In der seit Tagen belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupol spielen sich angesichts der katastrophalen Versorgungslage mittlerweile dramatische Szenen ab. Die Bewohner hätten aus Verzweiflung Geschäfte und Apotheken geplündert, lieferten sich Kämpfe um Nahrungsmittel oder saugten Benzin aus den Tanks parkender Autos ab, sagte Sascha Wolkow, der stellvertretende Chef des IKRK in Mariupol, in einer Audiobotschaft, die das Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) am Donnerstag veröffentlichte.
Wegen Feuchtigkeit und Kälte würden die Menschen krank, sagte Wolkow. Viele hätten kein Trinkwasser. Kellerräume, die größeren Schutz böten, seien für Frauen mit kleinen Kindern reserviert. „Menschen beginnen, sich wegen Nahrungsmitteln anzugreifen“, sagte er. Krankenhäuser könnten teilweise ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen und es sei ein Schwarzmarkt für Gemüse entstanden, während kein Fleisch mehr erhältlich sei.
Das IKRK mit Sitz in Genf versucht seit Tagen geschätzt etwa 200.000 Menschen aus der Stadt zu bringen, nachdem russische Truppen Mariupol weitgehend eingekesselt hatten. Wolkow harrt nach eigenen Angaben mit 65 weiteren Menschen in einem Gebäude aus. „Der Schutzraum im Keller ist für die Kinder und ihre Mütter reserviert.“ Viele seien mittlerweile wegen der Kälte krank geworden.
Mariupol ist bereits seit zehn Tagen vollständig von russischen Truppen umzingelt und von der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten, Strom und Gas abgeschnitten. Mehrere Evakuierungsversuche schlugen fehl. Die russische und die ukrainische Seite machten sich gegenseitig dafür verantwortlich.
Die Stadt ist von großer strategischer und symbolischer Bedeutung: Es ist die letzte große Hafenstadt am Asowschen Meer unter ukrainischer Kontrolle und ein wichtiger Industriestandort.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte in einer Fernsehansprache, es sei der „blanke Terror von erfahrenen Terroristen“, dass Zivilisten die eingekesselte ukrainische Stadt Mariupol nicht verlassen dürften. Bemühungen, Lebensmittel, Wasser und Medikamente in die Stadt zu bringen, seien gescheitert, da russische Panzer einen humanitären Korridor angegriffen hätten, so Selenskyj.
„Sie haben einen klaren Befehl, Mariupol in Geiselhaft zu halten, es zu verhöhnen, andauernd zu bombardieren und zu beschießen“, sagte Selenskyj am Donnerstagabend. Russische Truppen hätten genau zu der Zeit angegriffen, als es einen humanitären Korridor für Mariupol geben sollte. Was Russland dort betreibe, sei „regelrechter Terror“, sagte der Präsident
Russische Armee versucht Städte zu umzingeln
Das russische Militär versucht unterdessen nach Einschätzung des Pentagons weitere ukrainische Städte zu umzingeln – darunter auch die Hauptstadt Kiew. „Charkiw und Tschernihiw, Mariupol – wir sehen diese Bemühungen, einzukreisen und zu umzingeln“, sagte ein hoher US-Verteidigungsbeamter am Donnerstag.
Man beobachte dies auch rund um die Hauptstadt Kiew. Die russischen Soldaten kämen von mehreren Seiten, so der Beamte. „Was wir also sehen, sind diese verschiedenen Vorstoßlinien in Richtung Kiew.“ Kiew sei aber viel größer als die anderen Städte und werde stark verteidigt.
Die russischen Streitkräfte seien in den vergangenen 24 Stunden weiter vorgerückt und hätten schätzungsweise fünf Kilometer gut machen können, hieß es weiter. Das sei aber im Verhältnis gar nicht so viel. „Wie gesagt, Kiew wird gut verteidigt, und die Ukrainer setzen eine Menge Energie ein (…), um ihre Hauptstadt zu schützen“, so der Beamte. Zum jetzigen Zeitpunkt könne man keine Aussage dazu treffen, wie lange es dauere, bis die Russen möglicherweise richtig in Kiew eindringen. Stellenweise seien die russischen Soldaten um die 15 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.
Das ukrainische Militär hat nach eigener Darstellung auch am Donnerstag die russischen Truppen erfolgreich ausgebremst. Der russische Vormarsch auf Kiew von Norden und Westen, mit dem Ziel die Hauptstadt zu umzingeln, sei ins Stocken geraten oder ganz gestoppt worden, erklärte der ukrainische Generalstab. Außerdem hätten ukrainische Truppen am Donnerstag russische Soldaten aus dem Dorf Baklanowa Murawiika nahe Tschernihiw vertrieben. Der Ort liegt an der Straße nach Kiew.
Wie die staatliche ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform berichtet, sollen dem Generalstab der ukrainischen Streitkräfte zufolge russische Truppen „gestoppt und demoralisiert“ worden seien. Im Norden des Landes seien russische Truppen dabei gestoppt worden, in die Stadt Tschernihiv vorzudringen, hieß es in einem in der Nacht zu Freitag auf Facebook veröffentlichten Bericht des ukrainischen Generalstabs. Rund um die Stadt Charkiw im Osten des Landes setze Russland seine Versuche fort, die Stadt von Norden her zu blockieren – diese seien weiter erfolglos.
In den Einsatzgebieten am Schwarzen und Asowschen Meer hätten die Wetterverhältnisse Schiffe der russischen Marine dazu gezwungen, zu ihren Stützpunkten zurückzukehren. Im Süden versuchten die Besatzer zudem, an den von ihnen erreichten Punkten Fuß zu fassen, die Kontrolle über die Stadt Mykolayiw zu erlangen und eine Offensive in Richtung Saporischschja und Krywyj Rih zu entwickeln, hieß es in dem Bericht weiter. Die russischen Truppen seien gestoppt worden und hätten schwere Verluste erlitten.
Allerdings soll auch Satellitenbildern des in den USA ansässigen Unternehmens Maxar Technologies zufolge ein großer russischer Militärkonvoi, der zuletzt nordwestlich von Kiew in der Nähe des Antonow-Flughafens gesehen wurde, weitgehend aufgelöst und verlagert worden sein. Laut dem Unternehmen zeigen die Bilder gepanzerte Einheiten, die in und durch die umliegenden Städte in der Nähe des Flughafens manövrieren. Teile des Konvois sollen weiter nördlich in der Nähe von Lubjanka neu positioniert worden sein.
Bei Luftangriffen auf zivile Ziele in der Stadt Dnipro in der Zentralukraine ist am Freitag nach Angaben der Rettungsdienste mindestens ein Mensch getötet worden. Am frühen Morgen „gab es drei Luftangriffe in der Stadt, die einen Kindergarten, ein Apartmenthaus und eine zweistöckige Schuhfabrik trafen“, erklärten die Rettungskräfte. „Eine Person kam ums Leben.“ Die Stadt mit etwa einer Million Einwohnern war bislang von größeren russischen Angriffen verschont geblieben.
In der Stadt Charkiw haben russische Artilleriegeschosse nach ukrainischen Angaben am Donnerstag das Atomforschungsinstitut getroffen. Dabei sei ein Brand ausgebrochen, der aber wieder gelöscht werden konnte, sagte Anton Geraschtschenko, Berater des ukrainischen Innenministeriums. In einem getroffenen Gebäude lagere Material, durch das Strahlung freigesetzt werden könnte, sollte es beschädigt worden, warnte er. Das Büro von Präsident Wolodymyr Selenskyj teilte mit, es sei keine erhöhte Strahlung festgestellt worden.
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Ein Angriff russischer Truppen auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja hatte zuletzt weltweit Sorgen ausgelöst, dass es zu durch den Krieg zu einer Atomkatastrophe kommen könnte. Auch dort trat aber keine Strahlung aus.
Weitere Angriffe auf Kliniken
Unterdessen sind im Ukraine-Krieg nach UN-Angaben bereits drei Entbindungskliniken zerstört worden. Das Krankenhaus in Mariupol sei „nicht das einzige“, das angegriffen worden sei, sagte Jaime Nadal von der UN-Agentur für reproduktive Gesundheit am Donnerstag. Die Entbindungskrankenhäuser in Schytomyr und Saltiwsky seien ebenfalls zerstört worden.
Ein russischer Bombenangriff auf eine Kinder- und Geburtsklinik in der belagerten Hafenstadt Mariupol am Mittwoch hatte international Entsetzen ausgelöst. Dabei wurden nach ukrainischen Angaben zwei Erwachsene und ein Kind getötet, mindestens 17 Angestellte wurden verletzt.
Das russische Verteidigungsministerium bezeichnete den Angriff auf das Gebäude dagegen als „informelle Provokation des Kiewer Regimes“. „Der Luftangriff, der angeblich stattgefunden hat, ist eine vollständig orchestrierte Provokation, um die antirussische Aufregung beim westlichen Publikum aufrechtzuerhalten“, sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow am Donnerstag.
Wie auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte Konaschenkow, das am Mittwoch attackierte Gebäude sei zuletzt als Lager ultraradikaler Kämpfer des ukrainischen Bataillons Asow genutzt worden.
UN-Sprecher Stephane Dujarric hingegen sagte in New York: „Das dortige Menschenrechtsteam hat bestätigt und dokumentiert, was sie als wahllosen Luftangriff auf das Krankenhaus bezeichneten, und dass das Krankenhaus zu dieser Zeit Frauen und Kinder versorgte.“
Russische Anschuldigungen zu Biowaffen
Das russische Verteidigungsministerium beschuldigte die Ukraine am Donnerstag zudem erneut, mit US-Hilfe Laboratorien für biologisch-militärische Experimente aufgebaut zu haben. Konaschenkow verwies einmal mehr auf entsprechende Dokumente. „Den Dokumenten zufolge plante die amerikanische Seite, im Jahr 2022 in der Ukraine Arbeiten zu Krankheitserregern von Vögeln, Fledermäusen und Reptilien durchzuführen“, behauptete er.
Geplant gewesen seien auch Experimente zu „Übertragungsmöglichkeiten der afrikanischen Schweinepest und von Milzbrand“. Es habe auch Untersuchungen mit Fledermäusen und Corona-Proben gegeben. Daher soll der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) nach Angaben von Diplomaten am Freitag auf Antrag Russlands zusammenkommen.
Diese Schilderungen lösten bei russischen Oppositionellen Ungläubigkeit aus. „Das ist eine bewusste Strategie der russischen Behörden. Das Einzige, was der Kreml nicht sagen kann, ist die Wahrheit“, schrieb die Pressesprecherin des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny, Kira Jarmysch, auf Twitter. „Deshalb erfinden sie immer absurdere Versionen (…).“
Tägliche Fluchtkorridore nach Russland
Die russische Regierung will Zivilisten aus umkämpften Gebieten der Ukraine indes die Ausreise nach Russland ermöglichen. „Wir geben offiziell bekannt, dass humanitäre Korridore für die Russische Föderation von nun an einseitig, ohne Koordination, jeden Tag ab 10:00 Uhr morgens (08.00 Uhr MEZ) geöffnet werden“, erklärte das Moskauer Verteidigungsministerium am Donnerstag. Über Fluchtruten „in andere Richtungen“ würden von Fall zu Fall mit der ukrainischen Seite verhandelt.
„Wir garantieren volle Sicherheit in den von den russischen Streitkräften kontrollierten Gebieten“, hieß es in der Erklärung weiter. Moskau rief das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die Vereinten Nationen auf, „vor Ort mit den ukrainischen Behörden zusammenzuarbeiten, um die Bevölkerung über diese Initiative zu informieren“.
Nach russischen Angaben sind bislang „mehr als 187.000 Menschen“ aus der Ukraine nach Russland in Sicherheit gebracht worden. Von unabhängiger Seite war diese Angabe nicht zu überprüfen.
Russland fordert allerdings Listen mit den Namen der Menschen und der Fahrzeuge, bevor diese Fluchtkorridore passieren wollen. Das berichtet die russische Nachrichtenagentur RIA unter Berufung auf Regierungsvertreter. Am Freitag sollen demnach Fluchtwege aus Kiew, Tschernihiw, Sumy, Charkiw und Mariupol geöffnet werden.
Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge sind in der Ukraine binnen zweier Tage etwa 100.000 Menschen aus umkämpften Städten in Sicherheit gebracht worden. Die ukrainische Regierung hat bislang Fluchtwege, die nach Russland oder Belarus führen, abgelehnt.
Neben den mehr als 2,3 Millionen Menschen, die bisher aus der Ukraine geflüchtet sind, haben nach Schätzung der Vereinten Nationen rund 1,9 Millionen weitere wegen des Krieges ihre Wohnorte verlassen. Die meisten dieser Binnenvertriebenen bewegten sich weg von den Kampfgebieten in Richtung der Stadt Lwiw (Lemberg), sagte UN-Sprecher Stephane Dujarric am Donnerstag. Er warnte, dass sich die humanitäre Lage in der Ukraine in alarmierendem Tempo verschlechtere.
Hilfsorganisationen versuchten, Nachschub an verschiedene Sammelpunkte innerhalb und außerhalb der Ukraine zu bringen, sagte Dujarric weiter. Bisher sei es den Vereinten Nationen und ihren Partnern gelungen, mehr als 500.000 Menschen Dinge wie Essen, Decken und Medikamente zu bringen. Das Welternährungsprogramm habe vor, 3,1 Millionen Menschen zu unterstützen, sagte Dujarric.
Gleichzeitig warne die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) vor einer Gefahr für die Ernten in diesem Jahr, weil Bauern in der Ukraine eigentlich im Frühling die nötigen Vorbereitungen treffen müssten.
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