Moritz Müller: Eishockey-Kapitän findet einen Olympia-Boykott heuchlerisch

Seit Monaten stehen die Winterspiele 2022 in Peking in der Kritik, Politiker und Menschenrechtler fordern einen Boykott. Moritz Müller, Kapitän der Eishockey-Nationalmannschaft, hält nichts von Sanktionen gegen andere Länder. Stattdessen fordert er einen anderen Ansatz.

Sie kamen wie Phoenix aus der Asche: Bei den Winterspielen in Pyeongchang 2018 begeisterte die deutsche Eishockeynationalmannschaft die Zuschauer und schaffte beinahe die Sensation: Im Finale fehlten dem deutschen Team nur 56 Sekunden bis zur Goldmedaille – am Ende aber jubelte Russland über den Titel. Für die Deutschen um Kapitän Moritz Müller blieb die Silbermedaille, der größte Erfolg in der deutschen Eishockeygeschichte. Ein Finale, das Deutschland elektrisierte: Über drei Millionen Zuschauer verfolgten das Finale, das morgens um 5 Uhr deutscher Zeit ausgestrahlt wurde. Müller steht auch bei den diesjährigen Spielen im 25-köpfigen Aufgebot der Nationalmannschaft und wird diese erneut als Kapitän aufs Eis führen.

Moritz Müller, haben Sie am 20. Februar 2022 schon was vor?

Ich gehe mal anhand der Frage davon aus, dass da das Eishockey-Finale ist, oder?

Genau!

Dann würde ich da gerne das Finale spielen. Und wenn man schon mal da ist, gerne auch als Sieger das Eis verlassen.

Moritz Müller (35) ist seit der Saison 2008/2009 ein fester Bestandteil der deutschen Eishockeynationalmannschaft, deren Kapitän er seit 2018 ist. Mit der Nationalmannschaft holte er bei den Winterspielen in PyeongChang 2018 überraschend die Silbermedaille. Nach seiner Jugend in Kassel und Weißwasser wechselte Müller zunächst in die Jugendsparte und anschließend in den Profibereich der Kölner Haie. Mit 942 Einsätzen in Hauptrunde und Playoffs liegt er auf Rang neun der ewigen Rangliste in der DEL. Müller ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Im Frühjahr erwartet die Familie weiteren Zuwachs.

© Monika Skolimowska / Picture Alliance

Die Silbermedaille 2018 war eine Riesenüberraschung, im letzten Jahr ist das deutsche Team Vierter bei der Weltmeisterschaft geworden. Was sind die Ziele für die Winterspiele in Peking?

Es ist immer so, dass man zunächst von Spiel zu Spiel guckt. Wir sind aber auf jeden Fall in der Stimmung, wieder angreifen zu wollen und sehen uns auch in der Lage, bei dem Turnier ein Wörtchen mitreden zu können.

Mit der Absage der weltbesten Profiliga NHL, Spieler für die Winterspiele abzustellen, fehlt dem deutschen Team Superstar Leon Draisaitl. Andere Teams aber müssen ihren kompletten Kader umbauen. Ist das für Deutschland ein Vorteil?

Das ist ein Für und Wider. Ich hätte die NHL-Spieler gerne für die Strahlkraft des Turniers und die Sportart Eishockey dabeigehabt. Auch aus persönlicher Sicht misst man sich gerne mit den besten Spielern und möchte zu den Besten gehören. Das geht jetzt nicht und das ist einfach schade. Aber wir brauchen auch nicht drüber zu reden, dass sich unsere Chancen durch die Absage der NHL tendenziell erhöht haben. Es ist aber auch schade für die deutschen NHL-Profis, die zum zweiten Mal hintereinander nicht dabei sein können. 

Das DEB-Team trifft in der Vorrunde mit Kanada und den USA auf zwei sehr starke Gegner, dazu wartet noch Gastgeber China. Nur die Gruppensieger und der beste Gruppenzweite kommen direkt weiter, alle anderen acht Teams müssen eine zusätzliche Partie zur Qualifikation für das Viertelfinale austragen. Rechnen Sie sich einen Gruppensieg aus?

Es ist alles möglich bei so einem Turnier. Man spielt einmal gegen jedes Team, da ist auch der Gruppensieg möglich. Es liegt in unserer Hand, aber um direkt weiterzukommen müssen wir gut performen – das wissen wir aber auch. Wir peilen natürlich das Bestmögliche an.

Sie sind nicht nur der Kapitän der Nationalmannschaft, sondern stehen auch zur Wahl als möglicher Fahnenträger für die Eröffnungsspiele (Hier können Sie abstimmen). Nach Martin Schröttle 1932 wären Sie der erste Eishockeyprofi, der bei einer Eröffnungsfeier die deutsche Fahne tragen darf. (Anm. d. Red.: Christian Ehrhoff trug die deutsche Fahne als bislang einziger Eishockeyprofi zum Abschluss der Winterspiele 2018) Was löst das in Ihnen aus?

Allein die Nachricht, im engeren Kreis zu sein, ist eine Riesenehre. Ob das jetzt funktioniert oder nicht, sei mal dahingestellt. Aber allein einer der Ausgewählten zu sein, ist eine besondere Auszeichnung. Sollte das aber wirklich klappen, wäre das eine Krönung der Karriere.

Ist die Nominierung auch eine Wertschätzung für den Stellenwert und die Entwicklung des deutschen Eishockeys in den vergangenen Jahren?

Ich denke schon. Das deutsche Eishockey kam ein bisschen aus dem Nichts, war 2014 gar nicht für die Spiele qualifiziert. Wir haben uns seitdem wieder zurück auf die Karte gekämpft – auch was unsere Stellung beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und dem Team Deutschland betrifft. Da haben wir als Gruppe geholfen, den Teamgeist mit zu fördern und ich denke, dass man das schon als Wertschätzung gegenüber unserem Sport sehen kann.

Wie darf man sich das Leben im olympischen Dorf denn vorstellen? Trifft man sich dort regelmäßig mit Athleten unterschiedlicher Nationen oder ist man doch eher unter sich?

Man hat schon Kontakt zu anderen Athleten. Das ist das Besondere an den Olympischen Spielen, dass man sich auch außerhalb der Kontakte zur eigenen Mannschaft bewegt und täglich Kontakt zu anderen Athleten und Wettkämpfen hat. Das ist sehr spannend und auch etwas, was man verfolgt als Athlet. Und so entstehen auch Beziehungen, die auch nach den Spielen durch gemeinsame Termine vertieft werden. Ich stehe beispielsweise mit Shorttrackerin Anna Seidel und Kombinierer Eric Frenzel in Kontakt. Es ist aber nicht so, dass wir regelmäßig telefonieren. Aber wir schreiben uns immer wieder mal und gratulieren uns zu Erfolgen.

Ihre Nationalmannschaftskollegen Marcel Noebels und Mathias Niederberger haben Anfang Januar von mulmigen Gefühlen berichtet, wegen der unklaren Corona-Lage nach Peking zu reisen. Wie ist die Stimmung bei der Nationalmannschaft vor diesen Winterspielen?

Natürlich wird Corona thematisiert, weil es auch Auswirkungen auf das Turnier hat. Wir spielen wahrscheinlich ohne Zuschauer, auch das olympische Dorf dürfen wir nicht verlassen. Wir sprechen natürlich auch darüber, wie wir möglichst ohne positive Fälle oder Quarantänefälle im Vorfeld anreisen – das ist für uns als Mannschaft ja besonders wichtig. An sich liegt es aber an jedem Sportler, wie er persönlich empfindet. Ich habe aber keine Angst, nach China zu fliegen.

Ein positives Testergebnis in den zwei Wochen vor den Spielen würde das sichere Aus bedeuten. Welche Vorsichtsmaßnahmen treffen Sie als Spieler?

Ich habe in letzter Zeit meine Kontakte reduziert und auch die Kinder aus der Kita genommen, um das Risiko wegzunehmen. Ich schaue aber schon, dass ich überall Maske trage und mich bestmöglich schütze. Ganz ausschließen kann man es aber nicht. Jeder versucht sich zu schützen, dennoch kann es einen erwischen.

Sie spielen bei den Kölner Haien, die ihr letztes Ligaspiel am 23. Januar ausgetragen haben. Andere DEL-Teams mit Nationalspielern wie München und Mannheim sind aber noch bis zum 30. Januar im Einsatz. Die Spielervereinigung SVE hatte zuletzt wegen mehrerer positiver Fälle eine Pause in der DEL gefordert. Wäre das auch Ihr Wunsch gewesen?

Was Deutschland im Eishockey hilft, ist die Nationalmannschaft. Internationale Erfolge sind das, was dem deutschen Eishockey einen Push gibt. Dass war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Es bedarf der Nationalmannschaft, um nationales Interesse zu wecken – das ist auch in anderen Sportarten so. Deswegen sollte es auch im Interesse von jedem sein, die Nationalmannschaften bestmöglich vorzubereiten. Die Spiele werden im Fernsehen gezeigt, das ist eine Chance, die wir nutzen müssen. Da schauen wir auf solche Spiele wie das von Mannheim in Straubing, wo es gerade mehrere Coronafälle gibt. Und natürlich haben wir dann die Sorge, dass es einige Nationalspieler noch erwischen könnte. Da würde es jetzt am meisten Sinn machen zu fragen, wie man die Spieler, die in einer Woche nach Peking fliegen sollen, schützen kann und wie wir sie im gesunden Zustand nach Peking bekommen. Es sind nur noch wenige Spiele diese Woche, da macht es Sinn, diese zu pausieren und das Risiko wegzunehmen.


Eine Eiskunstläuferin springt in die Höhe

In Peking erwartet Sie eine Olympia-Blase: Die Spieler dürfen das olympische Dorf nur zu Wettbewerben verlassen, man sieht nichts von der Stadt und Zuschauer sind voraussichtlich auch nicht erlaubt. Kann man da noch Vorfreude empfinden?

Wir sind es alle gewohnt, unseren Sport unter Corona-Maßnahmen auszuüben. In der Liga haben wir momentan auch keine Zuschauer. Das ist alles sehr eingeschränkt, was wir machen und das fühlt sich weder hier noch in China richtig an. Wir wollen alle diesen Sport vor Fans ausüben und dieses Wechselspiel der Energien ist jetzt nicht gegeben. Nichtsdestotrotz sind das die Olympischen Spiele und darauf trainiert man sein ganzes Leben hin. Dann ist selbst unter diesen Bedingungen die Vorfreude groß.

Biathlet Erik Lesser hat in einem Interview den IOC kürzlich attackiert und dem Komitee vorgeworfen, dass man sich jahrelang nicht politisch und kritisch zu China geäußert habe und dass dies nun die Sportler machen müssten. Wie stehen Sie zur Vergabe der Spiele nach China?

Ich sehe das ein bisschen zwiegespalten. Es sollte jedem Sportler freistehen, wann er seine Meinung sagen möchte. Er sollte aber nicht von der Politik oder Medien in die Situation gedrängt werden, seine Meinung sagen zu müssen. Als die Spiele 2015 vergeben wurden, gab es auch andere Standorte, die diese hätten bekommen können – unter anderem München. Aber das wurde von der Bevölkerung abgelehnt. 2015 hat aber auch die komplette Weltgemeinschaft um die Aufmerksamkeit Chinas gebuhlt. Wenn Angela Merkel und eine Wirtschaftsdelegation 2015 nach China fliegt und Milliardenverträge abschließt, dann wird das als Erfolg gefeiert. Und die deutsche Nationalmannschaft reist dann sieben Jahre später nach China und soll ein Exempel statuieren, was vorher keiner derjenigen gemacht hat? Für mich wird der Sport an dieser Stelle einfach missbraucht und das sollte nie passieren. Sport sollte Sport bleiben und nicht politisiert oder in eine Ecke gedrängt werden, sich zu positionieren. Es ist nicht am Sport, das tun zu müssen. Da ist vorher etwas in ein Ungleichgewicht geraten, was der Sport nun ausbügeln soll.

Der Moment, in dem das deutsche Team Eishockeygeschichte schrieb: Nach dem Sieg gegen Kanada jubeln Moritz Müller (Nummer 91) und das deutsche Team über den Einzug ins Finale bei den Winterspielen 2018. Dort fehlten gegen Russland nur wenige Sekunden bis zur Goldmedaille.

Der Moment, in dem das deutsche Team Eishockeygeschichte schrieb: Nach dem Sieg gegen Kanada jubeln Moritz Müller (Nummer 91) und das deutsche Team über den Einzug ins Finale bei den Winterspielen 2018. Dort fehlten gegen Russland nur wenige Sekunden bis zur Goldmedaille.

© Daniel Karmann / Picture Alliance

Wie sollte man Ihrer Meinung nach vorgehen?

Wir sollten den Schritt zurückgehen und uns fragen, was Olympische Spiele eigentlich sind. Sie waren ein völkerverständigendes Fest, wofür Kriege zwischen Römern und Griechen ausgesetzt wurden. Wir sollten daher lieber Brücken bauen, statt uns gegenseitig zu sanktionieren.

Wäre es dann auch an der Zeit, von einem Multimilliarden-Euro-Event wegzugehen, und statt immer neue Sportstätte zu bauen, auch mal die vorhandene Infrastruktur vor Ort zu nutzen?

Wir müssen wieder zum Sport zurückkommen und weg von dieser Riesenmaschinerie, die das ganze Event so aufpumpt. Dann könnte man es auch schaffen, die Ängste und Sorgen der Menschen beispielsweise in München zu nehmen und sie für so ein Sportfest zu begeistern. Ich kann die Sorge verstehen, dass da Sachen hingeklatscht werden, die danach nie wieder verwendet werden. Und da muss jetzt einfach ein Umdenken stattfinden: Muss es immer höher, schneller, weiter sein oder war es nicht schon gut, wie es war, und die Leute sind dennoch begeistert, ohne dass eine neue Skisprungschanze dahingestellt werden muss.

Wir müssen dennoch kurz über China reden: Der DOSB hat selbst an alle Sportler ein mehrseitiges Menschenrechtsbriefing rausgegeben, das die Situation in China beleuchtet. Hat man das vor Ort im Hinterkopf oder spielt das keine Rolle?

Ich kann Ihnen eine Geschichte dazu von den Winterspielen 2018 erzählen, wenn Sie wollen?

Gerne!

Wenn man zu den Spielen fährt, bekommt man eine Handvoll Pins, die man mit den Athleten anderer Nationen tauschen kann. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Nordkoreaner anzusprechen und habe es geschafft, mit einem einen Pin zu tauschen. Und so sind wir ins Gespräch gekommen, das war ein nordkoreanischer Trainer, der sogar deutsch sprach. Diese Verbindung zwischen uns wäre nie entstanden, wenn das vorher irgendwie sanktioniert worden wäre. Ich reise als Moritz Müller, der Eishockeyspieler, dahin und habe keinen Einfluss darauf, wo die Spiele stattfinden werden. Ich werde nicht gefragt, ob ich damit einverstanden bin. China ist kein Land, in das ich zum Urlaub hinfliegen würde – aber das Land hat mich auch noch nie großartig gereizt. Aber, ich möchte die Olympischen Spiele spielen. Um das ganz klar zu sagen: Ich würde mir für alle Menschen auf der Welt die gleichen Menschenrechte wünschen, dass jeder denken kann, was er möchte und auch jeder tun kann, was er möchte. Aber eine Absage von uns hätte doch nicht dazu geführt, dass sich irgendwas an der Menschenrechtslage vor Ort verbessert. Ich glaube, man sollte die Spiele als Händereichen betrachten. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wenn man den Kontakt oder den Dialog abbricht, irgendwas an der Situation besser wird. Ich reise nicht als Außenminister, sondern als Athlet dahin, deswegen ist die Debatte für mich ein bisschen heuchlerisch. Wenn Annalena Baerbock sagt, dass sie nicht nach China reist, kommt sie dann nur diesmal nicht, oder wird sie nie nach China reisen? Letzteres wäre dann wirklich konsequent, aber die Frage kann man sich selbst beantworten.

Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen: 2026 finden die Spiele in Mailand statt – die ersten Winterspiele in Europa seit 2006. Sie wären dann 39 Jahre alt. Wäre das ein realistisches Ziel, nochmal Winterspiele in Europa vor Familie und Freunden bestreiten zu können?

Ich habe das ein bisschen wehmütig gesehen, dass die Spiele in Europa sind. Ich habe schon andere Sachen geschafft, die mir niemand zugetraut hätte. Aber ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich nicht mehr vier Jahre im Voraus planen möchte, sondern von Saison zu Saison plane. Wenn ich bis dahin noch im Kreis der Auserwählten sein sollte, dann wäre das was ganz Außergewöhnliches für mich. Die Chancen sind sicherlich mehr klein als groß, aber man sollte niemals nie sagen.

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