Das Ende des Euro-Bashing – POLITICO



Alberto Alemanno ist Jean-Monnet-Professor für EU-Recht an der HEC Paris und Gründer des bürgerlichen Startups The Good Lobby.

Michel Barniers jüngster Angriff auf die Macht der europäischen Gerichte hat viele überrascht. Wie kommt es, dass sich der ehemalige EU-Chefunterhändler für den Brexit vom energischsten Verteidiger der EU-Integrität in einen patriotischen Verfechter des französischen Eigeninteresses gegen die Union verwandelt hat?

Einfach. Als Barnier – der große Europäer – die französische politische Arena als hoffnungsvoller Präsident wieder betrat, spielte er unverfroren die ultimative innenpolitische Karte: EU-Bashing.

Diese langjährige Praxis, die Schuld für innenpolitische Probleme von der nationalen Politik durch falsche Aussagen auf die Union abzuwälzen, hat sich bei den Wahlen seit langem gelohnt. Stillschweigende Absprachen zwischen nationalen Politikern, kombiniert mit einer für beide Seiten gewinnbringenden Ausrichtung auf die Mainstream-Medien, haben das EU-Bashing in den politischen Systemen des gesamten Kontinents verankert.

Der Brexit ist der spektakulärste und greifbarste Ausdruck dieses Phänomens – unvergeßlich symbolisiert durch die ungenaue Aussage, dass Großbritannien 350 Millionen Pfund pro Woche nach Brüssel schickt, die im Bus von Vote Leave prangt. Ganz zu schweigen von der endlosen Reihe von sachlich ungenauen und/oder verzerrten Geschichten über Migration, Terrorismus und Grenzkontrolle, so ein von InFacts zusammengestelltes Brexit-Dossier.

Leider ist diese Praxis nicht nur auf Großbritannien oder einige andere EU-Länder beschränkt. Es ist auch nicht – wie Barniers Geschichte zeigt – das reine Vorrecht von EU-feindlichen oder europaskeptischen Stimmen geblieben. Vielmehr hat sie sich in den nationalen politischen Systemen jedes der 27 EU-Länder zu einer überparteilichen Tradition verfestigt.

Denken Sie an den ehemaligen italienischen Premierminister Matteo Renzi, der seine EU-Flagge versteckt hat, um vor einem selbst auferlegten Verfassungsreferendum, das sich als fatal für seine politische Karriere erwies, Popularität zu gewinnen. Oder denken Sie an den Euroskeptizismus des niederländischen Premierministers Mark Rutte im letzten Wahlkampf, in dem er die Union wegen Einmischung in nationale Angelegenheiten beschimpfte.

Auch in der politischen DNA der ungarischen und polnischen Regierungsparteien ist die Euro-Skepsis mittlerweile klar verankert.

EU-Bashing prägt seit langem die Union, wie wir sie kennen. Und umgekehrt.

Denn hinter den oft falschen europaskeptischen Behauptungen verbirgt sich eine unbequeme Wahrheit: Nach 70 Jahren beispielloser sozioökonomischer Integration fehlt der EU ein engagiertes politisches System, das seinen über 445 Millionen Bürgern gegenüber rechenschaftspflichtig und repräsentativ ist.

Stattdessen werden EU-Vertreter – seien es Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat oder Abgeordnete im Parlament – ​​in 27 parallelen nationalen politischen Prozessen ausgewählt. Diese Prozesse sind nicht nur nationaler Natur (Sie können nur Vertreter aus Ihrem eigenen Land wählen), sie bleiben für die meisten EU-Bürger meist unverständlich, auch wenn sie gemeinsam das europäische Wahlspiel bestimmen.

Im Laufe der Jahre haben diese Undurchsichtigkeit und der Mangel an direkter Rechenschaftspflicht die europäischen politischen Systeme weitgehend von der Kontrolle abgeschirmt. Große politische Misserfolge haben stattgefunden – denken Sie an den Dieselgate-Skandal, das Fehlen einer einheitlichen EU-Migrationspolitik oder die Umsetzung kostspieliger Sparmaßnahmen –, ohne dass jemand einen politischen Preis dafür bezahlt hätte.

Dieser Mangel an politischer Verständlichkeit fördert die große politische Inkohärenz zwischen der nationalen und der EU-Ebene. Sie hat es der Europäischen Volkspartei – mit der Komplizenschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel – ermöglicht, von der Unterstützung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu profitieren, obwohl seine Partei Fidesz systematisch gegen die Grundwerte der EU verstößt. Es hat auch der spanischen politischen Partei Ciudadanos – einem Mitglied der liberalen EU-Familie – ermöglicht, sich zu Hause mit der ultrarechten Partei Vox zu treffen, während sie sich in Europa auf die Seite des französischen Präsidenten Emmanuel Macron stellt.

Die gute Nachricht ist, dass Europa seinen Widerstand gegen EU-Bashing-Rhetorik wächst, da Aktionen, die früher unbemerkt geblieben wären, unerwartete Aufmerksamkeit erregen. Trotz des Fehlens eines echten europäischen politischen Raums scheint eine wachsende Zahl von Europäern – unterstützt durch die Medien – zunehmend in der Lage zu sein, ihre Politiker herauszufordern, wenn sie billiges, faktisch ungenaues EU-Bashing betreiben.

Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz wurde beispielsweise auf frischer Tat ertappt, als er versuchte, die Schuld für den Impfstoffmangel mit einer euroskeptischen Rhetorik abzuwälzen. In Großbritannien wurde Premierminister Boris Johnson wegen Fehlverhaltens in öffentlichen Ämtern angeklagt, weil er die Öffentlichkeit wegen seiner fehlerhaften Busaussage belogen hatte – eine Weltneuheit.

Zurück zu Barnier: Die Reaktion auf seine Äußerungen in seinem eigenen Land deutet bereits darauf hin, dass sein billiges Gerede nach hinten losgegangen sein könnte. Wie glaubwürdig kann er noch sein, nachdem er seine EU-Referenzen für rein innerstaatliche Wahlzwecke lässig desavouiert hat?

Es gibt auch andere gute Nachrichten. Ein vorgeschlagenes EU-Wahlgesetz zur Regelung der nächsten EU-Parlamentswahlen 2024 soll den EU-Wahlwettbewerb europäisieren. Wenn es von allen 27 Mitgliedsländern angenommen und ratifiziert wird, wird es ein EU-weites Kollegium und transnationale Wahllisten schaffen und verlangt, dass alle nationalen Parteien ihre Parteizugehörigkeit auf europäischer Ebene offenlegen.

Da sich der gesamteuropäische Wahlwettbewerb verschärft und die EU-Bürger ihre Überprüfung der fehlerhaften Anti-EU-Rhetorik fortsetzen, müssen nationale Politiker erkennen, dass EU-Bashing sie zwar zu Hause unterstützen, aber am Ende nur kosten könnte.

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