„Die Produktion kommt nicht zurück nach Europa“

Abschiedskulisse: Frank Appel zieht aus dem Post-Tower aus. Bild: Domenic Driessen

Frank Appel ist der am längsten amtierende Chef eines Dax-Konzerns. Nun wird er das Kapitel Deutsche Post schließen. Zum Abschied spricht er über die Zukunft des Welthandels, eigene Fehler – und seine neue Aufgabe.

Herr Appel, kein anderer Dax-Vorstandschef war so lange im Amt wie Sie. Wie hat sich die Arbeit an der Konzernspitze in diesen 15 Jahren verändert?

Es wird immer behauptet, dass die Herausforderungen größer geworden sind. Ich bin davon nicht so überzeugt. Peter Ustinov hat mal gesagt: In zwanzig Jahren reden wir von den guten alten Zeiten. Aber das aktuelle oder das kommende Jahr ist eben immer das schwierigste. Viele sagen, die Komplexität der Welt habe zugenommen, und deshalb sei auch Unternehmensführung anspruchsvoller geworden. Ich bin da anderer Meinung. Nehmen Sie 2020, das Covid-Jahr. Da wurde gesagt, dass es nie wieder so sein wird wie vorher. Das war übertrieben. Wenn wir den fürchterlichen Krieg in der Ukraine und die Inflation einmal ausblenden, hat sich wenig verändert. Die Leute verreisen, sie gehen ins Kino und ins Restaurant, sie kaufen ein, sie leben genauso wie vorher. Wir müssen als Unternehmen mit den Veränderungen umgehen. Aber sich heute zu loben, denn es sei ja alles so schwierig geworden, wäre mir ein bisschen zu einfach.

Gibt es Dinge, die Sie gern noch zu Ende geführt hätten?

Meine Frau hat mir vor zwei Jahren, als wir überlegten, wann der beste Zeitpunkt zum Aufhören ist, den richtigen Rat gegeben: Frank, es wird nie fertig sein. Und das stimmt.

Ihr Nachfolger Tobias Meyer wird es nach den Spitzenergebnissen von 2022 erst mal schwerer haben als Sie zuletzt.

Dieser Gedanke hatte mich im Dezember 2021 dazu veranlasst, noch mal bis Mai dieses Jahres zu verlängern, statt schon 2022 aufzuhören. Genau deshalb, weil ich es für unfair hielt, das Unternehmen nach einem Jahr mit lauter Rekordzahlen zu übergeben. Damals war ich nämlich wie die meisten davon ausgegangen, dass wir 2022 eine Normalisierung sehen würden. Aber dann hatten wir im vorigen Jahr wegen der guten Ergebnisse in der Logistik sogar noch mal bessere Zahlen. Das hat niemand so vorher kommen sehen. Und jetzt ist mein Nachfolger tatsächlich in der Situation, die ich vermeiden wollte.

Mit 61 Jahren hätten Sie durchaus noch eine Vertragsverlängerung dranhängen können. Viele waren überrascht, dass Sie es nicht getan haben.

Genau das war ein wichtiges Argument für den Zeitpunkt: dass die Organisation nicht damit gerechnet hat, dass ich gehe. Und das ist gut, weil es keine langen Diskussionen und Spekulationen über meine Nachfolge gab. Sie sehen in anderen Unternehmen, wie viel Energie das kostet und was das anrichten kann. So hatten wir nur eine ganz kurze Phase, in der der eine oder andere ein wenig irritiert war, und dann ging die Arbeit ganz normal weiter.

Die Post ist ein Weltkonzern mit mehr als 600.000 Mitarbeitern in zweihundert Ländern rund um den Globus. Gibt es eine Größe, ab der ein solches Gebilde nicht mehr steuerbar ist?

Unser Konzern mit seinen fünf Divisionen ist heute eine Einheit, anders als vor fünfzehn Jahren. Dass es unsere Organisation schafft, mit der Vielfalt von Menschen aus so vielen Ländern und Kulturen umzugehen, hat viel mit unserem Leitsatz zu tun: Respekt und Resultate. Das klingt simpel, manche haben darüber gelächelt, aber darauf kommt es an. Respekt zeigen, den Leuten zuhören, aber auch so mit ihnen umgehen, wie es ihre Kultur verlangt. Die gesellschaftlichen Gepflogenheiten sind in jedem Land anders. Doch darunter haben die Menschen die gleichen Bedürfnisse und Erwartungen. Wenn man sich das bewusst macht, ist es eigentlich nicht so schwierig, eine solche Organisation zu führen und zusammenzuhalten.

Wie geht man mit der Verantwortung für so viele Menschen um?

Man darf darüber nicht zu viel nachdenken. Das hält man nicht aus, weil es Ängste auslösen kann. Aber als Manager darf man keine Angst vor Entscheidungen haben, sondern muss sich darauf konzentrieren, das Richtige zu tun. Doch die Belastung ist schon enorm. Ich bin froh, wenn ich am 5. Mai aufwache und weiß, dass diese Verantwortung für so viele Menschen nicht mehr auf meinen Schultern liegt.

Müssen Vorstandschefs so viel Geld bekommen, damit sie einen guten Job machen?

Darüber kann man lange streiten. Ein wichtiges Argument ist für mich, dass Vorstände möglichst schnell ökonomisch unabhängig sein sollten, damit sie Entscheidungen im Sinne des Unternehmens treffen und nicht aus ökonomischem Eigeninteresse. Allerdings bläht auch die Transparenz der Vorstandsvergütungen die Gehälter auf. Weil jeder weiß, wie viel wo bezahlt wird, verschiebt sich der Vergleichsmaßstab immer weiter nach oben. Ich glaube, diese Transparenzvorgaben waren eine falsche Entscheidung.

Woran lässt sich erfolgreiche Führung messen?

Wichtig ist mir: Vorstände tragen mehr Verantwortung, aber sie sind nicht wertvoller als andere Beschäftigte. Unsere Aufgabe ist es, eine möglichst perfekte Dienstleistung zu erbringen. Dafür kommt es auf alle an, und jeder einzelne Mitarbeiter verdient dafür Respekt. Gute Führung zeigt sich darin, dass man Menschen hilft, ihr volles Potential, das in ihnen steckt, auszuschöpfen.

Gibt es in der Rückschau Fehlentscheidungen, die Sie sich vorwerfen?

Klar gab es Fehler. Ich habe zu lange auf manche Leute vertraut und sie machen lassen, ich habe auch vor einigen Jahren ein IT-Projekt falsch eingeschätzt. Fehler passieren, aber dann muss man sie zugeben und schnell reagieren. Besonders schwierig ist das übrigens in der Politik, weil es als Schwäche gilt, wenn ein Politiker die Meinung ändert. Aber das muss die Konsequenz sein, wenn sich die Fakten ändern oder neue Erkenntnisse da sind. Gerade in der Unsicherheit der letzten drei Jahre haben wir das oft genug erlebt. Auch bei uns. Die Vorstandssitzungen waren keine Vergnügungsveranstaltungen. Da ging es teilweise hoch her, weil wir unterschiedlicher Meinung waren. Aber anders geht es nicht, wenn man zu richtigen Lösungen kommen will.

Haben Sie zwischenzeitlich mal überlegt, den Bettel hinzuwerfen?

Es gab ein oder zwei solche Situationen, wo ich ins Nachdenken kam. Die eine davon hatte mit dem Unternehmen zu tun, die andere mit Politik. Das ist alles schon ziemlich lange her. Sehen Sie es mir nach, dass ich dazu mehr nicht sagen möchte.

Gerade wird eine neue Post-Novelle vorbereitet. Stimmt die Richtung?

Nein. Die Politik stellt die Wettbewerbsförderung in den Vordergrund. Das funktioniert dort, wo Märkte wachsen wie in der Telekommunikation oder bei den Paketen. Dann bringt Wettbewerb Innovationen und Fortschritte hervor. Auf dem kontinuierlich schrumpfenden Briefmarkt mit seinen hohen Fixkosten erzeugt Wettbewerb keine Vorteile. Vielmehr muss es darum gehen, einen leistungsfähigen Universaldienst für alle zu erhalten.

Das klingt wie ein Plädoyer für ein neues Briefmonopol.

Bei der Privatisierung der Post ging die Politik noch davon aus, dass der Briefversand zunehmen würde. Unter der Annahme war Deregulierung sinnvoll, um Effizienzgewinne zu erzielen. Aber es ist anders gekommen. Und die Schrumpfung wird sich noch beschleunigen, wenn es endlich gelingt, die Digitalisierung schneller voranzubringen, um unser Land zu modernisieren. Aber es wird immer Menschen geben, die die Digitalisierung nicht mitmachen, und für die braucht es eine leistungsfähige Briefzustellung überall in Deutschland.

Welche Optionen gibt es?

Entweder stellt der Gesetzgeber sicher, dass ein Universaldienst kommerziell möglich bleibt. Oder die Politik muss ihn verstaatlichen oder subventionieren. Das wollen wir beides nicht. Viele andere europäische Postgesellschaften bekommen staatliche Ausgleichszahlungen. Wir sind das einzige Land, das noch einen Wettbewerb hat. Der Briefpreis liegt mittlerweile 40 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt trotz höherer Lohnkosten. Das ist nicht nachhaltig.

Für den Konzern spielen die Briefe nur noch eine Nebenrolle. Läge es da nicht nahe, sich ganz auf die wachstumsstarke Logistik zu konzentrieren?

Die Antwort ist ein klares Nein. Wir sind der beste Eigentümer für das deutsche Briefgeschäft. Wir wissen, wie es geht. Richtig ist aber auch, dass wir nicht dauerhaft mehr Geld investieren können, als wir verdienen. Quersubventionen würden uns in eine Schieflage bringen. Und gerade jetzt müssen wir investieren, um den ökologischen Umbau zu bewältigen. Dafür muss auch eine vernünftige Entgeltregulierung her, die uns erlaubt das Porto zu erhöhen. Wir reden hier über Ausgaben privater Haushalte von aktuell durchschnittlich 2,50 Euro im Monat. Jede Schwankung der Spritpreise schlägt im Portemonnaie stärker durch als eine Portoanpassung.

Nach den Erfahrungen in der Covid-Krise wachsen die Zweifel an der Globalisierung. Gehören Sie immer noch zu den Optimisten?

Ja, weil sich an den Antriebskräften nichts verändert hat. Am Ende geht es immer darum, was Konsumenten bereit sind, für ein Produkt zu bezahlen. Wo ein Smartphone produziert wurde, ist den meisten vermutlich egal. Viele wollen maximalen Gegenwert für ihr Geld. Oder die Covid-Masken. Ich glaube, ich hatte keine einzige, die nicht in China produziert worden ist. Wenn die nächste Pandemie kommt, wird das nicht anders sein. Es ist kaum jemand bereit, den doppelten oder dreifachen Preis zu bezahlen, nur weil in Deutschland oder Europa produziert wird. Es sei denn, die Politik greift ein, so wie jetzt in der Chip-Industrie. Aber für den Großteil der Produkte geht es um individuelle Kaufentscheidungen, und dabei kommt es auf Value for Money an. Das ist auch völlig legitim. Deshalb sehe ich kein Ende der internationalen Arbeitsteilung.

Welche Folgen hat es für DHL, dass sich Unternehmen von China abwenden und andere Lieferanten suchen?

Wahrscheinlich wird DHL davon sogar profitieren. Diese Produktion kommt ja nicht zurück nach Europa. Die Unternehmen versuchen, regional zu diversifizieren. Indien reagiert schon und wird daraus sicherlich Nutzen ziehen, auch für einige südostasiatische Länder und Afrika ist das eine Chance. Auch in Lateinamerika tut sich einiges. Es wird darum gehen, neue sichere Lieferketten und zusätzliche regionale Lagerhaltung aufzubauen.

Die DHL-Logistik ist inzwischen in mehr als 200 Ländern unterwegs. Gibt es regional oder in den Geschäftsbereichen noch weiße Flecken, wo sich der Konzern verstärken will?

Wir haben in jüngster Zeit einige Schritte gemacht, und es gibt Möglichkeiten für weitere Akquisitionen in der Spedition, in der Lagerhaltung und im E-Commerce, wo wir international weiter expandieren möchten. Unsere Bilanz ist stark genug, um Chancen zu nutzen. Doch der Preis muss stimmen, die Geschäfte müssen vernünftig integrierbar sein, und sie müssen uns besser machen. Wir kaufen nicht einfach nur, um noch größer zu werden.

Wie beurteilen Sie das Verhältnis der Ampelkoalition zur Wirtschaft?

Ich finde, die Regierung macht das gut, auch wenn wir uns bei bestimmten Themen nicht einig sind. Ein Beispiel: Seit Beginn der Ukrainekrise wurden wir regelmäßig von Herrn Habeck zu Telefon-Calls eingeladen, er hört uns zu. Ich habe den Eindruck, dass diese Regierung wirklich versucht zu verstehen, was die Wirtschaft umtreibt.

Was den Atomausstieg allerdings nicht verhindert hat. Ein Fehler?

Natürlich ist diese Entscheidung überzogen. Und das sage ich als jemand, der gegen Atomkraft auf die Straße gegangen ist. Atomkraft hat ihre Probleme, aber es kommt jetzt nicht drauf an, ob sie zehn Jahre länger läuft. Dann muss das Endlager, das wir ohnehin brauchen, ein wenig größer werden – was letztlich keine Rolle spielt. Trotzdem müssen wir diese Entscheidung akzeptieren. Dafür ist diese Regierung gewählt worden.

Bergen die hohen Energiepreise die Gefahr einer Deindustrialisierung?

Das Risiko besteht. Es kommt darauf an, wie schnell uns der Umbau des Energiesystems gelingt. Einen Konstruktionsfehler gibt es aus meiner Sicht. Europa und Deutschland setzen zu sehr darauf, Investitionen zu subventionieren. Nehmen Sie den Markt für grüne Treibstoffe für Flugzeuge und Lastwagen. Da fehlt es nicht an Geld, um neue Anlagen zu bauen, sondern an der Nachfrage. Die muss subventioniert werden, so wie es die Amerikaner machen. Dieser Ansatz wäre auch für die Förderung der Elektromobilität das bessere Modell.

Wie könnte das aussehen?

Wir sollten nicht die Anschaffung von E-Autos subventionieren, sondern den Käufern günstigen Ladestrom garantieren. 10 Cent je Kilowattstunde zahlt der Kunde, den Rest rechnet der Staat mit den Energielieferanten ab. Das würde eine dauerhafte Nachfrage schaffen. Wenn wir grüne Produkte wollen, müssen die billiger werden. Aber was passiert? Die EU baut wie beim Stahl neue Zollschranken auf, um Importstahl zu verteuern.

Was hat Sie gereizt, den Vorsitz im Telekom-Aufsichtsrat zu übernehmen?

Erst einmal ist das auch ein reguliertes Unternehmen, und damit kenne ich mich aus. Vor allem aber leistet die Telekom mit ihren Netzen einen unglaublich wichtigen Beitrag für dieses Land. Und sie ist ein sehr gut geführtes Unternehmen. Ihr Börsenwert ist höher als der von Telefónica, Vodafone, Orange und BT zusammen. Zusätzlich besitzt sie 50 Prozent von T-Mobile US, dem wertvollsten Telekommunikationsunternehmen der Welt. Wenn man dann gefragt wird, ob man in einem solchen Konzern mithelfen will, sagt man gern Ja.

Anders als die sehr solide finanzierte Post ist die Telekom aber auch ein Unternehmen mit einem riesigen Schuldenberg. Das macht Ihnen keine Sorgen?

Nein, die Telekom ist solide finanziert. Sie investiert in Wachstum. Das ist richtig, wenn man in einem so wettbewerbsintensiven Markt erfolgreich bleiben will. Nur auf die absolute Höhe der Verbindlichkeiten zu schauen greift viel zu kurz. Es geht um die Schuldenfähigkeit. Der Schuldenstand hat viel mit dem Dollarkurs und noch mehr mit Regelungen der internationalen Rechnungslegung zu tun. Es werden Zahlungsverpflichtungen als Verbindlichkeiten ausgewiesen, die einen anderen Charakter haben als Anleihen und Kredite. Unter dem Strich ist das eine tragfähige Last, die dem kapitalintensiven Geschäft entspricht.

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Ihr Vorgänger Ulrich Lehner hat den Telekom-Aufsichtsrat 14 Jahre lang geleitet. Haben Sie ähnliche Ambitionen?

In solchen Kategorien denke ich nicht. Mir machen der Job und die Zusammenarbeit mit dem tollen Telekom-Team viel Freude. Dann werden wir in drei Jahren sehen, wie es weitergeht.

Sie sitzen auch im Aufsichtsrat von Fresenius. Können Sie sich weitere Mandate vorstellen?

Ich werde immer wieder mal angesprochen. Spruchreif ist noch nichts. Aber ich habe auch andere Projekte im Kopf. Zum Beispiel möchte ich meine Erfahrungen in der Lehre weitergeben und mich zusammen mit meiner Frau sozial engagieren.

Den Post-Aufsichtsrat haben Sie für sich ausgeschlossen. Bleiben Sie dem Konzern anderweitig verbunden?

Darüber sind wir im Gespräch. Ich kann mir vorstellen, dass ich zu Führungskräfte-Trainings eingeladen werde. Und sicherlich werde ich auch das eine oder andere Sponsoring-Event wahrnehmen. Vielleicht auch auf dem Mountainbike. Aber da muss ich vorher noch klären, ob ich in Magenta anrolle oder in Rot-Gelb von DHL.

Quelle: F.A.Z.

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