Eine Grand Tour durch Deutschlands Opernparadies

Deutschland ist aus statistischen Gründen das operativste Land der Erde. Die Bundesrepublik hat mehr als achtzig ständige Opernhäuser, die in einer typischen Saison sieben- oder achttausend Aufführungen bieten – laut der Website Operabase etwa ein Drittel der weltweiten Gesamtzahl. Im Gegensatz dazu verwaltet Italien, die Wiege der Kunst, weniger als zweitausend. Da die Möglichkeiten anderswo schwinden, ist das deutsche System zu einem entscheidenden Mechanismus geworden, durch den Opernkarrieren gemacht werden. Unzählige jüngere Sänger aus der ganzen Welt haben sich dem Ritual eines unterzogen Festvertrag– ein befristeter Vertrag, um verschiedene Rollen in einem einzigen deutschen Haus zu singen. Bei so vielen Produktionen fühlen sich Regisseure frei, neue Ideen auszuprobieren, einige ausgefallene und andere aufschlussreiche. Regelmäßig tauchen neue Werke auf; Vergessene Partituren erhalten eine zweite Chance. Die öffentliche Förderung macht diese Quasi-Utopie möglich: Vor der Pandemie gaben Bund, Länder und Kommunen jährlich 2,7 Milliarden Euro für Theater aus.

Jahrelang hatte ich Geschichten über die deutsche Opernbranche gelesen, ohne sie wirklich selbst erlebt zu haben. Ich hatte die berühmten Unternehmen in Berlin, München, Hamburg und Dresden besucht, aber nicht die Dutzende kleinerer Häuser, die das Netzwerk ausfüllen. Also habe ich bei einer kürzlichen Reise nach Deutschland die Metropolen ignoriert und neue Ausfahrten von der Autobahn genommen. Die Palette der Angebote, die während einer viertägigen Strecke verfügbar waren, war überwältigend. Abgesehen von der üblichen Fülle von Mozart, Verdi, Wagner und Puccini hätte ich Martinůs „Die griechische Passion“ in Osnabrück sehen können; Aubers „La Muette de Portici“ in Kassel; Glass’ „In der Strafkolonie“ in Gera; oder drei verschiedene Inszenierungen von „Der Rosenkavalier“ in Dessau, Nürnberg und Trier. Ich entschied mich für eine Reiseroute in Mittel- und Ostdeutschland: „Aida“ in Chemnitz, „Die Hochzeit des Figaro“ in Erfurt und „Die Walküre“ in Coburg. Die Gesamtbevölkerung der drei Städte summiert sich auf eine halbe Million – weniger als die von Kansas City.

Am auffälligsten für einen amerikanischen Operntouristen sind die günstigen Eintrittskarten. An den Haltestellen meiner Reise lagen die Preise zwischen fünfzehn und zweiundfünfzig Euro, mit weiteren Rabatten für Studenten. Menschen mit begrenzten Mitteln haben vielerorts freien Eintritt. Wie lange diese üppigen Subventionen bestehen können, ist offen: Immer wieder kursieren Kürzungsängste, und Studien deuten auf eine allmähliche Erosion des Interesses an klassischer Musik hin. Im Moment scheint das System jedoch sicher zu sein, da die darstellenden Künste weithin als eine Form von angesehen werden Lebensmittel– Grundnahrung. Kultusministerin Claudia Roth, die einst als Dramaturgin in Dortmund tätig war und auch eine Rockband leitete, kündigte kürzlich eine siebenprozentige Aufstockung der Kulturförderung an.

Die alte Industriestadt Chemnitz trug während der DDR-Zeit den Namen Karl-Marx-Stadt. Eine gigantische Marx-Büste bleibt das wichtigste Wahrzeichen der Stadt; Die Architektur des Warschauer Pakts dominiert noch immer. Das linke Chemnitz ist stolz auf sein kommunistisches Erbe, obwohl die extreme Rechte eine bedrohliche Präsenz hat, wie gewalttätige Demonstrationen gegen Immigranten im Jahr 2018 deutlich gemacht haben. Die Opernabteilung des Theater Chemnitz, die auch Ballett, Schauspiel und Konzerte präsentiert, nutzt ein imposantes neobarockes Theater, das 1909 eröffnet, 1945 zerstört, bis 1951 wieder aufgebaut und Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre modernisiert wurde. Das Auditorium bietet Platz für siebenhundertzwanzig; Die Akustik ist trocken, aber klar.

Das Theater Chemnitz ist für sein abenteuerliches Repertoire bekannt und hat Raritäten wie Meyerbeers „Vasco da Gama“, Pfitzners „Die Rose vom Liebesgarten“ und Kienzls „Der Evangelimann“ ausgegraben. Das Unternehmen hat auch eine feministische Version von Wagners „Ring“ mit vier Frauen inszeniert. Die „Aida“, die Idee des Produzententeams von Renaud Doucet und André Barbe, mischt Neuheit und Vertrautheit. Wir schreiben das Jahr 1870 und wir befinden uns in der Pariser Villa der Ägyptologin Auguste Mariette, die die ursprüngliche Idee zu „Aida“ hatte und Bühnenbild und Kostüme für die Uraufführung der Oper 1871 in Kairo betreute Deutsch-Französischer Krieg überwacht Mariette eine Probe des Werks, bei der Freunde, Bedienstete, Soldaten und zwei schelmische Kinder mitmachen. Man hat das Gefühl, dass Mariette – eine stille Rolle, gespielt von Rolf Germeroth – dem Chaos des Krieges trotzt Flucht in eine ästhetische Sphäre. In späteren Akten weicht der Rahmen zurück und das zentrale Drama übernimmt. Das letzte Tableau ist hinreißend und eindringlich: Während Aida und Radamès isoliert sterben, tauchen Mariette und der Rest der kunterbunten Gesellschaft aus der Villa wieder ins Blickfeld und starren ins historische Vergessen. Genial gestikuliert die Inszenierung in Richtung szenischer Erhabenheit, ohne dass dafür aufwändige Bühnenbilder nötig wären.

Eine engagierte Sängerbesetzung meisterte diese knifflige Schichtung von Identitäten geschickt. Die russische Sopranistin Olga Shurshina zeigte als Aida eine große, opulente Stimme, typisch slawisch in ihrem schnellen Vibrato und ihrem brüchigen Timbre. Unterstützt durch die Unterstützung des tiefen Atems spinnen sie großzügige Legato-Phrasen und strukturierten ihre großen Arien souverän. Hector Sandoval als Radamès fehlte der Klingelton, aber er schuf in seiner „Celeste Aida“ eine verzückte, berührende Aura. Am wichtigsten für den Erfolg des Abends war Diego Martin-Etxebarria, der Chefdirigent von Chemnitz, der Verdis Märsche und Chöre fachmännisch arrangierte und dabei die Feinheiten der Orchestrierung dazwischen hervorhob. Das monumentale, wörtlich gemeinte „Aida“ der Met hat mich daran gewöhnt, nicht zu viel über Verdis letzte große Oper nachzudenken; das Team in Chemnitz geht deutlich tiefer.

Erfurts Operntopographie ist gewissermaßen das Gegenteil von Chemnitz. Wo das Theater Chemnitz ein Relikt einer weitgehend zerstörten Stadtlandschaft aus der Vorkriegszeit ist, residiert das Theater Erfurt in einem eleganten modernen Gebäude, umgeben von einer ungewöhnlich gut erhaltenen mittelalterlichen Stadt. Von der oberen Lobby aus können Sie die Spitzen des gewaltigen gotischen Erfurter Doms sehen, die bei Sonnenuntergang glühen. In diesem Fall ist neuer besser. Das von Jörg Friedrich entworfene und 2003 eröffnete Theater ist nicht nur ein schicker Ort, um einen Abend zu verbringen, sondern auch ein rundum gelungener Ort, um Oper zu hören. Die Akustik ist warm und hell; Stimmen projizieren mühelos; Sichtlinien im gesamten Auditorium mit 800 Plätzen sind gut. (Nach der Omicron-Welle in Deutschland blieb die Besucherzahl zurück, und ich konnte mich nach Belieben bewegen.)

Die „Figaro“-Inszenierung, eine Zusammenarbeit zwischen der Regisseurin Martina Veh und der Bühnenbildnerin Momme Hinrichs, erinnert an eine dieser frechen TV-Shows wie „Bridgerton“ und „The Great“, die historische Kulissen und moderne Manieren mischen. Rokoko-Kostüme sind in grellen Farben gehalten; Höfische Gesten gehen Hand in Hand mit Libertinage. Jeder schläft mit jedem; Irgendwann kratzen Susanna und die Gräfin an Cherubinos Schritt. Die Promiskuität hatte den unglücklichen Effekt, den Einsatz des Dramas zu verringern: Der hochtrabende Herzschmerz des „Dove Sono“ der Gräfin macht weniger Sinn, wenn sie eine geile Seite zur Verfügung hat. Dennoch trägt Veh ihre Vision mit komischem Flair und einem scharf einheitlichen Stil zur Geltung.

Ich habe selten eine „Figaro“-Besetzung gesehen, die ein so temperamentvolles Ensemblegefühl hatte. Dabei half das, wie an so vielen deutschen Häusern, den Sängern wahrlich sind ein Ensemble: Saison für Saison arbeiten sie zusammen und entwickeln eine enge theatralische Beziehung. Spielereien mit Falltüren und ausziehbaren Betten gingen mit lubitschescher Präzision vonstatten. Herausragende Stimmen waren Máté Sólyom-Nagys rauer Figaro, Florence Losseaus würziger Cherubino und Kakhaber Shavidzes stentorischer Bartolo. Samuel Bächli, der kürzlich als Erfurter Generalmusikdirektor in den Ruhestand getreten ist, trieb das Geschehen mit elegant-spritzigem Dirigat voran. Jeder Akt schien in wenigen Minuten vorbeizutanzen.

Coburg ist mit 41.000 Einwohnern bei weitem die kleinste der von mir besuchten Städte. Amerikanische Gemeinden gleicher Größe sind Manassas, Virginia, und Wilkes-Barre, Pennsylvania. Beide haben in letzter Zeit Wagner nicht inszeniert. Coburg ist jedoch keine gewöhnliche Stadt; das Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha besaß im 19. Jahrhundert nicht zuletzt als Genpool für das britische Königshaus einen überragenden Einfluss. Der Ehemann von Königin Victoria, Prinz Albert, und ihre Mutter, Prinzessin Victoria, wurden beide in Coburg geboren. Das Landestheater, ein stattlicher klassizistischer Bau mit 491 Sitzplätzen, wurde auf Geheiß von Ernst I., Alberts Vater, erbaut. Gegenüber liegt Schloss Ehrenburg, die herzogliche Residenz. Vorher habe ich natürlich die berühmte Coburger Bratwurst probiert, die über einem Tannenzapfenfeuer gegrillt wird.

Die Coburger „Walküre“ unter der Regie von Alexander Müller-Elmau ist der zweite Teil eines laufenden „Ring“-Zyklus. Das Konzept mischt mythische und zeitgenössische Elemente: Pelzbekleidung über Tanktops, punkige Walküren auf Schaukeln, ein Fernseher, der die Eigenproduktion „Das Rheingold“ überträgt. Es gibt ein paar zu viele Reminiszenzen an vergangene „Ring“s – das verhängnisvolle Pendel aus Patrice Chéreaus Bayreuth-Inszenierung von 1976 erscheint sinnlos –, aber Wagners erhabenes Gewirr aus Politik und Emotion kommt rüber.

Da ein großes Wagner-Orchester nicht in den Graben von Coburg passen würde, begnügte sich das Unternehmen mit einer reduzierten Besetzung von achtundfünfzig Spielern. Dirigent war Daniel Carter, Coburgs junger, aus Australien stammender Musikdirektor. Obwohl das Ensemble stellenweise ruppig klang, fand ich es erfrischend, Wagner in intimen Beziehungen zu hören, wobei die Psychologie das Spektakel übertrumpfte. Die stimmliche Entdeckung des Abends war die junge schwedische Sopranistin Åsa Jäger, die Brünnhilde mit klarem Ton, klarer Diktion und ansteckender Lebensfreude sang. Diese Aufführungsserie markiert nicht nur Jägers Deutschland-Debüt, sondern auch ihr Debüt in einer Wagner-Rolle. Ich vermute, dass sie später in ihrer Karriere gerne auf Coburg zurückblicken wird, wo ihr Aufstieg begann. Der ultimative Reiz des Opernbesuchs in Deutschland besteht darin, zu sehen, wie eine altehrwürdige Kunstform eine kontinuierliche Wiedergeburt erlebt. ♦

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