Wiener Bühnen wieder geöffnet, mit Schmaltz und Zynismus


WIEN — Der bemalte Vorhang des Theaters in der Josefstadt, Wiens ältestes durchgehend laufendes Theater, knarrte im vergangenen Monat laut, als er sich zum ersten Mal seit sechs Monaten wieder hob.

Seit der Wiedereröffnung der Spielstätten der darstellenden Künste in Österreich am 19. Werke zweier sehr unterschiedlicher österreichischer Schriftsteller, Stefan Zweig und Thomas Bernhard.

Zweig, der Wiener Romancier, Biograph, Journalist und Dramatiker des frühen 20. Jahrhunderts, war einer der beliebtesten Schriftsteller seiner Zeit. Seine Schriften, insbesondere seine Memoiren „The World of Yesterday“, sind von Nostalgie für das österreichisch-ungarische Reich geprägt. Diese Autobiographie schrieb er 1941 aus dem brasilianischen Exil, ein Jahr bevor er Selbstmord beging. Im englischsprachigen Raum lange vernachlässigt, finden Zweig und sein umfangreiches Werk dort seit der Veröffentlichung von Wes Andersons Film „The Grand Budapest Hotel“ im Jahr 2014, der weitgehend eine Hommage an den Autor war, erneut Anerkennung.

Bernhard war eher ein Störenfried. Er war elf Jahre alt, als Zweig sich das Leben nahm, und wuchs im Schatten der Nazizeit auf. Im Laufe seiner Karriere schleuderte er seine Landsleute mit Provokationen und entlarvte den moralischen Verfall einer Gesellschaft, die behauptete, „Hitlers erstes Opfer“ zu sein, mit virtuosem Vitriol und eleganter Ironie. Nach seinem Tod 1989 verbot er posthum alle Veröffentlichungen und Aufführungen seines Werkes in Österreich, obwohl das Verbot später von einem Erben aufgehoben wurde.

Der deutsche Regisseur Kay Voges wählte Bernhards „Histrionics“ zu seinem Amtsantritt als Intendant des Wiener Volkstheaters. Voges leitete zuvor das Schauspiel Dortmund, der Beginn seiner ersten Spielzeit in Wien verzögerte sich sowohl durch die Coronavirus-Pandemie als auch durch eine umfangreiche Renovierung des Gebäudes.

Als also zu Beginn der Produktion der imposante Schauspieler Andreas Beck die Zeile „Was, hier? In dieser stickigen Atmosphäre soll ich mein Stück aufführen?“ es hat viel gelacht. Immerhin hat der Umbau dem Theater einen seit seiner Gründung 1899 ungesehenen Zustand als bürgerliche Alternative zum adeligen Burgtheater zurückversetzt.

Der 1984 geschriebene deutsche Titel für „Histrionics“ bedeutet übersetzt „Der Theatermacher“, und das Stück handelt von einem diktatorischen Regisseur namens Bruscon, der mit seinem epischen Drama „Das Rad der Geschichte“ durch ein fiktives Dorf tourt. Dort verschwört sich alles gegen ihn, und die Produktion wird durch gescheiterte Verhandlungen mit lokalen Beamten, ungeschicktes Handeln der Besetzung und eine finstere lokale kulinarische Tradition, bekannt als Blutwursttag, zurückgeworfen.

Während eines Großteils des Stücks wettert und schwärmt Bruscon gegen alles, was seinen anspruchsvollen künstlerischen Standards nicht entspricht, und Voges zerlegt „Histrionics“ in neun Variationen des epischen Moorhuhns der Figur gegen die Welt. Diese reichen von einer Stunde bis zu wenigen Minuten und umfassen unter anderem klassisch gespieltes Backstage-Drama und eine verwirrende Camp-Routine mit tanzenden Hitlers im schwarzen Tutus.

Nach fast drei anstrengenden und pausenlosen Stunden lesen wir am letzten Vorhang die Worte „The End of Theatre“.

Seit einem Jahr begleitet die Reihe „Offstage“ das Theater durch einen Shutdown. Jetzt schauen wir uns seine Erholung an. Begleiten Sie den Theaterreporter der Times, Michael Paulson, wie er mit Lin-Manuel Miranda, einer Aufführung von Shakespeare in the Park und vielem mehr Zeichen der Hoffnung in einer veränderten Stadt erforscht.

Mehr als ein Jahr, in dem ich Theater hauptsächlich von meinem Laptop aus probierte, hatte mich die einzigartige Qual vergessen lassen, in einer Aufführung gefangen zu sein, die kein Ende zeigt. Ich gestehe, einen fast masochistischen Nervenkitzel verspürt zu haben, als ich wieder solche theatralischen Qualen erlitt. Die Inszenierung hebt jedoch einige der neuen Ensembledarsteller des Volkstheaters hervor, darunter Anna Rieser und Nick Romeo Reimann als Bruscons gequälte Kinder.

Viele der Themen der „Histrionics“, darunter Autoritätsverlust, institutioneller Verfall und das Gelächter des Künstlers gegen das Mittelmaß, sind auch in Bernhards frühem und wenig gesehenem Drama „Die Jagdgesellschaft“ präsent, das am Burgtheater uraufgeführt wurde 1974. Lucia Bihlers aufsehenerregende Inszenierung war die erste von neun Premieren, die das Theater im Laufe der Spielzeit enthüllen will.

Es ist ein kurioses Kammerdrama, das in einem Jagdschloss spielt: Ein General, der in der Schlacht von Stalingrad einen Arm verloren hat, ist mit einigen Ministern auf Expedition, denen offenbar bewusst ist, dass dieser Veteran, ein Relikt aus einer untergehenden Welt, nicht mehr lange zu leben hat . Als sie sich auf eine Jagd vorbereiten, spielt die Frau des Generals Karten und unterhält sich mit einem Schriftsteller – ein klarer Stellvertreter für Bernhard –, der die Party als eine Art philosophischer Narr begleitet.

Bihler, ein junger Hausregisseur an der Volksbühne in Berlin, hat sich eine klamme Horrorkomödie mit schockierend roten Kulissen und plastikartigen Kostümen (von Laura Krist) ausgedacht. Es ist schwierig, Bihlers kühne ästhetische Entscheidungen mit dem Inhalt des Stücks in Einklang zu bringen. In Küche und Bad herrscht unheimliches Treiben, das Sounddesign ist bedrohlich und ein verblüffender Lichteffekt lässt die Bühne kurzzeitig von Blutrot in Mitternachtsblau wechseln. All dies verschwört sich zu einer überzeugenden Theaterwelt, aber der Inhalt des Stücks und die Leistungen der Schauspieler verlieren sich in der Seltsamkeit.

Nach dem Härtetest von „Histrionics“ und der regelrechten Kuriosität von „Die Jagdgesellschaft“ war ich erleichtert, mich im Theater in der Josefstadt in so etwas Harmlosem wie „Geheimnis einer unbekannten Frau“ niederzulassen.

Heute ist das Schauspielhaus für etwas muffiges, bürgerliches Theater bekannt, das mehr mit dem Broadway oder dem West End gemein hat als mit den meisten großen Ensembles im deutschsprachigen Raum, die eher avantgardistische Ansätze bevorzugen. Das Theater hat ein hingebungsvolles, wenn auch ergrauendes Publikum: An dem Abend, an dem ich teilnahm, war ich um mindestens ein Vierteljahrhundert die jüngste Person im Publikum.

Das einzig Untraditionelle an dieser Adaption von Stefan Zweigs 1922 erschienener Novelle „Brief einer unbekannten Frau“ ist ein zweifelhafter Perspektivwechsel. Der britische Dramatiker und Drehbuchautor Christopher Hampton, der auch Regie führte, hat in dieser Produktion den Fokus von der unbekannten Frau des Titels auf die Empfängerin des Briefes verlagert: einen weltgewandten älteren Mann, in den sie seit ihrem 12.

Hampton macht den österreichisch-jüdischen Zweig selbst zum Objekt ihrer Obsession und verwendet Details aus der Autobiografie des Autors, um die Figur zu konkretisieren. Er verlagert die Aktion auch auf kurz vor der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland.

Indem Hampton das psychologische Drama der alles verzehrenden Liebe mit der historischen Tragödie von Zweigs Leben überlagert, schafft Hampton Verwirrung darüber, welcher von diesen der emotionale Kern der Geschichte ist. Die Mischung aus Sentimentalität und der Katastrophe des 20. Jahrhunderts wird zu viel. Trotz der guten schauspielerischen Leistung von Martina Ebm und Michael Dangl wirken die Höhepunkte der Kurzinszenierung – flotte 75 Minuten – erzwungen und unbefriedigend.

Vom Volkstheater zum Theater in der Josefstadt sind es 10 Gehminuten, aber ästhetisch ist die Distanz zwischen den beiden Häusern so groß wie zwischen den beiden Autoren, deren Werke gerade in ihnen aufgeführt werden. Da Wien nach seinem langen pandemiebedingten Dornröschenschlaf zur Kultur erwacht, liegt es nahe, hier beide Wiener Extreme auf der Bühne zu finden: den Schmalz ebenso wie den Zynismus.

Histrionik. Regie Kay Voges. Wiener Volkstheater, bis 4. Juni.
Die Jagdgesellschaft. Regie Lucia Bihler. Wiener Burgtheater, bis 19. Juni
Geheimnis einer unbekannten Frau. Regie: Christopher Hampton. Theater in der Josefstadt, bis 11. Juni



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