Einat Wilf im Interview: “Die Palästinenser müssen aufhören, sich als Flüchtlinge zu betrachten”

Jahrzehntelang habe die Welt den Palästinensern erzählt, dass sie Flüchtlinge seien, “selbst nach fünf Generationen noch”, sagt die ehemalige Knesset-Abgeordnete Einat Wilf. Die palästinensische Forderung auf ein “Recht auf Rückkehr” sieht sie als Chiffre für die Zerstörung des Staates Israel und als zentrales Hindernis auf dem Weg zu Frieden.

ntv.de: Sie waren mal Befürworterin einer Zwei-Staaten-Lösung. Sind Sie das immer noch, auch nach dem 7. Oktober?

Einat Wilf: Ich habe immer betont, dass es in diesem Land Juden und Araber gibt, Israelis und Palästinenser, und ich denke, dass es für beide Seiten gut wäre, einen eigenen Staat zu haben. Aber ich habe auch deutlich gemacht, dass der einzige Weg, dorthin zu gelangen, darin besteht, dass die Palästinenser ihr Selbstverständnis und ihre Überzeugungen ändern. Erst wenn die Palästinenser nicht mehr in erster Linie den jüdischen Staat zerstören wollen, können wir anfangen, über Frieden und zwei Staaten zu sprechen.

Einat Wilf war von 2010 bis 2013 Abgeordnete in der Knesset. Sie gehörte zunächst der Arbeitspartei Awoda an, dann der Partei Unabhängigkeit, einer Abspaltung von Awoda. Wilf ist Politologin und arbeitet heute als Politik-Beraterin. 2022 erschien in Deutschland das Buch "Der Kampf um Rückkehr: Wie die westliche Nachsicht für den palästinensischen Traum den Frieden behindert hat", das sie zusammen mit Adi Schwartz geschrieben hat.

Einat Wilf war von 2010 bis 2013 Abgeordnete in der Knesset. Sie gehörte zunächst der Arbeitspartei Awoda an, dann der Partei Unabhängigkeit, einer Abspaltung von Awoda. Wilf ist Politologin und arbeitet heute als Politik-Beraterin. 2022 erschien in Deutschland das Buch “Der Kampf um Rückkehr: Wie die westliche Nachsicht für den palästinensischen Traum den Frieden behindert hat”, das sie zusammen mit Adi Schwartz geschrieben hat.

(Foto: privat)

Sprechen wir zunächst über den aktuellen Krieg, bevor wir über die Hindernisse auf dem Weg zum Frieden reden. Matthias Schmale, bis 2021 UNRWA-Direktor im Gazastreifen, sagt, dass Israel und die Hamas in früheren Kriegen Feuerpausen vereinbart hätten, damit Organisationen wie die UNRWA humanitäre Hilfe leisten können. Warum geschieht das jetzt nicht?

Seit dem 7. Oktober ist das gesamte Konzept von Feuerpausen unwiderruflich zerstört. Denn vor dem 7. Oktober hatten wir einen Waffenstillstand. [Anmerkung: Das Interview wurde auf Englisch geführt. Sowohl “Feuerpause” als auch “Waffenstillstand” sind im Englischen “ceasefire”. Das Interview wurde zudem geführt, bevor es Feuerpausen in diesem Krieg gab.] Wenn ein Waffenstillstand so aussieht, dann können wir uns keine Waffenstillstände mehr leisten. Außerdem kann man im vergangenen Jahrhundert die immer gleiche Dynamik beobachten: Wenn die Juden oder – nach der Staatsgründung – die Israelis dabei sind zu verlieren, akzeptieren die anderen Mächte die arabischen Forderungen. Aber wenn die Juden oder Israel gewinnen, wird ein Waffenstillstand gefordert. Rufe nach einem Waffenstillstand sind nie unschuldig. Dahinter steht immer der Versuch, Israel am Vormarsch zu hindern.

Schmale sagt auch, dass es in diesem Krieg sehr viel mehr zivile Opfer gibt als beim Krieg 2021, als Israel versuchte, “die Angriffe auf gezielte Präzisionsschläge mit möglichst wenig Kollateralschäden zu begrenzen”. Nimmt die israelische Armee im Gazastreifen zu wenig Rücksicht auf Zivilisten?

Ganz und gar nicht. Wer das, was jetzt geschieht, mit dem vergleicht, was vor dem 7. Oktober war, versteht nicht, was passiert ist. Wir wissen jetzt, dass alle vorherigen Verhandlungsrunden nutzlos waren. Die Hamas hat Waffenstillstände nur benutzt, um die Hilfsgelder, die nach Gaza flossen, zu nehmen und ihre Kriegsmaschinerie wieder aufzubauen – um Tunnel zu bauen, Ausrüstung zu beschaffen und den Angriff und die Massaker vorzubereiten. Deshalb liegen die Dinge dieses Mal völlig anders. Die Hamas muss verschwinden und die Palästinenser müssen sich ändern. Das Ausmaß dieses Krieges ist anders, weil der Überfall ein anderes Ausmaß hatte. Der 7. Oktober war der dunkelste Tag für das jüdische Volk seit dem Holocaust. Nach diesem Krieg darf es nicht wieder so werden wie vorher.

In Ihrem Buch “Der Krieg der Rückkehr” argumentieren Sie, dass der Glaube der Palästinenser an eine Rückkehr eines der größten Hindernisse für eine erfolgreiche Diplomatie und einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten ist. Was würde sich ändern, wenn dieser Anspruch offiziell von der UNO widerrufen oder von den Palästinensern selbst aufgegeben würde?

Eins ist wichtig: Die Vorstellung, die Palästinenser seien ewige Flüchtlinge und hätten ein Recht auf Rückkehr, ist ein Symbol. Das eigentliche Problem ist, dass sie glauben, dass das jüdische Volk keinen Staat haben sollte. Die Vorstellung, ewige Flüchtlinge zu sein, ist lediglich das Mittel, um sicherzustellen, dass die Juden keinen Staat haben.

Das müssen Sie erklären.

Als die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1947 den Teilungsplan für Palästina verabschiedete, fanden die Araber ihn inakzeptabel und zogen in den Krieg. Gleich nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 erklärten sechs arabische Länder Israel den Krieg. Infolge dieses Krieges wurden 750.000 Araber zu Flüchtlingen. Auch nach dem Krieg waren sie nicht bereit, die Existenz des jüdischen Staates zu akzeptieren. Also sagten sie: Wir werden für immer Flüchtlinge bleiben, bis Israel verschwindet. Das Problem ist, dass die Palästinenser als Volk im Grunde ein einziges Ziel haben: die Zerstörung des jüdischen Staates.

Ist die palästinensische Forderung nach einem Recht auf Rückkehr wirklich wörtlich gemeint? Ist es nicht eher ein Verhandlungsargument, das die Palästinenser nicht aufgeben sollten, ohne etwas dafür zu bekommen?

Das dachten wir auch. In den 1990er Jahren, während der Oslo-Verhandlungen, gingen wir davon aus, dass sie es nicht wörtlich meinten, dass es ein Verhandlungsargument ist, das sie gegen einen Staat eintauschen würden. Aber wir haben in den Verhandlungen der 1990er Jahre und vor allem in Camp David im Jahr 2000 und später 2007/2008 festgestellt, dass diese Annahme falsch war. Sie beschlossen, dass sie lieber weiterkämpfen wollen, als einen Staat zu haben.

Das begann schon vor Jahrzehnten: Ernest Bevin, der britische Außenminister, sagte im Februar 1947, um zu erklären, warum Großbritannien das Mandat des Völkerbundes an die UN zurückgab: “Die Regierung Seiner Majestät stand somit vor einem unüberbrückbaren Konflikt von Prinzipien (…) Für die Juden ist die grundsätzliche Frage im Kern die Schaffung eines souveränen jüdischen Staates. Für die Araber besteht die grundsätzliche Frage im Kern darin, sich der Errichtung einer jüdischen Souveränität in irgendeinem Teil Palästinas bis zum Letzten zu widersetzen.” Er sagte dies, als es noch kein Israel gab, keine Flüchtlinge, keine Besatzung, keine Siedlungen – all die Dinge, die wir heute als zentrale Probleme ansehen, gab es damals noch nicht. Bevin sagte: Die oberste Priorität der Juden ist, einen Staat zu haben. Aber für die Araber, die später als Palästinenser bekannt wurden, ist die oberste Priorität, dass die Juden keinen Staat haben. Das ist der Definition nach unvereinbar.

Seit 1947 hat sich einiges verändert – Deutschland zum Beispiel ist ein ziemlich anderes Land. Sie wollen doch nicht sagen, dass die Palästinenser die Einzigen sind, die sich nicht verändert haben?

Das ist ein großartiges Beispiel, und es ist auch eines, das mir Hoffnung macht. Wir vergleichen in dem Buch tatsächlich palästinensische und deutsche Flüchtlinge. In Deutschland gab es niemanden, der den Flüchtlingen sagte: Träumt weiter, eines Tages wird Westpolen wieder euch gehören, Ostpreußen wird wieder deutsch sein.

Na ja, einige gab es da schon.

Ich weiß, dass es diese Organisationen gab, aber sie hatten keine globale Legitimität. Es gab keine Studentenorganisationen in der ganzen Welt, die Gerechtigkeit für Deutschland forderten. Es war klar, dass diese Ideen verschwinden mussten, und im Laufe der Jahrzehnte wurden sie auch immer stärker an den Rand gedrängt, sie wurden inakzeptabel in der deutschen Gesellschaft. Wer heute noch so etwas fordert, gilt als verrückt.

Bei den palästinensischen Flüchtlingen verlief der Prozess umgekehrt. Nicht nur, dass niemand versuchte, ihre Sichtweise zu ändern. Jahrzehntelang hat die internationale Gemeinschaft ihnen erzählt, dass sie wirklich Flüchtlinge sind, selbst nach fünf Generationen noch. Die palästinensische Idee, dass es keinen jüdischen Staat geben dürfe, erhielt stetig mehr Unterstützung, mehr Legitimität und mehr Geld. In der palästinensischen Gesellschaft wurden diese Ideen nicht an den Rand gedrängt – das sind die Ideen, die die palästinensische Gesellschaft ausmachen.

Sie sehen das UNRWA als wichtigen Faktor in diesem Prozess. Was wäre besser, wenn es die UNRWA nicht gäbe? Vielleicht wäre die Anti-Israel-Propaganda in den palästinensischen Schulen dann noch schlimmer.

Eine der schockierendsten Entdeckungen, die mein Co-Autor Adi Schwartz und ich gemacht haben, ist die Tatsache, wie entscheidend die UNRWA für die Herausbildung der palästinensischen Mentalität war. In den UNRWA-Gebieten, in den UNRWA-Schulen, wurden die Palästinenser zu einem Volk mit einer ausgeprägten palästinensischen Identität. Es gibt Fälle von Palästinensern, die in die irakische oder ägyptische Gesellschaft aufgenommen wurden und dadurch Iraker oder Ägypter wurden. Sie hassten Israel vielleicht noch immer, aber die Zerstörung Israels war nicht der Mittelpunkt ihres Lebens. Die Palästinenser als Volk dagegen entwickelten ihre Identität rund um die Idee, Israel zu zerstören.

Sie wollen nicht sagen, dass die Palästinenser kein richtiges Volk sind?

Nein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele neue Nationen gegründet. Die Palästinenser sind sicherlich ein Volk, aber sie sind keine Flüchtlinge. Von den fünf Millionen Palästinensern, die das UNRWA derzeit betreut, leben 40 Prozent in Jordanien und sind jordanische Staatsbürger. Weitere 40 Prozent leben im Westjordanland und im Gazastreifen. Das bedeutet, sie leben dort, wo sie auch nach einer Zwei-Staaten-Lösung leben werden. Es ist nicht nötig, sie als Flüchtlinge zu behandeln. Im Gegenteil: Die Menschen, die im Westjordanland und im Gazastreifen leben, müssen aufhören, sich als Flüchtlinge zu betrachten. Die Welt muss ihnen sagen, dass sie aufhören müssen, sich als Flüchtlinge zu betrachten, damit sie endlich dort eine Zukunft aufbauen können, wo sie sind, statt sich weiterhin darauf zu konzentrieren, das Nachbarland zu zerstören.

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach das UNRWA dabei?

Dieser Prozess wurde möglich, weil das UNRWA ihm seine Schulen, seinen Raum und vor allem seine internationale Legitimität zur Verfügung stellte. Die Buchstaben “UN” spielen eine große Rolle. Es gibt viele Palästinenser, die sagen: Jeden Tag gingen wir in die Schule und lernten etwas über die Rückkehr und über Palästina, das uns gestohlen wurde. Und weil die Buchstaben UN auf der Schule standen, wussten wir, dass die Welt auf unserer Seite ist. Wenn man eine Generation nach der anderen dazu erzieht, dass die Welt ihr Ziel unterstützt, Israel zu zerstören, dann werden sie natürlich israelische Sportler ermorden, dann werden sie natürlich Gräueltaten begehen.

Sie sagten, das UNRWA verstecke sich hinter einer dünnen Fassade von Westlern. Was meinen Sie damit?

Das UNRWA hat 30.000 Mitarbeiter, von denen vielleicht einhundert Ausländer sind. Das sind diejenigen, die mit der Welt sprechen, denn die Palästinenser wissen, dass sie nicht 1 Milliarde Dollar pro Jahr bekommen würden, wenn die Welt wüsste, wie sehr es sich um eine palästinensische Organisation handelt. Aber weil sie die Buchstaben “UN” trägt und weil Deutsche, Schweizer und Italiener in ihrem Namen sprechen, denken die Leute, dass dies eine internationale humanitäre Organisation ist. Die meisten Angestellten sind Lehrer an den UNRWA-Schulen. Dort wird den Palästinensern beigebracht, dass Palästina “befreit” werden muss, “vom Fluss bis zum Meer” [vom Jordan bis zum Mittelmeer – also einschließlich des Staates Israel].

Aber Sie würden nicht sagen, dass das UNRWA ein größeres Hindernis für den Frieden ist als alle anderen Probleme, zum Beispiel die 500.000 Siedler im Westjordanland.

Ich unterstütze die Siedlungen nicht. Ich halte sie für Israels größtes vergeudetes Projekt, aber ich kann sehr einfach begründen, warum sie kein Hindernis für den Frieden sind. Erstens gab es vor 1967 keine Siedlungen, im Grunde erst ab 1975. Dennoch wollen Araber und Palästinenser seit den 1920er Jahren Palästina vom Fluss bis zum Meer “befreien”. Sie lehnen einen jüdischen Staat in allen Grenzen ab. Zweitens: Ehud Barak in Camp David, bei den Verhandlungen mit Jassir Arafat, und Ehud Olmert 2008 auf der Friedenskonferenz in Annapolis, bei den Verhandlungen mit Mahmud Abbas, haben beide den Palästinensern einen Staat im Westjordanland und im Gazastreifen angeboten. Die Siedlungen im Westjordanland sollten aufgelöst oder gegen gleichwertiges Land ausgetauscht werden. Doch die Palästinenser entschieden sich für Gewalt. Und drittens hat Israel in Gaza bewiesen, dass es Siedlungen auflösen kann.

Sie meinen, als Israel 2005 den Gazastreifen verließ.

Und schließlich: Auch nach 56 Jahren leben 80 Prozent der Siedler im Westjordanland auf 2 Prozent des Gebiets, das zumeist an das Gebiet des Staates Israel angrenzt. Zudem ist das Verhältnis zwischen Juden und Arabern im Westjordanland heute das gleiche wie in der Zeit der Osloer Verhandlungen. Ein palästinensischer Staat kann also immer noch entstehen. Nicht die Siedlungen sind das Hindernis, sondern die Tatsache, dass die Palästinenser nicht bereit sind, den Preis für ihren Staat zu zahlen, wenn dieser darin besteht, dass auch die Juden einen Staat haben dürfen.

Mit Einat Wilf sprach Hubertus Volmer

source site