Wolfgang Schmidt: Wie sich der Kanzleramtschef für eine IT-Firma einspannen ließ

Der Ex-Eigentümer der IT-Sicherheitsfirma Virtual Solution ist wegen Kontakten ins Netzwerk von Wirecard-Vorstand Jan Marsalek in die Schlagzeilen geraten. Neue Akten zeigen, wie der russlandnahe Investor den Scholz-Vertrauten Wolfgang Schmidt für seine Geschäftsinteressen einsetzte – trotz Beschwerden von Beamten.

Es war Mitte September, als der SPD-Abgeordnete Ralf Stegner von merkwürdigen Dingen berichtete. Stegner saß in der Talksendung von Micky Beisenherz auf ntv, eines der Themen war die Affäre um den Rauswurf des BSI-Präsidenten Arne Schönbohm. Den Chef der Cyberabwehrbehörde hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) schon im Herbst 2022 unter noch immer nicht völlig geklärten Umständen vor die Tür gesetzt. Die Affäre verfolgte Faeser bis in den Wahlkampf in Hessen, wo sie eigentlich Ministerpräsidentin werden wollte. 

In der Talksendung vier Wochen vor der Hessen-Wahl sprang SPD-Mann Stegner seiner Parteifreundin zur Seite – gegen die heftige Kritik aus der Union an Faesers Umgang mit Schönbohm. “Achten Sie darauf, was sich da noch alles tut”, setzte Stegner an und prophezeite: “Da gibt es eine Firma Virtual Solution zum Beispiel, da gibt’s alle möglichen Dinge, die werden noch ans Tageslicht kommen.” Auf den Einwand des Moderators, das klinge reichlich nebulös, entgegnete Stegner: “Da gibt’s eine ganze Menge, Wirecard, ehemalige Manager spielen da eine Rolle.” 

Es hörte sich an, als wisse Stegner, der auch im Parlamentarischen Kontrollgremium für die Nachrichtendienste des Bundes sitzt, noch mehr. 

Über die IT-Firma Virtual Solution sowie ihren langjährigen Haupteigentümer Nicolaus von Rintelen und dessen enge Verbindungen nach Russland hat das Wirtschaftsmagazin “Capital” immer wieder berichtet. Virtual Solution, das ist jenes Münchner Unternehmen, das in enger Begleitung durch das BSI eine spezielle Sicherheitssoftware für Smartphones und Tablets entwickelt hat, die auch in vielen Bundesministerien und Behörden eingesetzt wird. Mails von Ministern, Staatssekretären und Botschaftern werden mit der Software namens SecurePIM vor einem Zugriff von Hackern abgeschirmt. Die App hat auch den Segen des BSI, dass mit ihr sensible, als vertraulich (VS-NfD) eingestufte Informationen verschickt werden dürfen – etwas, das nicht allzu viele Anbieter vorweisen können, schon gar nicht aus Deutschland.

Zugleich wurde 2021 bekannt, dass von Rintelen früher gute Kontakte ins Netzwerk des Wirecard-Managers Jan Marsalek pflegte. Auch Marsalek selbst traf von Rintelen, der sein Vermögen als rechte Hand des russischen Gas-Oligarchen Leonid Michelson gemacht hatte. Noch wenige Wochen vor Marsaleks Flucht gab es eine Verabredung für Treffen im kleinen Kreis in einem Züricher Nobelhotel, wobei von Rintelen jedoch ein “Näheverhältnis” zu dem als Helfer russischer Geheimdienste verdächtigten Marsalek vehement bestreitet. Mitte Februar 2022 wurde Virtual Solution dann an den IT-Konzern Materna verkauft.

Auf das und vielleicht noch mehr spielte Stegner in der Talksendung offenbar an. Doch was der SPD-Mann nicht erwähnte, ist, dass auch Vertreter seiner und Faesers Partei gute Kontakte zu dem IT-Unternehmer unterhielten – auch aus dem innersten Zirkel von Olaf Scholz. Besonders im Fokus: der heutige Kanzleramtsminister und ehemalige Finanzstaatssekretär Wolfgang Schmidt.

Interesse an Großauftrag beim Zoll

Wie gut die Drähte von Rintelens zu Schmidt in seiner Zeit im Bundesfinanzministerium (BMF) zeitweise waren, zeigen jetzt bisher unbekannte Akten aus der Bundesregierung aus den Jahren 2020 bis 2022. Die Herausgabe der Unterlagen hat der frühere Bundestagsabgeordnete Fabio De Masi über Monate mit mehr als zehn Informationsfreiheitsanträgen erzwungen. Die umfangreichen Akten mit internen Mails und Vermerken liegen “Capital” und der “Welt am Sonntag” vor. 

Aus den Unterlagen geht unter anderem hervor, wie sich der damalige Staatssekretär Schmidt Anfang 2021 auf Intervention des Virtual-Solution-Eigners bei einem Großauftrag der Generalzolldirektion einschaltete – obwohl sich Fachbeamte aus dem Ministerium in einem Vermerk über Versuche von Rintelens und seiner Firma beschwerten, massiven Einfluss auf die Auftragsvergabe zu nehmen. Seinerzeit häufte Virtual Solution Jahr für Jahr Defizite an, die von Rintelen mit Millionen aus eigener Tasche ausgleichen musste. Offenbar erhoffte man sich von dem Multi-Millionen-Auftrag beim Zoll Abhilfe.

Und noch etwas zeigen die Akten: Nämlich, dass die Bundesregierung den Bundestag zu Schmidts Kontakten mit dem IT-Unternehmer in der Vergangenheit nicht immer sauber informiert hat. Eine aktuelle Anfrage zu den Vorgängen ließ von Rintelen unbeantwortet. Auch der heutige Eigentümer von Virtual Solution, der IT-Konzern Materna, wollte sich zu den Vorgängen aus der Zeit vor der Übernahme nicht äußern. Nachdem “Capital” und “Welt am Sonntag” am Montag Fragen an Schmidt, das Bundeskanzleramt und das Finanzministerium übermittelt hatten, kündigten das Bundespresseamt und das Finanzressort zunächst Antworten an — die jedoch bis Freitagnachmittag ausblieben. In der Vergangenheit hatte die Bundesregierung stets versichert, es gebe keinerlei Erkenntnisse, die zu Sicherheitsbedenken bei Produkten von Virtual Solution führten. Die Software werde unverändert eingesetzt.

Mails gelöscht – Staatsanwaltschaft prüft 

Öffentlich größer auf den Schirm geraten war die Firma Virtual Solution erstmals im Frühjahr 2021 im Wirecard-Untersuchungsausschuss. Damals thematisierte der Linken-Abgeordnete De Masi die Aussage eines Kompagnons und Fluchthelfers von Marsalek in einer Vernehmung, wonach sich der damalige Firmeneigentümer von Rintelen und der Wirecard-Manager “näher” gekannt hätten. Nach der Sitzung meldete sich Finanzstaatssekretär Schmidt bei De Masi: Ob er noch mehr Informationen zu den Kontakten des Virtual-Solution-Inhabers habe, damit man sich “kümmern und nachfassen” könne, fragte Schmidt. Am Telefon, so erinnert sich De Masi, habe Schmidt zudem gesagt, Scholz sei sehr besorgt.

Umso überraschender war es, als später herauskam, mit wem in der Bundesregierung von Rintelen zuvor besonders häufige Kontakte unterhalten hatte: ausgerechnet mit Schmidt. Auf Anfragen von Abgeordneten gab die Bundesregierung für Februar 2020 vier Kontakte an, davon drei per Mail und ein persönliches Treffen. Im Januar 2021 gab es demnach einen Mailkontakt und ein Telefonat zwischen Schmidt und von Rintelen. 

Als Anlass für die Kontakte nannte die Bundesregierung zunächst “allgemeiner Austausch” – was erst einmal plausibel klang, weil für IT-Sicherheit und die eingesetzten Produkte von Virtual Solution im Finanzministerium nicht Schmidt zuständig war, sondern ein anderer Staatssekretär. Allerdings nutzten zumindest im Jahr 2020 Schmidt selbst und die halbe Spitze des Ministeriums die Sicherheits-App auf ihren Smartphones, wie Mails aus jener Zeit zeigen: darunter Minister Scholz, Schmidts Kollege Jörg Kukies und Scholz‘ Büroleiterin. In den Akten ist von einer “für die BMF-Leitung bereitgestellten iOS-Sonderlösung der Firma Virtual Solution” die Rede. Bei iOS geht es um das Mobile-Betriebssystem von Apple.

Leonid Michelson ist Gründer und Großaktionär des zweitgrößten russischen Gaskonzerns Novatek und einer der reichsten Russen. Virtual-Solution-Haupteigentümer von Rintelen arbeitete jahrelang für den Milliardär, bis heute nennt er ihn seinen Mentor

© ITAR-TASS

Um die konkreten Kontakte und die Kommunikation zwischen Schmidt und von Rintelen schien man nach dem Wirecard-Skandal allerdings ein großes Geheimnis zu machen. Bei einem Treffen mit “Capital” Ende Januar 2022 spielte von Rintelen den Austausch herunter. Danach hieß es, man könne womöglich die Mails zur Verfügung stellen – was dann nie passierte. 

Im Frühjahr 2022 bemühte sich deshalb der Linken-Abgeordnete Christian Görke auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) um eine Offenlegung der Korrespondenz aus dem Jahr 2020. Daraufhin teilte ihm das Finanzministerium mit, ein “Zugriff auf etwaige zuvor empfangene und versandte persönliche E-Mails ehemaliger Staatssekretäre” des Hauses sei nach dem “politischen Amtswechsel” nach der Bundestagswahl 2021 “nicht mehr möglich”. Offenbar waren die Mails nicht veraktet und nach Schmidts Wechsel ins Kanzleramt gelöscht worden. Wegen der verschwundenen Mails prüft die Berliner Staatsanwaltschaft nach einer Strafanzeige von Ex-Politiker De Masi inzwischen einen möglichen Verdacht auf den Straftatbestand der unerlaubten Datenveränderung. Das Verfahren läuft gegen unbekannte Personen im Ministerium, laut Staatsanwaltschaft dauert die Prüfung an.

Kampf um den Behördenmarkt

Aus den neuen Akten und Vermerken geht jetzt zumindest hervor, um welches Thema es in der Kommunikation zwischen Schmidt und von Rintelen im Januar 2021 ging. Tatsächlich handelte es sich demnach nicht um einen “allgemeinen Austausch”, sondern um einen Austausch zu einem ganz konkreten Auftrag: der Einführung einer neuen sicheren Kommunikationslösung bei der Generalzolldirektion, die dem Finanzministerium unterstellt ist. 

Der frühere Virtual-Solution-Mehrheitseigentümer Nicolaus von Rintelen (vierter von rechts) – hier unter anderem mit Managern von Materna nach dem Verkauf seines IT-Unternehmens im Februar 2022

Der frühere Virtual-Solution-Mehrheitseigentümer Nicolaus von Rintelen (vierter von rechts) – hier unter anderem mit Managern von Materna nach dem Verkauf seines IT-Unternehmens im Februar 2022

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Bei dem Geschäft beim Zoll handelte es sich laut den Akten um einen lukrativen Auftrag: die Einführung eines sicheren Messengers für mehr als 10.000 Smartphones. Für den Auftrag interessierte sich auch die Firma Virtual Solution, deren Software seinerzeit laut Brancheninsidern von weniger als 10.000 Anwendern in der Bundesverwaltung genutzt wurde. Der Deal beim Zoll hätte die Erlöse der Münchner Firma, die damals keine 10 Mio. Euro Umsatz machte und Jahr für Jahr Millionenverluste schrieb, also massiv aufbessern können.

Darüber hinaus war der Auftrag auch noch aus einem anderen Grund spannend: Wie Brancheninsider berichten, lief damals ein harter Kampf darum, welcher Anbieter für eine zentrale sichere Messenger-App in den Bundesbehörden zum Zuge kommt – also eine Art Krypto-WhatsApp. Die Rivalen: Virtual Solution, eine Kombination der Blackberry-Tochter Secusmart mit dem Messenger der Firma Wire – sowie die IT-Tochter der Bundeswehr, die schon eine Lösung für das Verteidigungsressort entwickelt hatte. Dabei, so heißt es heute in der Branche, sei die klare Einschätzung gewesen: Wer beim Messenger das Rennen macht, dürfte über kurz oder lang den gesamten Markt für sichere mobile Behördenkommunikation dominieren – mit einer App aus einer Hand, die sowohl Mails als auch Telefonate und Chats sichert. Versprach sich von Rintelen dabei Unterstützung von Schmidt?

Wirtschaftlich stets ein Problemfall

Nach dem Ende seiner Tätigkeit für den Gas-Oligarchen Michelson und dessen Novatek-Konzern vor einem Jahrzehnt war von Rintelen in die Schweiz gegangen – noch bevor Russlands zweitgrößter Gaskonzern nach der Annexion der Krim 2014 ins Visier der USA geriet. Als Investor steckte von Rintelen, dessen Mutter eine Nachfahrin des letzten russischen Zaren ist und der nach Schilderungen früherer Mitarbeiter im Unternehmen selbst häufig auf Russisch telefonierte, sein Geld aus dem Verkauf von Novatek-Aktien in verschiedene Firmen. Zudem übernahm er Mandate in Verwaltungsräten Schweizer Unternehmen – etwa an der Seite von Ex-Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) bei einem Cannabis-Start-up.

Spätestens nach der schrittweisen Übernahme fast aller Anteile bei Virtual Solution ab 2014 bemühte sich der Unternehmer um gute Drähte in die Politik – nur zu verständlich vor dem Hintergrund, dass Ministerien und Behörden wichtige potenzielle Kunden für die IT-Firma sind. Die spezielle SecurePIM-Version für staatliche Anwender mit BSI-Freigabe für eingestufte Dokumente kostete seinerzeit ein Mehrfaches jener Lizenzen, die Unternehmen kauften, etwa Banken, Autobauer und Rüstungsfirmen. 

Jedoch blieb Virtual Solution weitgehend erfolglos dabei, bei ausländischen Regierungen einen Fuß in die Tür zu kriegen, um neue Erlöspotenziale zu erschließen – abgesehen von einem Deal mit dem Amt des norwegischen Premierministers. Vor fünf Jahren bemühte sich von Rintelen etwa auch vergeblich, in Österreich ins Geschäft zu kommen – mithilfe von Helfern aus dem Dunstkreis von Marsalek, wie öffentlich gewordene Chats zeigen. Wirtschaftlich blieb der wichtige IT-Dienstleister des Bundes stets ein Problemfall. Schon länger wollte von Rintelen die Firma daher verkaufen.

Beschwerden über “unangenehm nachhaltige” Einflussnahme

Nach den Erfahrungen in der NSA-Abhöraffäre und Angela Merkels Kanzlerhandy sei es richtig, wenn sich Deutschland bei der Cybersicherheit um Unabhängigkeit von US-Unternehmen bemühe, sagt Wirecard-Aufklärer De Masi. Bei Bedarf sei es sogar sinnvoll, entsprechende Firmen staatlich zu subventionieren. “Aber man überwindet die Abhängigkeit von den USA nicht, indem man die Cybersicherheit Deutschlands in die Hände eines dubiosen Investors begibt, der enge Verbindungen zu einem Kreml-Oligarchen unterhält und mit Marsalek und dessen Fluchthelfern Geschäfte anbahnte”, sagt er. 

In einem Vermerk aus dem Oktober 2020 berichteten Beamte im Finanzministerium über aggressive Versuche von Virtual Solution, Einfluss auf Aufträge zu nehmen. Diese Informationen erreichten auch den damaligen Staatssekretär Wolfgang Schmidt (Hervorhebung durch die Redaktion)

© BMF/Capital

In einem Vermerk aus dem Oktober 2020 berichteten Beamte im Finanzministerium über aggressive Versuche von Virtual Solution, Einfluss auf Aufträge zu nehmen. Diese Informationen erreichten auch den damaligen Staatssekretär Wolfgang Schmidt (Hervorhebung durch die Redaktion)

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Von dem geplanten Großauftrag beim deutschen Zoll wiederum, so geht aus den neuen Unterlagen aus dem Bundesfinanzministerium hervor, erfuhr von Rintelen im Juni 2020 aus erster Hand. Damals war ein Treffen mit Werner Gatzer geplant, jenem jüngst von Finanzminister Christian Lindner in den einstweiligen Ruhestand versetzten Staatssekretär im Finanzressort, der damals für den Einsatz der Produkte von Virtual Solution im Ministerium zuständig war. Ob Gatzer selbst teilnahm oder nur Fachbeamte, dazu finden sich in den Akten widersprüchliche Angaben.

Wie es dann weiterging, haben die Fachbeamten in einem Vermerk festgehalten. Nach dem Termin im Juni, schreiben sie darin, habe von Rintelen einem Abteilungsleiter “unaufgefordert” eine Preisinformation geschickt. Das Angebot, so die Verfasser des Vermerks, habe “suggeriert”, dass die Software unkompliziert über eine bestehende Rahmenvereinbarung des Bundes mit Virtual Solution abgerufen werden könne. Allerdings habe man nach einer Prüfung festgestellt, dass eine solche Beschaffung “vergaberechtlich ausgeschlossen” sei.

In der Folge hätten von Rintelen und weitere Vertreter von Virtual Solution in Telefonaten und Mails “massiv und unangenehm nachhaltig” versucht, auf Fachebene “Einfluss zu nehmen”, beklagen die Beamten in ihrem Vermerk. Zudem habe man auch Erkenntnisse über eine versuchte, aber gescheiterte Einflussnahme beim Kanzleramt. Auf Anfrage des bisherigen Linke-Abgeordneten Christian Leye bestätigte das Finanzministerium jüngst, Virtual Solution habe in verschiedenen Gesprächen “massiv für den Einsatz ihrer Produkte geworben und versucht, auf Beschaffungen des BMF Einfluss zu nehmen”. Über aggressives Lobbying hatten sich früher auch schon Beamte aus bayerischen Ministerien beschwert. Dort hatte Rintelen über Werbeschreiben von prominenten CSU-Abgeordneten an mehrere CSU-Minister Aufträge generieren wollen, wie “Capital” Ende 2022 aufdeckte.

Anderer Staatssekretär ging auf Distanz

Doch auch nachdem sich die Beamten im BMF im Sommer 2020 gegen die Einflussversuche zur Wehr setzten, gab Virtual Solution nicht auf. Anfang Oktober versuchte es die Firma bei einem anderen Staatssekretär im BMF: Rolf Bösinger, damals für den Zoll zuständig und wie Schmidt ein Wegbegleiter von Scholz aus Hamburger Zeiten. Für die Kontaktaufnahme bei Bösinger spannte man eine Lobbyagentur ein: die Beratungsfirma Agora Strategy, zu deren Mitgründern der frühere Botschafter und Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, gehört – und die mitunter auch hilft, Rüstungsdeals anzubahnen, etwa mit Saudi-Arabien. In einer Mail an Bösinger verwies ein Mitarbeiter der Agentur, offenbar ein Ex-Staatssekretär im Auswärtigen Amt, dass die Software von Virtual Solution bereits im Außenministerium und bei mehr als 20 Bundesbehörden im Einsatz sei. Sie dürfte daher “sicherlich auch für das BMF und den Zoll interessant” sein, schrieb er. 

Für den 29. Oktober 2020 wurde ein persönliches Gespräch mit Bösinger verabredet, seitens Virtual Solution sollte ein anderer Topmanager teilnehmen. In den Ministeriumsakten finden sich Unterlagen, mit denen Fachbeamte Bösinger für den Termin brieften – versehen allerdings mit gewissen Warnungen. So hieß es etwa in dem Vermerk, Virtual Solution habe dem Wunsch des Ministeriums, weitere Informationen zu dem Gespräch und dessen Ziel bereitzustellen, “auch nach mehrfachem Nachfragen” nicht entsprochen. Zudem berichteten die Beamten von dem “Versuch der Einflussnahme” durch von Rintelen und andere Firmenvertreter in den vorherigen Monaten. Zudem fügten sie den Jahresabschluss von Virtual Solution hinzu, mit Hinweis auf den satten Bilanzverlust von rund 22 Mio. Euro mit Stand Ende 2019, der sich bis Ende 2021 noch auf 34 Mio. Euro erhöhte. 

Offenbar blieben die Informationen nicht ohne Wirkung auf Bösinger: Im Nachgang des Termins meldete eine Mitarbeiterin an die Fachebene, der Staatssekretär habe “auf Basis der bereitgestellten Informationen von einer Teilnahme am Gespräch abgesehen”. Womöglich war ihm die Sache zu heiß. Auf Anfrage von “Capital” und “Welt am Sonntag” teilte Agora Strategy mit, man könne aus vertraglichen Gründen zu laufenden oder früheren Mandaten über die verfügbaren Angaben im Lobbyregister hinaus nichts sagen. Grundsätzlich berate man “keine Einzelpersonen, sondern Unternehmen und Organisationen”. Das Finanzministerium ließ auch Fragen zu diesem Vorgang unbeantwortet.

Erneuter Anlauf – jetzt bei Schmidt

Einige Monate später, Anfang 2021, unternahm von Rintelen dann einen erneuten Anlauf – nun bei einem dritten Staatssekretär aus dem Scholz-Ressort: Wolfgang Schmidt. Dieser hatte in der Ministeriumsleitung eigentlich weder die Verantwortung für IT-Sicherheit noch für den Zoll. Dennoch kontaktierte der Unternehmer Mitte Januar 2021 Schmidts Büro, mit der Bitte um ein Telefonat mit dem Staatssekretär zum Thema “Update zu SecurePIM in Ihrem Hause und beim Zoll”. Dabei verwies von Rintelen auf seine früheren Kontakte mit Schmidt – also auf jene Mails und ein persönliches Treffen im Februar 2020, über die bis heute nichts Näheres bekannt ist, weil dazu nichts in den Akten landete.

Daraufhin ließ Schmidt seine Mitarbeiter für Ende Januar ein Telefonat mit von Rintelen vereinbaren und bat die Fachebene um Informationen zur Vorbereitung des Gesprächs. In einem Vermerk für Schmidt, der “Capital” und “Welt am Sonntag” vorliegt, verwiesen die Beamten auf die früheren Termine von Virtual Solution mit Schmidts Kollegen Gatzer und Bösinger – und ließen auch nicht unerwähnt, dass es im Sommer 2020 einen “nachhaltigen Versuch der Einflussnahme” gegeben und Bösinger seine Teilnahme an einem Treffen gecancelt habe. Weiter ging aus dem Vermerk hervor, dass sich der Zoll schon im Herbst 2020 für das Produkt eines Konkurrenten entschieden und eine Order ausgelöst hatte – nämlich für die Secusmart-Technologie. Zu diesem Zeitpunkt sei mit Blick auf die Anforderungen des Zolls “keine andere Lösung” möglich gewesen, etwa weil zu den Smartphones mit Secusmart nur der vom BSI für vertrauliche Informationen zugelassene und bereits im Bundeskanzleramt getestete Wire-Messenger passe, während das Zulassungsverfahren für den Messenger von Virtual Solution noch laufe.

Der bereits in die Wege geleitete Auftrag für ein anderes Unternehmen sowie die früheren Vorgänge bei seinen Kollegen hielten Schmidt jedoch nicht davon ab, sich einzuschalten. Am 27. Januar 2021 kam es zu dem Telefonat mit von Rintelen. Im Nachgang schickte der Investor eine Mail, die sich in den Akten findet. Darin versicherte er unter anderem, dass seine Firma die vom Zoll benötigten 11.200 Anwendungen “in kürzester Zeit” ermöglichen könne.

Aus den Akten geht auch hervor, dass manch eines von Rintelens Argumenten bei Schmidt auf offene Ohren stieß. Auf einem Vermerk findet sich eine handschriftliche Anmerkung offenbar von Schmidt, wonach von Rintelen erwähnt habe, dass Secusmart derzeit “nur wenige Geräte pro Tag” ausliefern könne, während SecurePIM “sehr schnell ausgerollt” werden könne. Dazu bat der Staatssekretär die zuständigen Fachbeamten um Aufklärung. Deren Antwort kam postwendend – und fiel wenig schmeichelhaft für von Rintelen aus: Die Umsetzung der Lösung von Virtual Solution “benötigt genau so viel Zeit wie die Lösung der Firma Secusmart”, schrieben sie. Die Aussage, nur Virtual Solution sei zu einem schnellen Massenrollout beim Zoll fähig, sei “so nicht richtig”. Auch in anderen Punkten äußerten die Fachbeamten erhebliche Zweifel an der Belastbarkeit der Aussagen, die von Rintelen bei Schmidt platziert hatte. Angaben, die wiederum zu neuen handschriftlichen Kommentaren führten, offenbar von Schmidt: “Da sagt Virtual Solution etwas anderes.”

Doch trotz seines Zugangs zu Schmidt blieben von Rintelens Lobbyaktivitäten am Ende erfolglos. Nicht nur kam Virtual Solution bei dem Multi-Millionen-Auftrag beim Zoll nicht mehr zum Zuge. Später entschied das für die Bundes-IT zuständige Innenministerium auch, die Software von Wire als Standard-Messenger für die ressortübergreifende Kommunikation in der Bundesverwaltung einführen zu wollen. Ein Rückschlag für das Unternehmen, das in seinen Jahresabschlüssen für 2020 und 2021 eine “buchtechnische” Überschuldung auswies – und wohl nur überlebte, weil sein Haupteigentümer von Rintelen zeitweise fast im Monatstakt Kapitalerhöhungen oder neue Gesellschafterdarlehen und Rangrücktritte bei seinen Krediten zusagte, die sich auf mehrere Millionen Euro summierten. 

Welche Rolle spielte “Made in Germany”?

Warum aber war Investor von Rintelen mit seinen Lobbyaktivitäten bei Schmidt überhaupt auf Wohlwollen gestoßen? Wieso schaltete sich der Scholz-Vertraute, der als Kanzleramtschef heute auch für die Nachrichtendienste des Bundes verantwortlich ist, in das schon weit fortgeschrittene Vergabeverfahren beim Zoll ein, obwohl in erster Linie andere im BMF zuständig waren? Ging es um ein industriepolitisches Engagement für ein deutsches Unternehmern und eine Software “Made in Germany”? Oder gab es gar Sicherheitsbedenken bei dem Wettbewerber Wire – ein ursprünglich aus der Schweiz stammendes Start-up, hinter dessen Mutterkonzern aber inzwischen ein US-Finanzinvestor steht? 

“Sowohl Herr von Rintelen als auch der heutige Kanzleramtschef legten mir in Gesprächen nahe, dass es nach dem NSA-Hack der früheren Bundeskanzlerin im deutschen Interesse sei, auf ein deutsches Start-up zu setzen”, sagt der Finanzexperte De Masi. Noch als Abgeordneter ließ er deshalb bei der Bundesregierung nachfragen, ob es Erkenntnisse gebe, dass Wire mit ausländischen Sicherheitsbehörden kooperiere – woraufhin die Bundesregierung auf eine Prüfung und Freigabe durch das BSI verwies.   

Das Kanzleramt ließ auch Fragen zu Schmidts Beweggründen für seine Reserven gegen die Secusmart/Wire-Anwendung unbeantwortet. Secusmart betonte, es seien “keine Bedenken hinsichtlich der Sicherheit unserer Lösung bekannt, weder heute noch in der Vergangenheit”. Die Anwendung werde “streng und kontinuierlich” vom BSI geprüft. 

Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass Schmidt die Kontakte mit von Rintelen unangenehm waren, als dessen Name im Zusammenhang mit dem Wirecard-Skandal und dem Dunstkreis des mutmaßlich nach Russland geflüchteten Marsalek auftauchte. Als im Herbst 2021, kurz vor dem Regierungswechsel, der Linke-Abgeordnete Victor Perli um eine Auflistung aller Termine von Staatssekretären mit von Rintelen bat, gab die Bundesregierung in ihrer Antwort bei allen Kontakten von Schmidt als Anlass “allgemeiner Austausch” an. Dagegen hieß es bei Schmidts damaligen BMF-Kollegen Gatzer, bei dessen Kontakten mit von Rintelen sei es um Produkte der Firma gegangen. Aus den Ministeriumsakten geht hervor, dass die Angabe “allgemeiner Austausch” so aus Schmidts Büro übermittelt wurde – eine eher luftige Umschreibung der Fakten, wenn man die Akten kennt. 

“Widerspruch kann nicht aufgelöst werden”

Als die Linksfraktion Anfang 2022 nachsetzte, weitere Fragen stellte und sich bei der Bundestagspräsidentin über unzureichende Antworten beschwerte, teilte die Bundesregierung dann mit, bei dem Austausch sei es “um die IT-Ausstattung” des BMF, “insbesondere” um das Produkt SecurePIM gegangen. Auf die Frage, warum sich Schmidt um diese Themen gekümmert habe und einen engeren Kontakt mit von Rintelen pflegte als sein zuständiger Staatssekretärskollege Gatzer, war man im Finanzressort überfordert: “Dieser Widerspruch kann seitens BMF nicht aufgelöst werden”, notierte ein Beamter.

Wie aus den Akten hervorgeht, wurde diese Frage dann im Kanzleramt beantwortet – wohin Schmidt und viele Mitarbeiter aus seinem Team im BMF mit Antritt der Ampel-Regierung im Dezember 2021 gewechselt waren. Mit dem Thema wurde demnach der Kanzleramtschef persönlich befasst, eine finale Antwort sei von Schmidt noch einmal “leicht angepasst” worden, meldete später ein Beamter an das Finanzressort. In der Antwort, die schließlich an das Parlament ging, hieß es nun: “Wie in der Übersicht dargestellt, handelte es sich bei den Kontakten überwiegend um einen Austausch per Mail. Rückschlüsse auf die Zuständigkeiten innerhalb des BMF lassen sich daraus nicht ziehen.” 

Worum es wirklich ging, zeigen erst jetzt die internen Unterlagen, die der Ex-Abgeordneten De Masi der Bundesregierung über Monate mithilfe des Informationsfreiheitsgesetzes abgerungen hat. De Masis Fazit: “Das stinkt alles gegen den Wind.”

Dieser Artikel erschien zuerst an dieser Stelle beim Wirtschaftsmagazin “Capital”, das wie der stern Teil von RTL Deutschland ist.

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