Wie besorgt ist Deutschland um afghanische Flüchtlinge? – EURACTIV.com


Die Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan lässt eine Wiederholung der Flüchtlingskrise von 2015 in Deutschland befürchten, da das Land die Evakuierung gefährdeter Afghanen und lokaler Mitarbeiter vorantreibt. Doch solche Befürchtungen sind nach Ansicht von Wissenschaftlern und der Zivilgesellschaft unbegründet. EURACTIV Deutschland berichtet.

„Wir setzen uns weiterhin dafür ein, Afghanen bei der Ausreise zu helfen, insbesondere denen, die als lokale Kräfte zu Deutschland gestanden haben und sich für ein sicheres, freies Land mit Zukunftsperspektive eingesetzt haben“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung am Mittwoch (25.08.).

Bisher hat die Bundesregierung mehr als 4.600 Menschen aus dem Land geflogen.

Am Tag zuvor warnte die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet davor, dass die Taliban nun zu Massenexekutionen von Zivilisten greifen.

Deutschland nimmt lokales Personal in Afghanistan auf, aber auch Personen, die als besonders schutzbedürftig gelten.

Innenminister Horst Seehofer stimmte dem in der vergangenen Woche mit den Bundesländern zu und betonte, dass es für diese schutzbedürftigen Personen keine Obergrenze geben solle. Deutschland sei dazu “moralisch verpflichtet”, fügte Seehofer hinzu.

Menschen mit besonderem Schutzbedarf seien eine eng umrissene Gruppe, die beispielsweise wegen ihres Engagements für Menschenrechte als besonders bedroht gilt, sagte das Innenministerium gegenüber EURACTIV.

Das bedeutet, dass ein Großteil potenziell Verfolgter nach wie vor vom Aufnahmeprogramm ausgeschlossen ist.

„Die EU und Deutschland haben jetzt eine klare Verantwortung, mit allen Mitteln diejenigen zu evakuieren, die Gefahr laufen, von den Taliban angegriffen zu werden“, sagte Franziska Vilmar von Amnesty International gegenüber EURACTIV.

Erforderlich seien „sichere und legale Wege für Flüchtlinge aus Afghanistan, wie etwa Resettlement-Programme, Familienzusammenführung oder die Gewährung humanitärer Visa“, fügte Vilmar hinzu.

Das Gespenst von 2015

Deutschlands Zurückhaltung rührt auch zum Teil aus der Angst vor einer Wiederholung der massiven Flüchtlingskrise von 2015.

Mehrere Spitzenpolitiker der konservativen CDU/CSU-Union – darunter CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, CSU-Chef Alexander Dobrindt und der Spitzenkandidat der Union für die Wahlen im September, Armin Laschet – haben davor gewarnt, die „Fehler von 2015“ zu wiederholen, als Merkel sie ins Rollen brachte Politik der offenen Tür für Flüchtlinge.

Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder sprach der Bild-Zeitung von der Möglichkeit einer neuen „Flüchtlingswelle“ und betonte, dass Deutschland keine „zweite Situation wie 2015“ erleben dürfe.

Wie Franziska Vilmar von Amnesty betonte, sieht die Situation heute jedoch ganz anders aus. „Die damalige Situation lässt sich nicht wiederholen, denn seit 2015 sind die Grenzen auf dem Balkan massiv geschlossen“, erklärte Vilmar mit Blick auf die sogenannte Balkanroute, über die die meisten Flüchtlinge nach Westeuropa gelangten.

Auch die Migrationsforscherin Sabrina Zajak vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) hält den Vergleich für irreführend, denn „die Situation ist heute eine ganz andere als 2015“.

Zajak sagte gegenüber EURACTIV, Deutschland sei jetzt viel besser auf die Aufnahme von Flüchtlingen vorbereitet – sowohl auf zivilgesellschaftlicher Ebene als auch in Bezug auf verbesserte Unterbringungskapazitäten und Integrationsmaßnahmen.

Integrationsängste

Die Integration der auf deutschem Boden gelandeten Afghanen steht bereits wenige Wochen vor der Bundestagswahl am 26. September auf der politischen Agenda.

Integrationsministerin Annette Widmann-Mauz sagte gegenüber EURACTIV, es sei jetzt wichtig, dass „diejenigen, die nach Deutschland kommen, schnell Zugang zu Integrationsangeboten und zu bestehenden Unterstützungsstrukturen für Geflüchtete in den Kommunen bekommen“.

Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz lehnte seinerseits die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge ab und verwies auf deren “besonders schwierige Integration”.

Doch laut Statistik sind die angeblichen Integrationsschwierigkeiten der Afghanen weitgehend aufgewogen. Afghanen haben tatsächlich eine besonders hohe Erfolgsquote auf dem Arbeitsmarkt, hat der Migrationsmonitor der Bundesagentur für Arbeit festgestellt.

Allerdings wurden in Deutschland in der Vergangenheit einige Fehler gemacht, insbesondere bei den Integrationsmaßnahmen für afghanische Flüchtlinge.

„Die deutsche Integrationspolitik benachteiligt seit Jahren afghanische Flüchtlinge beim Zugang zu integrationsfördernden Maßnahmen, weil sie als Gruppe in den letzten Jahren keine so genannte ‚gute Bleibeperspektive‘ hatten“, so die Migrationsforscherin Ramona . Rischke vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) gegenüber EURACTIV.

Viele der Förderprogramme zur Integration sind an die „guten Bleibeperspektiven“ der Geflüchteten geknüpft, die erst ab einer Schutzquote von über 50 % erteilt werden. Allerdings wird nur das erstinstanzliche Verfahren zur Ermittlung der Schutzquote herangezogen, weshalb afghanischen Flüchtlingen eine „geringe Bleibeperspektive“ attestiert wird.

Allerdings ist die tatsächliche Schutzquote der Afghanen viel höher, weil viele Betroffene erst vor Gericht gehen müssen, um ihr Asylrecht geltend zu machen. Letztlich entscheidet das Gericht in drei von vier Fällen zugunsten afghanischer Asylbewerber.

„Dieser bedauerliche Zustand muss beseitigt werden, um der afghanischen Gemeinschaft mehr Chancen für eine erfolgreiche Integration zu geben“, betonte Vilmar von Amnesty.

Hinzu kommt, dass die Asylverfahren afghanischer Flüchtlinge vergleichsweise lange dauern, was nicht nur „Humankapitalentwicklung und gesellschaftliche Teilhabe“ beeinträchtigt, sondern durch „Nicht-Aktivierung“ auch zu einer Verschlechterung vorhandener berufsrelevanter Kompetenzen führt“, warnte Rischke .

[Edited by Zoran Radosavljevic]





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