Russischer Angriffskrieg: Kiews Nadelstiche: Drohnenattacken sorgen für Unruhe

Russlands Invasion wird immer mehr zu einem Krieg der Drohnen. Auch Kiew greift immer häufiger mit Waffen dieser Art an. Die Schäden sind nicht vergleichbar mit denen in der Ukraine, aber: Ist Russland darauf vorbereitet?

Das wohl von einer ukrainischen Drohne in den 50-stöckigen Glasturm gerissene Loch lockt auch am Tag danach Schaulustige im Wolkenkratzerviertel Moskwa City an. Zwar spielt Bürgermeister Sergej Sobjanin den zweiten Drohnenangriff binnen einer Woche bewusst als unbedeutend herunter. Aber nicht erst seit Sonntag, als zwei Drohnen die bisher auffälligsten Schäden in Europas größter Stadt angerichtet haben, ist die Sorge bei vielen Hauptstädtern groß, ob sie sich noch sicher fühlen können. Erst am Montag vor einer Woche richteten abgestürzte Trümmer von Drohnen Schäden in Moskau an.

Es sei nicht der erste und werde nicht der letzte Angriff dieser Art sein, sagt der frühere Flugabwehr-Offizier und Militärexperte Juri Knutow der Moskauer Boulevardzeitung “MK”. Kiew räche sich nun für die jüngsten russischen Angriffe auf die Hafen-Infrastruktur in Odessa und in anderen Regionen. Und die Ukraine wolle den “westlichen Sponsoren” etwas bieten für ihr Geld, weil Erfolge bei ihrer Gegenoffensive ausblieben, meint er. Ähnlich äußern sich auch Kreml und Verteidigungsministerium in Moskau.

Vor allem aber beschäftigt den Machtapparat in Moskau nun, wie der Ukraine diese und andere Schläge im Land gelingen konnten. “Das sind Nadelstiche mit einem psychologischen Effekt”, sagt ein früherer Offizier, der namentlich nicht genannt wird, im “MK”. Er erklärt, dass viele Ukrainer, die zu Sowjetzeiten ausgebildet wurden, bestens Bescheid wüssten über den Schutz des russischen Luftraums.

Zwar habe sich seit der Landung des Deutschen Mathias Rust 1987 mit seiner Cessna auf dem Roten Platz in Kremlnähe viel getan. Aber auch der Kreml hatte nach den ersten Drohnenattacken im Frühjahr erklärt, die Flugabwehr müsse verdichtet werden. Trotzdem kommen diese kleinen und in geringer Höhe fliegenden Drohnen immer wieder durch.

Selenskyj: Krieg kehrt nach Russland zurück

Kremlchef Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj haben zuletzt eine Ausweitung der Drohnenproduktion angekündigt. Selenskyj meinte nach den neuen Schlägen gegen Moskau sogar, ohne sie zuzugeben, der Krieg kehre nach Russland selbst zurück – in seine Zentren und zu seinen Militärbasen. “Das ist ein offensichtlicher, natürlicher und absolut fairer Prozess”, sagte er.

In Kiew werden solche Schläge gegen Ziele im russischen Hinterland auch als Mittel gesehen, den Menschen im Nachbarland zu zeigen, was es heißt, in ständiger Angst vor Luftschlägen zu leben. Nichts davon aber ist vergleichbar mit den Zerstörungen und den Tausenden toten Zivilisten durch die massiven russischen Raketen- und Drohnenangriffe.

Immer mehr ukrainische Eigenproduktionen

Bei den ersten ukrainischen Versuchen, Ziele im russischen Hinterland mittels Drohnen anzugreifen, waren noch veraltete sowjetische Systeme des Typs “Strisch” (Segler) gesichtet worden. So soll im vergangenen Dezember der Angriff auf die Luftwaffenbasis bei Engels an der Wolga, gut 700 Kilometer entfernt von ukrainisch kontrolliertem Gebiet, so ausgeführt worden sein. Inzwischen werden aber zunehmend ukrainische Weiterentwicklungen oder Eigenproduktionen verwendet.

Im Februar setzte Kiew die bereits 2021 offiziell vorgestellte Kampfdrohne UJ-22 in Richtung Moskau ein. Diese soll eine Reichweite von mindestens 800 Kilometern haben und dabei höchstens 20 Kilogramm Sprengstoff transportieren können. Die von Russland massenhaft eingesetzten Geran-Kamikaze-Drohnen iranischer Bauart sollen mehr als das Doppelte an Reichweite und an Sprengkraft haben.

Verteidigungsminister Resnikow: “Boom” im Drohnenbereich

Verteidigungsminister Olexij Resnikow zeigte sich mit den ukrainischen Fortschritten im Drohnenbereich zufrieden. Von einem “wirklichen Boom” sprach der 57-Jährige. Damit meinte er aber taktische Drohnen für den Fronteinsatz. Ein Video der Spezialkräfte des Geheimdienstes SBU zeigte Bilder von Drohneneinsätzen bei der Zerstörung russischer Technik teils aus der Vogelperspektive.

Resnikow zufolge gibt es aktuell 82 an der Drohnenproduktion beteiligte Unternehmen. “Wir haben bereits mehr als 20 neue Drohnentypen in Dienst gestellt, und sie zerstören heute erfolgreich die Russen und ihre Technik”, sagte er kürzlich vor Journalisten. Zu Stückzahlen äußerte er sich nicht. Aber teils lassen Ukrainer ihrer Freude über die Schläge gegen russische Ziele freien Lauf.

“Heute Nacht haben Drohnen die Hauptstadt der Orks (Russen) und die Krim angegriffen”, schrieb der für Innovationen zuständige Vizeregierungschef Mychajlo Fedorow am vergangenen Montag nach Angriffen auf Moskau. Regelmäßig berichtet er über sein teils über Spenden finanziertes Projekt der “Drohnenarmee” und sprach in einem Videoclip von 1700 Fluggeräten an der Front. “Ukrainische Unternehmen haben die Produktion auf das Zehnfache gesteigert, in Einzelfällen sogar verhundertfacht”, teilte Fedorow mit.

Probleme gebe es weiter bei der Produktion von Munition für Kampfdrohnen. “Heute setzen unsere Kämpfer oft selbst gebaute Konstruktionen ein, um die Drohnen mit Granaten, Minen und anderer Munition auszurüsten.” Das sei nicht immer zuverlässig und effektiv. Daher habe die Regierung privaten Unternehmen die Produktion von Drohnenmunition gestattet.

Ferngesteuerte Motorboote im Schwarzen Meer

Bei autonom agierenden Wasserfahrzeugen soll Kiew inzwischen über Eigenproduktionen verfügen. Der US-amerikanische Fernsehsender CNN zeigte am Wochenende ferngesteuerte Motorboote, die mit bis zu 80 Kilometern pro Stunde zu Wasser 300 Kilogramm Sprengstoff in Ziele in 800 Kilometer Entfernung bringen können. “Die Geschwindigkeit dieser Drohnen übertrifft derzeit alle anderen Wasserfahrzeuge in der Schwarzmeerregion”, behauptete der Entwickler bei CNN.

Sie sollen auch bei dem zweiten Angriff kürzlich auf die Brücke über die Meerenge von Kertsch zur von Russland völkerrechtswidrig annektierten Krim eingesetzt worden sein. Die Herstellungskosten für ein mit Autopilot, Nachtsichtkamera und geschützter Verbindung ausgestattetes Exemplar einer Seedrohne bezifferte Fedorow auf umgerechnet 240.000 Euro. “Diese Drohnen sind komplett aus ukrainischer Produktion”, hieß es im CNN-Bericht. Deutlich zu sehen aber ist auch das Empfangsmodul für die Satellitenverbindung vom US-Anbieter Starlink.

dpa

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