gedanken, weil sie sensibler und emotionaler sind und stellen merkwürdige Zusammenhänge her, über die andere Kinder gar nicht lange nachdenken würden. Diese Kinder und Jugendlichen denken zum Beispiel: Wenn ich das Besteck falsch einsortiere, stirbt meine Mutter. Was natürlich Quatsch ist.

Können Sie weitere Beispiele nennen? 
Mir geht ein Jugendlicher durch den Kopf, für den haben die Eltern eine eigene Wohnung angemietet, damit er den Tag “rein”  verbringen kann. Und in diese Wohnung dürfen nur bestimmte Gegenstände oder Personen. Ein junges Mädchen musste immer, wenn sie Filme anschaute oder Radio hörte, aufschreiben, wer gerade spricht. Tat sie es nicht, hatte sie Angst, zu verdummen. Die Rituale dienen dazu, Kontrolle zu erlangen über eine Welt, die als sehr gefährlich oder bedrohlich empfunden wird. Wir haben einen Jungen, der seine Bettdecke auf ganz bestimmte Weise aufdecken muss, sonst kann er nicht die Füße auf den Boden setzen. Das kann bis zu vier Stunden dauern. Zwangs-Patienten gehen durch die Hölle. 

Betroffene leisten Widerstand 

Erkennen die Betroffenen die Absurdität ihres Handelns? 
Unterschiedlich. Ein Messie, der pathologisch hortet, würde nie sagen, dass er eine Zwangserkrankung hat, denn er braucht ja seine zehn Zeitschriften-Sammlungen, wenn er mal etwas aus dem Jahr 1974 nachgucken will. Aber der typische Zwangspatient erkennt durchaus, dass das Ritual Quatsch ist und ihn kaputt macht. Und er leistet auch Widerstand. 

Wann kommen die Jugendlichen zu Ihnen? 
Wenn sie merken, es geht so nicht weiter. Sie haben sich zurückgezogen und sind von ihren Zwängen völlig erschöpft. Die Eltern verstehen gar nicht so genau, warum der oder die jetzt nicht mehr rausgeht oder statt früher zehn Minuten nun eine Dreiviertelstunde duscht. Das ist ein schleichender Prozess mit einem Mix von Symptomen: weniger Sozialkontakte, Schulvermeidung, teilweise auch Aggression oder pure Verzweiflung. Irgendwann merken die Eltern, dass sie bei dem Zwangssystem nicht mehr mitmachen können. Sie können nicht zehnmal am Abend sagen “Ich hab dich lieb” oder sich drei Stunden neben ihr Kind legen und genauso atmen, wie das Kind es vorschreibt.

Wie helfen Sie diesen jungen Menschen? 
Ab einer gewissen Ausprägung müssen wir erst mal Medikamente geben. Ich vergleiche das immer mit dem Bergsteigen. Keiner von uns kann aus dem Stand einen 4000 Meter hohen Berg bezwingen. Man brauch einen Lift, um die ersten 3000 Meter zu schaffen. Und dieser Lift ist eben ein Medikament. Das sind Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, die man auch bei Depressionen gibt. Man fühlt sich besser, nimmt die Dinge nicht mehr als so katastrophal wahr. Das Zweite ist die Exposition mit Reaktionsverhinderung.

Wie sieht das konkret aus?
Der Therapeut setzt sich mit dem Patienten hin, schreibt alle Zwänge auf und ordnet sie nach Schwere. Dann geht er mit dem Patienten erstmal in die am wenigsten schwere Situation hinein, verhindert aber die Zwangshandlung. Die Patientin schreibt eben nicht sämtliche Namen von Schauspielern auf, die in einem Film auftreten. Und sie merkt: Das hat gar keine schlimmen Folgen. Eine Exposition muss aber gut vorbereitet werden gemeinsam mit den Betroffenen. Das dritte Standbein ist die Psychotherapie. Und: Wir versuchen auch, Humor reinzubringen. Also dass man mal lachen kann und mehr Leichtigkeit spürt. Mit Comics beispielsweise, wo der Zwang als kleines Monster gezeigt wird.

Seit Corona nehmen “stille Störungen” zu

Das schafft eine Distanzierung? 
Genau. Man sagt im Grunde: Pass auf, das sind zwar deine Gedanken, aber sie sind etwas anderes als deine normalen Gedanken. Sie sind ein Monster. Damit kapselt man sie quasi ab und die jungen Patienten erkennen, aha, das ist das Monster.  Und sie lernen, das Monster zu zähmen und irgendwann gar nicht mehr in ihren Kopf zu lassen. 

Wir erleben als Gesellschaft derzeit viele Krisen. Begünstigt das Zwangsstörungen?
Während der Corona-Pandemie haben die sogenannten “stillen Störungen” zugenommen, ganz klar. Depressionen, Essstörungen, Angst- und Zwangsstörungen. Eine Erklärung ist, dass die Familien mehr Zeit zuhause miteinander verbracht haben und deswegen solche Verhaltensweise eher aufgefallen sind. Eine andere, gesellschaftliche Erklärung könnte sein, dass Kinder weniger “geschubst” werden, wie wir Therapeuten es nennen. 

Was meinen Sie damit?
Vielen Eltern fällt es schwer, ihren Kindern Erfahrungen zuzumuten, die nicht 100 Prozent positiv sind. Aber wenn man vom Kind will, dass es lebenspraktisch und glücklich wird, muss man dranbleiben, damit es auch solche Dinge umsetzt. Das meinen wir mit dem “Schubsen”. 

Was bedeutet das für Therapeuten?
Für einen Teil unserer Patienten ist es wichtig, dass wir sie auch mal anfassen und beispielsweise die Hand wegziehen, um den Waschzwang zu verhindern. Wenn wir nur am Schreibtisch sitzen und sagen: “Du musste jetzt deine Hände nicht waschen”, würde das nicht reichen. Das heißt jetzt nicht, dass man die mit Gewalt da wegzieht. Aber schon allein dabeizustehen und einzugreifen ist eine Gratwanderung. Wann ist das übergriffig? 

Warum Eltern sich auf Machtkämpfe einlassen sollten

Sagen Sie es uns.
Wir haben einen Patienten, der will seine Medikamente nicht nehmen. Zu dem gehe ich als Chefarzt, weil ich aufgrund meiner Position und Erfahrung eine gewisse Autorität habe. Das ist kein Erfolgsgarant, aber es bringt schon etwas. Ich sage ihm, ich komme wieder und ich werde auch noch einmal kommen. Ich gehe dir jetzt so lange auf den Keks, bis du dieses blöde Medikament nimmst.

Wenn Eltern solche Machtkämpfe beginnen, funktioniert das aber nicht. 
Das sehe ich anders, auch wenn es für Eltern definitiv schwieriger ist. Wir beziehen Eltern intensiv in die Therapie mit ein, geben ihnen und den Kindern Aufgaben, wenn sie zu Besuch kommen. Das Ziel ist dabei immer, dass Regeln aufgestellt und eingehalten werden. Verstößt der Patient dagegen, hat das Folgen. Die Eltern brechen den Besuch ab, das Kind darf bestimmte Dinge nicht mehr tun. 

Was raten Sie Eltern, damit es erst gar nicht zu solchen Problemen kommt?
Es ist wichtig, dass Kinder Autonomie erlernen und sich etwas zutrauen. Dass sie die Erfahrung machen, Ängste und anfangs unangenehme Situationen allein bewältigen zu können. Wir haben überdurchschnittlich viele Kinder in unserer Sprechstunde, die mit sechs oder sieben Jahren noch im Bett der Eltern schlafen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Das bedeutet nicht automatisch, dass jedes Schulkind, das im Bett der Eltern schläft, unter Zwängen leiden wird. Doch wenn ein Kind Angst im Dunkeln hat, ist es wichtig, dass es sich damit auseinandersetzen kann und autonom wird. Dabei können Eltern helfen. Es dem Kind immer so einfach wie möglich zu machen, ändert nichts und macht es oft noch schlimmer.

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