Ukraine-Krieg: So kommentiert die internationale Presse den Jahrestag

“Der Krieg ist ein neuer Weltkrieg”, “Putin darf nicht siegen”: Die internationale Presse malt in ihren Kommentaren zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine überwiegend ein düsteres Bild.

Am frühen Morgen des 24. Februar 2022 hat Kremlchef Wladimir Putin mit seinen Streitkräften die Ukraine überfallen und damit den größten Krieg in Europa seit 1945 begonnen. So bewerten internationale und deutsche Zeitungen den Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine:

“Gazeta Wyborcza” (Polen): “Dieser Krieg, dessen Jahrestag wir heute begehen, ist zweifelsohne der wichtigste Krieg unserer Zeit, denn es ist ein Krieg, in dem das imperial-chauvinistisch-totalitäre Projekt gegen das demokratische, europäische, pluralistische Projekt kämpft. Es handelt sich nicht um einen Krieg des russischen Volkes gegen das ukrainische. Dies ist ein Krieg von Putins imperialer Autokratie – mörderisch, kriminell – gegen die ukrainische Demokratie, deren grundlegendes Ziel es ist, sich den demokratischen Strukturen der EU anzuschließen. In diesem Sinne ist es ein Krieg unserer Welt gegen eine uns feindlich gesinnte Welt.

Dieser Krieg stelle eine neue Herausforderung für uns alle dar, die wir in einer demokratischen Welt leben wollen. Es ist eine Entweder-Oder-Herausforderung, es gibt keinen Raum mehr für Neutralität. Es kann keine Rede sein von Symmetrie, und es geht nicht darum, dies zu verharmlosen. Dies ist eine Herausforderung von der Größenordnung des Zweiten Weltkrieges, und ich bin froh darüber, dass Polen auf der richtigen Seite steht. Auf der Seite der Ukraine, die ihre Identität verteidigt.”

“Dieser Zustand könnte noch jahrelang andauern”

“Rzeczpospolita” (Polen): “Eigentlich sollten die Ukrainer innerhalb weniger Tage ihre Hauptstadt und ihre Eliten verlieren. Dies war der erste Plan Moskaus. Er schien durchführbar, zumal die Amerikaner Wolodymyr Selenskyj eine Evakuierung anboten. Ein Jahr später schlendert Selenskyj durch Kiew mit Joe Biden – dem US-Präsidenten, der seinen Status als wahrer Anführer der Welt der Freiheit in einem Moment der Prüfung zementiert hat. Während dieses großen Krieges hat es noch kein optimistischeres Bild gegeben.

Man würde gerne eine einfache, tröstliche These aufstellen: Putin ist am Ende. Die siegreiche Ukraine steht kurz vor dem Beitritt zu EU und Nato. Die Zone der guten Welt wird sich ausweiten – sicher und frei. Doch eine andere These drängt: Wir stehen am Anfang vom Ende dieses großen Krieges. Dieser Zustand könnte noch jahrelang andauern, wie Biden es gerade angedeutet hat. Und ob sein Ausgang das endgültige Ende der imperialen Eroberung von Russlands Nachbarn sein wird, ist leider nicht sicher.”

“Hospodarske noviny” (Tschechien): “Rückblickend gesehen hätten wir die Warnung ernster nehmen sollen, die uns Russland in Form des Angriffs auf Georgien 2008 geschickt hatte. Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass 2014 waren weitere Vorspiele für den 24. Februar 2022. Und das wiederum dürfte nur ein Vorspiel für eine angestrebte weitere Expansion Russlands in Richtung Westen sein. Darüber darf man sich keine Illusionen machen. Was nun? Die Ukrainer zeigen uns den Weg: Die Grundlage ihres Erfolges ist, dass die gesamte Gesellschaft entschlossen ist, sich zu verteidigen – nicht nur die Armee. (…) Dass Tschechien in den letzten 30 Jahren beim Ausbau der Verteidigungsfähigkeiten geschlafen hat, ist keine europäische Ausnahme, sondern eher die Regel. Am Beispiel Deutschlands sehen wir, wie mühsam es fällt, das Steuerrad eines Ozeandampfers umzudrehen.”

“Nepszava” (Ungarn): “Der Kreml hat sich (…) verrechnet, als er glaubte (…), dass der “dekadente” Westen und ein “seniler” US-Präsident nicht in der Lage wären, eine langfristige Unterstützung der Ukrainer auf die Beine zu stellen. Die Ukraine mag deshalb in einem gewissen Sinne als Gewinner dastehen – dennoch kennt dieser Krieg sehr viele Verlierer. Am Ende wird die Ukraine (…) wohl kaum kleiner sein, Russland hingegen viel ärmer. Beide Länder werden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte für den Wiederaufbau und für den Neustart der Wirtschaft brauchen. Europa hat einen großen Markt sowie die billigen russischen Energieträger verloren. Die USA geben Dutzende, ja Hunderte Milliarden Dollar aus, um die imperialen Ambitionen Russlands zu stoppen. Dabei wäre dieses Geld auch im eigenen Land gut angelegt, etwa zur Entwicklung der Infrastruktur.”

“La Repubblica” (Italien): “Der Krieg in der Ukraine beginnt nicht am 24. Februar vorigen Jahres, als die Fallschirmjäger Wladimir Putins unter dem Kommando von General Waleri Gerassimow sich einbildeten, in wenigen Stunden den Kiewer Flughafen Hostomel besetzen und den legitimen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj töten oder gefangen nehmen zu können. (…) Der wahre Beginn der Feindseligkeiten geht auf August 2013 zurück, als US-Präsident Barack Obama seine vorherige Entscheidung über den Haufen warf und nicht in Syrien einschritt, um auf den Giftgasangriff des Regimes Baschar al-Assads gegen Zivilisten zu reagieren. (…)

In Moskau sieht Wladimir Wladimirowitsch Putin im Rückzug Obamas die Bestätigung seiner identitären These über einen korrupten, schwachen Westen, der nicht mehr bereit ist, für die eigenen Werte zu kämpfen (…). Klar, dass weder die USA noch die Europäische Union einschritten (…) als Putin 2014 die Krim besetzte und damit die Abkommen von Budapest verletzte, mit denen die Ukraine für die Anerkennung ihrer Grenzen auf die dortigen Atomwaffen verzichtete. Das Ausbleiben westlicher Reaktionen entzückte Putin, der sich nun frei fühlte, den Krieg an die Grenzen der Nato zu bringen.”

“Wir müssen mit allen Mitteln den bewaffneten Widerstand unterstützen”

“El País” (Spanien): “Wladimir Putin ist bisher gescheitert. Er hat es nicht geschafft, die Ukraine zu unterwerfen. Das erodiert die russische Macht nach innen und außen und festigt die Existenz der Ukraine jeden Tag ein bisschen mehr. Die kollektive Reaktion der Bevölkerung der Ukraine, ob ukrainischer oder russischer Herkunft, beschleunigt den Prozess des nationalen und institutionellen Aufbaus. Es ist nicht undenkbar, dass Kiew den Krieg gewinnen könnte. 

Wenn wir das europäische Projekt schützen wollen, müssen wir mit allen Mitteln und ohne Zeitverlust den bewaffneten Widerstand gegen eine Aggression unterstützen, für die Russland, und nur Russland, verantwortlich ist. Das einzige, was Putin zufrieden stellen könnte, wäre die ukrainische Bevölkerung zu opfern, ihr zu sagen, dass ihr Kampf und ihr Tod vergeblich waren und dass sie zugunsten des Friedens im übrigen Europa akzeptieren müssen, unterjocht in einem verwüsteten Land zu leben. Was Moskau fürchtet, ist keine Ukraine in der Nato, sondern eine wirklich souveräne und demokratische Ukraine. Der Ausgang des Krieges ist offen, aber Putin hat die Ukrainer für immer verloren.”

“Irish Times” (Irland): “Die “militärische Spezialoperation” hat nicht nur Putins Ziele auf spektakuläre Weise verfehlt, sondern auch dazu geführt, dass Europa und die USA in einem neuen gemeinsamen Ziel geeint sind. Sie hat die Nato, deren Daseinsberechtigung zunehmend in Frage gestellt worden war, erheblich gestärkt. In seiner Rede zur Lage der Nation machte Putin deutlich, dass er nicht die Absicht hat, nachzugeben. Er setzt darauf, dass Russlands Wille und seine erschöpften Ressourcen die Entschlossenheit des Westens überdauern werden. Dafür gibt es keine Garantie. Seine Ankündigung, aus dem letzten wichtigen Vertrag zur Begrenzung der atomaren Rüstung auszusteigen, stellt eine bedeutende und gefährliche Eskalation der Feindseligkeiten gegen die Nato dar. (…) Ein Jahr nach dem Kriegsbeginn ist Putins Anspruch auf den Mantel von Peter dem Großen und auf ein wiederhergestelltes russisches Imperium so wahnhaft – und so gefährlich – wie eh und je.”

“The Telegraph” (Großbritannien): “Bei seinem Besuch in Kiew Anfang dieser Woche sagte Joe Biden, dass “die Welt” hinter der Ukraine stehe, aber das ist leider nicht der Fall. Indien und andere blockfreie Länder verfolgen eine Politik der “strategischen Ambivalenz”. Vor der Küste Südafrikas finden derzeit russische Marineübungen statt. Viele Regierungschefs glauben, dass die Ukraine nicht gewinnen kann. Dies ist die entscheidende Frage. Ist ein militärischer Sieg tatsächlich möglich, wenn die Nato keine Flugzeuge einsetzt und damit eine direkte Konfrontation mit Russland riskiert? Präsident Biden sagt, Amerika werde die Ukraine “so lange wie nötig” unterstützen, aber er wird nicht ewig im Weißen Haus bleiben, und die Republikaner lehnen die Fortsetzung der US-Militärhilfe zunehmend ab. (…)

Der eigentliche Beifall gebührt dem ukrainischen Volk, das mit diesem Alptraum leben muss und sich auf Schlimmeres gefasst machen muss, wenn Russland eine Gegenoffensive startet. Wer kann schon sagen, wo wir in einem Jahr stehen werden? Aber wie (Ex-Premierminister) Tony Blair in dieser Zeitung schreibt, ist eines klar: Putin darf nicht siegen.”

“de Volkskrant” (Niederlande): “Dass die Russen ihre Ohnmacht mit Angriffen auf zivile Ziele und anderen Kriegsverbrechen kompensieren, macht ihren Statusverlust nur noch größer. Die Ukraine hingegen hat sich ein Superhelden-Image zugelegt. Das Land verdient Respekt für den Mut, die Aufopferung und den mitunter galligen Humor, mit dem es sich dem Aggressor und den Skeptikern entgegengestellt. In gewisser Weise hat sich das Land selbst auf die Landkarte gesetzt, von der Russland es tilgen wollte: Seit der Invasion ist die Ukraine viel näher an Europa herangerückt. (…) All dies bietet keine Aussicht auf ein gutes Ende, sofern nach einem Jahr des Schreckens überhaupt die Rede davon sein kann. Selbst ein geschwächtes Russland verfügt über genügend Masse, um den Krieg noch lange weiterzuführen.”

“Neue Zürcher Zeitung” (Schweiz): “Der Krieg ist ein neuer Weltkrieg – auch wenn er nicht auf verschiedenen Kontinenten ausgetragen wird. Moskau wie die Nato haben ein Interesse daran, die Kämpfe regional zu begrenzen. Das Geraune über eine atomare Eskalation ist reine Hysterie. Aber es ist der erste große Krieg, der unter den Bedingungen der Globalisierung geführt wird. Gekämpft wird nicht allein um Land an Don und Dnipro, zur Disposition steht die globale Machtverteilung. So kündigte Peking eine Friedensinitiative für die Ukraine an. Noch spricht alles dafür, dass es sich um einen Propaganda-Ballon handelt, doch die Geste zählt. China demonstriert seinen Anspruch, in Europa mitzubestimmen. 

(…) Die russische Invasion sendet ihre Stoßwellen bis zum Kaspischen Meer und nach Zentralasien und damit quer über die gewaltige eurasische Landmasse. Hier findet wahrlich ein Weltkrieg statt. Jetzt ist die Stunde gekommen, um größer zu denken. Sonst versinkt die Zeitenwende im Klein-Klein der Gipfel-Routine und der Diskussionen um Panzer und Flugzeuge. Diese Fragen sind wichtig, aber sie sind nur Ausschnitt eines globalen Panoramas. Je länger der Krieg andauert, umso bedeutsamer wird das übergreifende Bild.”

“Wall Street Journal” (USA): “Am Freitag ist der erste Jahrestag von Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine. Eine der Lehren des abgelaufenen Jahres ist, dass westliche Waffen auf dem Schlachtfeld entscheidend sein können, und dies bei einem überschaubaren Risiko und überschaubaren Kosten für die USA. Aber der Biden-Regierung fehlt es immer noch an dem dafür nötigen Tempo, und die fehlenden Abrams-Panzer sind das jüngste Beispiel. Am 25. Januar erklärte die Regierung, sie würde 31 Abrams-Panzer liefern, was der Größe eines ukrainischen Panzerbataillons entspricht. Moderne westliche Ausrüstung werde den Ukrainern helfen, den russischen Panzervorteil zu verringern. Teil des US-Kalküls war es, Deutschland zur Bereitstellung seiner eigenen Leopard-Panzer zu bewegen, was Berlin nach wochenlangem Zögern schließlich auch tat. (…) 

Die US-Regierung kann Kiew Panzer, Drohnen und weitreichende Raketen zur Verfügung stellen, wenn sie den politischen Willen dazu aufbringt. Präsident Biden versprach diese Woche in Polen, dass “die Ukraine niemals ein Sieg für Russland sein wird”, aber um dieses Ergebnis sicherzustellen, sind Panzer statt Worte nötig.”

“Kölner Stadt-Anzeiger” (Deutschland): “Würde der Westen heute seine Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen, wie manche es in einer – verständlichen – Aversion gegen das Blutvergießen auf beiden Seiten fordern, hätte dies nicht nur das unmittelbare Ende der Ukraine als einer freien, selbstbestimmten Nation zur Folge. Es wäre mittelbar auch ein Freibrief für Putins Verbrechen. Ein solcher Pazifismus wäre eine Art Selbstaufgabe. Gleichwohl gilt es, nach einem Jahr Krieg über den Tag hinaus weiterzudenken.”

“Frankenpost” (Deutschland): “Putin hat nicht mit diesem unbändigen Willen der Ukrainer gerechnet, die Freiheit und die Demokratie zu verteidigen. Er unterschätzte den endlosen Mut der Menschen. Er dachte wohl im Traum nicht daran, dass die Hoffnung auf Frieden alle über sich hinauswachsen lässt. Doch genau das ist es, was die Ukrainer verbindet und stark macht. Aber nicht nur sie. Sondern alle, die sie unterstützen und die Waffen schweigen hören wollen. Zu diesem Jahrestag war dieser Wunsch riesengroß. Doch die zurückliegende Woche hat eine Regel des Krieges bestätigt: Die Aussicht auf Frieden ist besonders zu Beginn eines Krieges groß. Danach nimmt sie rapide ab, weil die Grundlagen für Verhandlungen in Gefechten untergehen. Erst nach etwa zwei Jahren, wenn eine Seite ermüdet (die russische Armee in einem noch miserableren Zustand ist?) und Interesse daran entwickelt, in Verhandlungen einzutreten, sind solche Chancen wieder größer.”

mad
DPA
AFP

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