Berlinale 2024 – Liveticker: „Sterben“ mit Lars Eidinger stellt die großen Fragen

Alle wollen dabei sein, doch die Eintrittskarten sind rar: Die Berlinale elektrisiert wieder einmal die Hauptstadt. Wo aber lassen sich Kristen Stewart, Cillian Murphy, Martin Scorsese, Lena Dunham oder Carey Mulligan blicken? Welcher Film sorgt für Furore, und was sind die größten Flops? Wer taucht überraschend auf, und wer sorgt für einen Eklat? Verfolgen Sie hier den Bericht unserer Filmkritikerin Marie-Luise Goldmann der 74. Internationalen Filmfestspiele Berlin – schnell, scharf und subjektiv!

Sonntag, 18. Februar, 21:31 Uhr – „Sterben“ mit Lars Eidinger stellt die großen Fragen

Ist Tom ein guter Mann? Er ist ein kalter Mann. Das wirft ihm seine Exfreundin an den Kopf, deren Kind er mit ihr großzieht. Das sagt er über sich selbst, als ihm seine Mutter, mit der ihn diese Eigenschaft der Kälte verbindet, offenbart, dass sie ihn als Baby einmal hat fallen lassen.

Obwohl Tom, glaubhaft uneidingerhaft gespielt von Lars Eidinger, mit seiner Karriere als Komponist schon ausgelastet genug wäre, hilft er den Menschen in seinem Umfeld, wo er kann. Wenn jemand anruft, geht er dran, wenn ihn jemand mitten am Weihnachtsabend um einen Gefallen bittet, setzt er sich ins Auto und kommt. Wenn seine große Liebe ihr gemeinsames Kind abtreiben und später ein Kind von einem anderen behalten will, unterstützt er sie bei beidem klaglos.

Sie wollen viel von ihm, die Leute, andererseits tut er all das gerne, dafür hat man ja Freunde, sagt sein bester Freund Bernard (Robert Gwisdek), ein depressiver Komponist, bevor er das Unmögliche von Tom verlangt. Wäre es besser, Tom würde den Menschen, die er liebt, ihren Willen nicht umstandslos erfüllen? Er würde auch mal nein sagen, dagegen ankämpfen, die Freiheiten der anderen beschränken? Kann Liebe auch manchmal heißen, wütend zu werden? Der Film lässt die Frage offen, das ist seine Stärke.

Lilith Stangenberg, Corinna Harfouch und Lars Eidinger auf der Berlinale

Quelle: Monika Skolimowska/dpa

Matthias Glasners Dreistunden-Episoden-Drama „Sterben“, das man gerne als Miniserie im Fernsehen gesehen hätte, zeigt das Leben der Familie Lunies aus den verschiedenen Perspektiven der unterschiedlichen Mitglieder, der kränkelnden Mutter Lissy (Corinna Harfouch), des dementen Vaters Gerd, der alkoholsüchtigen Tochter Ellen (Lilith Stangenberg) und des Sohnes Tom.

Die fast lakonische Ruhe, mit der die Figuren Herausforderungen begegnen, die andere Regisseure mit entsetztem Kreischen, erschrockenem Stottern oder dramatischem Zusammenbrechen inszeniert hätten, macht den großen Reiz von „Sterben“ aus – und bewahrt ihn zugleich vor dem Kitschverdacht, einer Angst des Komponisten Bernard, der „Kitsch“ so definiert: als Differenz zwischen dem Gefühl und der Wirklichkeit.

Die poetologischen Metareflexionen, die sich in den Künstlergesprächen zwischen Tom und seinem Freund immer wieder eingestreut finden, funktionieren erstaunlich gut. Etwa wenn Komponist Bernard sein titelgebendes Stück „Sterben“ selbst für „Scheiße“ hält, von seinen Musikern jedoch die Bestätigung dieses Urteils erwartet. Nach mehreren Aufforderungen traut sich endlich jemand zu sagen, dass das Lied zwar „nett, aber viel zu lang“ sei. Darüber hinaus ist ein ganzes Filmkapitel mit „Der schmale Grat“ überschrieben, den Bernard ausführlich als Balance zwischen der Anbiederung ans Massenpublikum und dem Beharren auf den eigenen unverständlichen Ideen beschreibt.

Natürlich fragt man sich in all diesen Momenten, ob „Sterben“ selbst gelingt, was die beiden Künstler da versuchen, ob „Sterben“ zu lang ist, Kitsch ist, zu viel Offensichtliches auserklärt. Und dann, ob er diese Fehler extra begeht, um witzig zu sein, wenn er sich später selbst des eigenen Fehlers überführt. Doch seine stärksten Momente erlebt das Drama da, wo wenig oder gar nicht geschlaumeiert wird, etwa bei einem Gespräch zwischen Tom und Lissy am Küchentisch nach dem Tod des Vaters, in dem beide einander gestehen, sich nicht zu lieben, die Mutter den Sohn nicht, der Sohn die Mutter nicht.

Ellens konventionellerer Erzählstrang, der aus Suff-Rausch-Nächten mit ihrer Affäre, einem verheirateten Zahnarzt, besteht, überzeugt weniger als die Momente der Ruhe, in denen Tom vor Türen steht und sich fragt, ob er eintreten soll, ob andere wollen würden, dass er eintritt. Seine Affäre (Saskia Rosendahl) vergleicht ihn einmal mit einem geköpften Huhn, das wild herumläuft und nicht weiß, was es eigentlich will. Ist es das, wie Sterben klingt? Wie ein geköpftes Huhn, wie ein röchelnder Greis im Krankenhausbett, wie ein langsames Cellosolo? „Sterben“ führt uns durch die verschiedenen Variationen dieses Akts.

Sonntag, 18. Februar, 16:43 Uhr – Warum werden die Filme immer länger?

Eine dreistündige Filmdauer ist keineswegs amerikanischen Großproduktionen über Atombomben vorbehalten. Sondern auch deutsche Reflexionen auf das Sterben besitzen das Selbstbewusstsein, ihre Zuschauer länger in den Kinosessel zu bannen als es jedes Uni-Seminar aus wissenschaftlich nachgewiesenen Konzentrationsgründen je wagen würde. So feiert heute Abend Matthias Glasners dreistündiges Familiendrama „Sterben“ Premiere, über das ich an dieser Stelle berichten werde. Man kann nur vermuten, dass das Sterben als Übung in Geduld und Bescheidenheit vorgestellt werden soll, und Filmeschauen als Training dieser Fähigkeit.

Doch auch Dimitris Athiridis’ in der Rubrik „Berlinale Special“ gezeigter Documenta-Dokumentarfilm „exergue – on Documenta 14“ dauert ganze 14 Stunden, er wird in zwei Teilen mit jeweils einer Pause gezeigt. Was man in diesen 14 Stunden wertvoller Festival-Zeit alles tun könnte! Man könnte fünf Filme sehen, auf acht Empfänge gehen, sieben Partys besuchen, endlich einmal alle im Pressecenter ausliegenden Branchenmagazine und Feuilletons lesen, sechs Interviews mit Hollywoodgrößen führen, acht Rezensionen schreiben, ausführlichen Austausch über die gesehenen Filme pflegen, 14 Stunden am roten Teppich stehen und Outfits analysieren, oder einfach mal ausschlafen, um zur Abwechslung ein paar Tage lang nicht wie ein „geköpftes Huhn“ über den Potsdamer Platz zu laufen, wie die von Lars Eidinger gespielte Hauptfigur in „Sterben“ von ihrer Affäre beschrieben wird.

Wenn selbst Fußballspiele ihren treusten Fans keine Dauer, die die vernünftigen 90 Minuten überschreitet, zumuten, warum meinen dann gerade Filmemacher ihre Zuschauer in Zeiten immer kürzer werdender TikTok-Clips mit unerhörten Übermaßen verschrecken zu müssen?

Aber entscheiden Sie gerne mit, liebe Leserinnern und Leser! Wünschen Sie sich von mir eine Rezension des 14-Stunden-Films? Bevorzugen Sie in diesem Liveticker insgesamt mehr Filmbesprechungen oder lesen Sie lieber Promi-Klatsch und -Tratsch? Und haben Sie selbst schon den ein oder anderen Film auf der Berlinale gesehen? Falls ja, wie hat er Ihnen gefallen? Ich freue mich auf Ihre Rückmeldungen in den Kommentaren.

Sonntag, 18. Februar, 00:05 Uhr – Zwei Holocaust-Filme, „In Liebe, Eure Hilde“ und „Treasure“

Wie man mit dem Nationalsozialismus umgehen soll, fragen sich in diesen Tagen zwei Filme. Der eine, Andreas Dresens Widerstandsmelodrama „In Liebe, Eure Hilde“, fragt es aus der Perspektive der jungen Hilde (Liv Lisa Fries), die sich in einen Widerstandskämpfer verliebt und auf diese Weise zufällig Teil seiner Clique wird, wofür sie am Ende hingerichtet wird. Der Wettbewerbsfilm, der zwischen Rückblenden in die Zeit vor der Gefangenschaft und Darstellungen der Gegenwart im Gefängnis hin und her wechselt, setzt auf alle Gewichte, die eine Tränendrüse aushalten kann: da ist Sex, Liebe, Betrug, eine Schwangerschaft, eine Geburt, Tod, Verrat, Zusammenhalt und Vergebung. Doch weder ästhetisch noch inhaltlich gelingt es Dresen, neue Akzente zu setzen.

Rebellisches Liebespaar: Szene aus „In Liebe, Eure Hilde“

Rebellisches Liebespaar: Szene aus „In Liebe, Eure Hilde“

Quelle: Frederic Batier / Pandora Film

Und dann ist da noch Julia von Heinz’ Vater-Tochter-Komödie „Treasure“. Sie stellt die Frage nach dem Umgang aus der Perspektive überlebender New Yorker Juden, die einen Familienausflug nach Polen unternehmen, um dort das Haus zu besuchen, das ihnen 1940 weggenommen wurde, und wo jetzt andere leben, sowie Auschwitz-Birkenau, wo sie fast alle Familienmitglieder verloren haben, und wo sie jetzt eine exklusive Führung erhalten. Die Berlinale-Entscheidung, das fantastische Aufarbeitungsdrama nicht im Wettbewerb, sondern lediglich in der Rubrik „Berlinale Special“ laufen zu lassen, ist unbegreiflich.

Seit „Toni Erdmann“ hat man keine so himmlische Vater-Tochter-Beziehung (oder „Tochter-Vater“-Beziehung, wie es Vater Edek nennt) mehr gesehen. Niemand kann so privilegiert-kotzbrockig nerven und gleichzeitig eine so erschütternde Verletzlichkeit offenbaren wie Lena Dunham, „Girls“-Schöpferin und Millennial-Ikone, die die 36-jährige Tochter Ruth spielt. Auch mit Stephen Fry ist Vater Edek, der seinem Trauma als einziger Auschwitz-Überlebender seiner Familie eine Heiterkeit und Lebenslust entgegensetzt, ideal besetzt.

Vater (Stephen Fry) und Tochter (Lena Dunham) in „Treasure“

Vater (Stephen Fry) und Tochter (Lena Dunham) in „Treasure“

Quelle: Anne Wilk

Beim Anblick des von Ruth in Polen gebuchten Zuges heuert Edek lieber einen privaten Taxi-Fahrer an, der die beiden während ihrer Reise in die eigene Vergangenheit zwischen Hotel, Konzentrationslager, Chopin-Museum und ehemaligem Wohnhaus herumkutschiert. Ruth ist Musikjournalistin, frisch geschieden, kämpft darüber hinaus mit dem kürzlichen Tod ihrer Mutter, und betreibt Recherchen für ein Buch, das sie vorhat, über die Geschichte ihrer Eltern zu schreiben. Diese haben nie von dem, was ihnen widerfahren ist, erzählt, aber die Ahnung, dass es Schreckliches gewesen sein muss, hat Ruth seit ihrer frühen Kindheit nicht verlassen.

Heinz’ leichter und zugleich angemessen schwerer Ton verdankt sich der reduzierten Bildsprache, die auf Rückblenden und andere Experimente zugunsten einer fesselnden Intensität verzichtet. Irgendwann steht das ungleiche Vater-Tochter-Gespann, das sich gegenseitig annähert und wieder abstößt, im ehemaligen Familienhaus Edeks. Und da bricht auch die Fassade des Bonvivants, der den Trip bislang eher für Unterhaltungszwecke und „den Sex“ nutzte. Denn er sieht die Couch, das Porzellangeschirr, die Glasschale seiner Eltern.

Während „In Liebe, Eure Hilde“ private Dramen ausschlachtet, um der politischen Schreckherrschaft Vehemenz zu verleihen, und dabei nie wegschaut (nicht beim Sex, nicht beim Geburtsvorgang, nicht beim Schafott), entwickelt „Treasure“ – der ebenfalls nicht nur Holocaust-, sondern zugleich Familien- und sogar Reisefilm ist – seine Themen und Konflikte zurückhaltender und damit umso stärker.

Samstag, 17. Februar, 18:56 – Die Outfits der Stars und ihre Bedeutung

Nachdem die deutsche Schauspielerin Pheline Roggan für ihr „FCK AFD“-Dekolleté genug Aufmerksamkeit erhalten hat, widmen wir uns nun vor der nächsten Filmpremiere kurz denjenigen Outfits, die es eher aus Mode- statt aus Haltungsgründen verdient haben, dass man über sie spricht. Und deren Botschaften so subtil versteckt sind, dass sie einer Exegese bedürfen.

1)

Der deutsche Schauspieler Lars Eidinger

Der deutsche Schauspieler Lars Eidinger

Quelle: Getty Images/Andreas Rentz

Rooney Mara auf der Premiere ihres Films „La Cocina“

Rooney Mara auf der Premiere ihres Films „La Cocina“

Quelle: Getty Images/Andreas Rentz

Die Elevator Boys

Die Elevator Boys

Quelle: Getty Images/Andreas Rentz

Seit Ken in „Barbie“ in komplett schwarzem Outfit Musical-Balladen über die Krise der Männlichkeit trällerte, gilt schlichtes Schwarz nicht mehr als französischer Existenzialisten-Look, sondern als ironisches Pendant zum feministisch gewordenen Pink. Dass Lars Eidinger, Rooney Mara und sogar einige der Elevator Boys ihr Schwarz so weitschweifig fallend und körperunbetont tragen, geht jedoch nicht auf Kens Kappe, sondern ist womöglich als Anspielung auf die dunkle Weite des Kinosaals zu verstehen.

2.)

Jessica Henwick spielt in „Cuckoo“ die Stiefmutter

Jessica Henwick spielt in „Cuckoo“ die Stiefmutter

Quelle: Getty Images/Andreas Rentz

Jessica Henwick aus dem weiter unten besprochenen Horrortrip „Cockoo“ erscheint in einem Stoff, der aus auf der Zunge geschmolzenem Popcorn gewebt zu sein scheint.

3.)

Das deutsche Model Toni Garrn

Das deutsche Model Toni Garrn

Quelle: Getty Images/Andreas Rentz

Das Model Toni Garrn beschritt den roten Teppich in einem H&M-Kleid, das strahlte wie die Sonne, die nun doch immer mal wieder durch die Berliner Wolkenfront blitzt – mehr jedenfalls als auf der Leinwand, wo es dieses Jahr auffällig häufig schneit. Lediglich im Wettbewerbsfilm „In Liebe, Eure Hilde“ darf die zu Tode verurteilte Widerstandskämpferin für einige lange Sekunden den Kopf in die Sonne strecken, bevor das Schafott darüber niedergeht. Effektvoll, aber hat man schon oft gesehen. Beides – den endgültigen Abschied von der Sonne (etwa in „Sophie Scholl – Die letzten Tage“) sowie Garrns Kleid.

4.)

Die deutsche Schauspielerin Heike Makatsch

Die deutsche Schauspielerin Heike Makatsch

Quelle: Getty Images/Andreas Rentz

Liv Lisa Fries spielt in „In Liebe, Eure Hilde“ die Hauptrolle

Liv Lisa Fries spielt in „In Liebe, Eure Hilde“ die Hauptrolle

Quelle: Getty Images/Andreas Rentz

Sympathiepunkte gibt es für Heike Makatschs verlässliche Gute-Laune-Ausstrahlung und Liv Lisa Fries’ lässige Friedensgeste mit zwei Fingern jeder Hand. Symbolpolitik auf die traditionelle Art.

5.)

Die deutsche Influencerin Caro Daur

Die deutsche Influencerin Caro Daur

Quelle: Getty Images/Andreas Rentz

Anders als als Generationen- und vielmehr noch als Influencerverwirrung kann man sich den Trend, unter einem Blazer lediglich einen BH zu tragen, nicht erklären. Oder handelt es sich um eine subversive Umkehr des angeblich feministischen BH-Verzichts unter durchsichtigen Oberteilen?

Sina Martens aus dem Film „In Liebe, Eure Hilde“

Sina Martens aus dem Film „In Liebe, Eure Hilde“

Quelle: Getty Images/Andreas Rentz

Auch den Beweis, dass man den BH auch gleich über dem Kleid tragen kann, bleibt uns die Berlinale mit der Garderobe von Schauspielerin Sina Martens nicht schuldig.

6.)

„Treasure“-Star Lena Dunham

„Treasure“-Star Lena Dunham

Quelle: Getty Images/Sebastian Reuter

Der Körper der Millennialikone und „Girls“-Schöpferin Lena Dunham ist mit weißen Schleifen übersät. Damit unterstützt die Hauptdarstellerin aus „Treasure“ die sogenannte „White Ribbon Kampagne“, die sich gegen häusliche Gewalt gegen Frauen einsetzt.

7.)

Jury-Präsidentin Lupita Nyong‘o

Jury-Präsidentin Lupita Nyong’o

Quelle: Getty Images/Maja Hitij

Je nachdem, aus welcher Perspektive man das Kleid der Jury-Präsidentin und 2014 vom „People“-Magazin zur schönsten Frau der Welt gekürten Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o betrachtet, schimmert es mal weiß, dann wieder violett und manchmal driftet es ins rosa-grau ab. Was uns daran erinnert, dass auch Filme immer anders wirken, je nachdem, aus welchem Blickwinkel wir sie anschauen.

Samstag, 17. Februar, 11:44 – „Cuckoo“ gleicht einem extravaganten Drogentrip

„Cuckoo“ ist einer dieser Filme, bei dem man sich einige Tage später fragt, ob man ihn wirklich gesehen hat, oder ob die langen Berlinale-Partys und der nach vier Filmen pro Tag zwischen 8:45 Uhr und Mitternacht sich langsam bemerkbar machende Schlafentzug verantwortlich sind für die Science-Fiction-Horror-Action-Splatter-Fantasien, die einen heimsuchen. So wie Gretchen, herrlich zurückhaltend gespielt von „Euphoria“-Star Hunter Schafer, nach ihrem Umzug in die Alpen zu ihrem Vater und seiner neuen Familie immer wieder verfolgt wird von einer unheimlichen Frau, die ihr an den Kragen will.

Fühlt sich verfolgt: Hunter Schafer in „Cuckoo“

Fühlt sich verfolgt: Hunter Schafer in „Cuckoo“

Quelle: NEON

Der deutsche Regisseur Tilman Singer zeigt keine Scham, den Regler der Horror-Genre-Konventionen ins Extrem auf- und zu überdrehen. Das mag nicht jedermanns Geschmack sein und auch die extravagante Auflösung der Verschwörung am Ende wirkt überspannt, aber als effektreicher Drogentrip mit erfrischendem Appell an die Schwesterlichkeit hat „Cuckoo“ das Herz am rechten Fleck.

Freitag, 16. Februar, 21:20 Uhr – „A Different Man“ stellt heikle Fragen

Identitätsdebatten darüber, wer über wen schreiben, wer wen beurteilen und wer wen spielen darf, haben es zum Glück aus den Panel-Diskussionen und Social-Media-Echoräumen hinaus auf die Theaterbühnen und Filmleinwände geschafft. Bald kommt die für den besten Film mit einem Oscar nominierte amerikanische Komödie „American Fiction“ ins Kino, die von einem schwarzen Autor handelt, dessen Romane seinem Publikum „nicht schwarz genug“ sind.

Und auch der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „A Different Man“ findet einen originellen Dreh, um die Frage nach den Grenzen menschlichen Einfühlungsvermögens zu stellen. Die Thriller-Komödie von Aaron Schimberg, der selbst Gesichtsdeformationen aufweist, handelt von Edward (Sebastian Stan), einem im Gesicht stark entstellten Mann, der eines Tages durch ein Wundermittel von seiner „Behinderung“ geheilt wird. Plötzlich interessieren sich die Frauen für ihn, er wird erfolgreicher Immobilienmakler, kann sich eine helle, saubere Wohnung leisten.

Sebastian Stan, Renate Reinsve und Adam Pearson

Sebastian Stan, Renate Reinsve und Adam Pearson

Quelle: Faces Off LLC

Doch dann trifft er seine ehemalige Nachbarin, die Drehbuchautorin Ingrid (Renate Reinsve, „The Worst Person in the World“) wieder, die einzige Frau, die sich auch damals schon nicht von seiner Hässlichkeit abschrecken ließ. Er spricht für eine Rolle in ihrem Stück vor, die Rolle des Edward – seine Rolle, die Rolle eines Deformierten, eines von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Die „Rolle seines Lebens“, wie es an mehreren Stellen heißt.

Edward, den Ingrid für tot hält, da er nach seiner Transformation untergetaucht ist und ein neues Leben begonnen hat, will sich selbst spielen. Doch kann ein gesunder Mensch einen Kranken spielen? Ein Schöner einen Hässlichen? Oder sollte Ingrid nicht besser eine Person für die Rolle finden, die keine aufwendige Maske benötigt, sondern von Natur aus das geeignete Aussehen aufweist? Als hätte er ihre Zweifel erhört, taucht plötzlich Oswald (Adam Pearson) im Probenraum auf. Und stellt alles auf den Kopf – auch den Film, den wir bis zu diesem Zeitpunkt meinen, gesehen zu haben. Und unsere Haltung dazu.

„A Different Man“ ist kein perfekter Film, er hat Schwächen, was das Tempo angeht, die Motivierung, die Fokussierung, die pure Erzählmasse (ab der zweiten Hälfte reiht sich Wendepunkt an Wendepunkt). Aber er liefert Diskussionsstoff. Und als Meta-Kommentar zu vielen Debatten, die sich in den nächsten Festival-Tagen stellen dürften, taugt er allemal.

Freitag, 16. Februar, 17:41 Uhr – Der iranische Wettbewerbsbeitrag „My Favourite Cake“ ist ein Meisterwerk

Die iranischen Regisseure Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, deren Film „My Favourite Cake“ (Original: “Kexke mahboobe man”) im Wettbewerb läuft, durften wegen eines Reiseverbots nicht nach Berlin kommen. Ihnen wurden die Pässe abgenommen. Auch die Forderungen der Berlinale-Geschäftsführung, die Regisseure zum Festival reisen zu lassen, blieben wirkungslos. Die Premiere musste nun ohne sie auskommen. Das ist schade, denn um Aufmerksamkeit auf diesen wirklich großartigen Film zu lenken, hätte es den Ausreise-Skandal gar nicht gebraucht.

Die poetische Meditation des einfachen Lebens handelt von der 70-jährigen Witwe Mahin (Lily Farhadpour), die seit Jahren alleine in Teheran lebt. Ihre Tochter hat den Iran vor Jahrzehnten verlassen, seitdem verbringt Mahin die Tage oft alleine. Nur selten trifft sie Freundinnen, das Treppensteigen, die langen Fahrtwege, all die Gebrechlichkeiten des Alters setzen ihr mehr und mehr zu. Abends strickt sie, während sie sich Liebesschnulzen im Fernsehen ansieht, und wenn sie irgendwann gegen mittags aufwacht, gießt sie die Pflanzen in ihrem Garten.

Es ist Liebe: Mahin (Lily Farhadpour) und Esmail (Esmail Mehrabi)

Es ist Liebe: Mahin (Lily Farhadpour) und Esmail (Esmail Mehrabi)

Quelle: Hamid Janipour

Doch dann kommt der Tag, an dem sie beschließt, einen Mann zu finden. Sie macht sich auf die Suche, geht dorthin, wo sie ältere Männer erwartet, im Park, im Restaurant. Schnell hat sie sich einen ausgesucht, den sie belauscht, während er zu seinen Kumpels sagt, dass er alleine lebt, ohne Frau. Mahin verfolgt ihn und bittet ihn erst, sie nach Hause zu fahren, dann, hereinzukommen. Was in dieser unverhofften Date-Nacht zwischen Mahin und Esmail (Esmail Mehrabi) geschieht, ist so bezaubernd, rührend und erhebend, dass man Weinen möchte vor Glück.

Und doch vergisst man keine Sekunde, dass die Aufforderung einer Fremden, noch in derselben Nacht mit in ein fremdes Haus in eine fremde Gegend zu kommen, eigentlich aus dem Horrorgenre stammt. So wartet man mit jedem Satz, jedem neuen Einfall, den die beiden für ihr plötzliches Beisammensein haben, darauf, dass etwas einbricht, dass das Böse Einzug in das heile Idyll erhält, das sich diese Einsamen so provisorisch und liebevoll innerhalb weniger Minuten, Stunden, einer Nacht aufgebaut haben.

Die Schauspieler Esmail Mehrabi (l) und Lily Farhadpour (r) halten ein Foto der Regisseure Maryam Moghaddam (l) und Behtash Sanaeeha (r)

Die Schauspieler Esmail Mehrabi (l) und Lily Farhadpour (r) halten ein Foto der Regisseure Maryam Moghaddam (l) und Behtash Sanaeeha (r)

Quelle: dpa/Soeren Stache

Ohne je ins Kitschige abzudriften, entwirft „My Favourite Cake“ mit einem Gespür für Details einen Mikrokosmos, der ganz unaufdringlich auch die politische Hintergrundsituation im Iran ins persönliche Leben der Rentner einwebt. Der Wein ist verboten und muss heimlich im eigenen Garten angebaut werden, die Nachbarn spionieren, Treffen zwischen Mann und Frau jenseits der Ehe sind unerlaubt, aus dem Hijab hervorragende Haare ein Grund für die Polizei, eine Frau in ihren Wagen zu laden und mit aufs Revier zu nehmen.

„Es ist die schönste Nacht meines Lebens“, sagt Esmail zu Mahin. Mahin spricht von Liebe, da kennen sie sich gerade einmal ein paar Stunden. Und weil beide sich gegenseitig alles geben, ohne Vorsicht, ohne Zurückhaltung, ohne Angst, den Reiz des Unerreichbaren zu zerstören, ahnt man von Anfang an, dass es nicht gut ausgehen kann. Nur so viel kann man sagen, ohne zu viel zu verraten: Der Kuchen aus dem Titel steht am Ende tatsächlich auf dem Tisch. Er wird auch gegessen.

Freitag, 16. Februar, 07:55 Uhr – Der Eröffnungsfilm „Small Things Like These“ ist so trist wie Berlin im Februar

Festival-Eröffnungsfilme sind bekanntlich selten gut. Literatur-Verfilmungen sind es noch seltener. Und wenn es sich dann auch noch um eine solch triste Angelegenheit wie die Darstellung der Zustände in den irischen Magdalenen-Wäschereien im Jahr 1985 handelt, wo junge Frauen ohne Bezahlung Wäsche waschen mussten, während ihnen ihre Neugeborenen weggenommen wurden, dann ist kein euphorisierender Berlinale-Auftakt zu erwarten.

Doch Tim Mielants irisch-belgisches Drama „Small Things Like These“ („Kleine Dinge wie diese“), der auf Claire Keegans gleichnamigem Roman basiert, fügt sich sogar noch besser ins triste Februar-Berlin ein, als man nach all diesen Andeutungen ohnehin ahnen durfte. Wo der für „Oppenheimer“ oscarnominierte Hauptdarsteller Cillian Murphy in dem Atombomben-Biopic wenigstens noch einen handfesten Grund hatte, depressiv durchs Bild zu laufen – die Auslöschung der Menschheit war plötzlich bedrohlich nah –, verlangt einem das distanzierte Wäscherei-Drama, das zum Großteil aus Nahaufnahmen von Murphys sonnengegerbtem, leidgeprägtem Arbeiter-Intellektuellen-Gesicht besteht, schon einiges ab.

Als Kohlenhändler Bill Furlong versorgt er seine Frau (Eileen Walsh) und fünf Töchter, das Geld ist ständig knapp, seine Hände wäscht er abends minutenlang, bis er den Dreck aus jeder Falte losgeworden ist. Trotzdem herrscht Heiterkeit im Haus, schiefe Cellomusik, Neckereien unter Schwestern, erwünschte Geschenke – wäre da nicht Furlongs Schmerz, sein Schweigen, seine Unsicherheit, ob es ihm und seiner Familie gut gehen darf, während da draußen, in gar nicht weiter Entfernung, die Nonnen, die ihn bezahlen, junge Mädchen quälen.

Cillian Murphy in „Small Things Like These“

Cillian Murphy in „Small Things Like These“

Quelle: Shane O’Connor

Als sich eine fremde Wäscherin an sein Bein wirft und ihn anbettelt, sie hier wegzubringen, kann er dem Rat von Frau und Freunden, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern und schlafende Hunde besser nicht zu wecken, nicht länger folgen. „Was, wenn es unsere Mädchen wären?“, fragt Furlong eines Abends im Bett seine Frau. „Aber genau das ist der Punkt, es sind nicht unsere Mädchen“, entgegnet diese, ängstlich darauf bedacht, das wenige Glück, das ihnen gegönnt ist, zusammenzuhalten.

Emily Watson (Oscar-Nominierte für „Breaking the Waves“) brilliert als boshafte Oberschwester, die nicht nur ihren Untergebenen, sondern auch Furlong das Blut in den Adern gefrieren lässt. Mit ihr steht schon bei der Berlinale-Eröffnung eine ernstzunehmende Kandidatin für den Silbernen Bären für die beste Schauspielleistung in einer Nebenrolle fest.

Aber, was will „Small Things Like These“? Handelt es sich um einen Historienfilm über einen verdrängten Abschnitt der irischen Geschichte? Oder um einen feministischen Fingerzeig auf geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten, die noch gar nicht so lange zurückliegen? Für beide Interpretationen hätte die Perspektive der Wäscherinnen eine größere Rolle jenseits des Bettelns um Befreiung und des Zusammengekauert-in-der-Ecke-Liegens einnehmen müssen.

Vielmehr bemüht sich Mielant um die Perspektive des außenstehenden Helfers. Das sogenannte „Ally“-Prinzip (dt.: „Verbündeter“) ermöglicht es, im Einklang mit identitätspolitischen Diskursen über Sichtweisen zu berichten, die den eigenen Erfahrungshorizont überschreiten. So nahm bereits Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ über die Verbrechen gegen den Osage-Stamm eher Ernest Burkharts Perspektive ein als die seiner indigenen Frau Mollie. Und Lars Kraumes im vergangenen Jahr auf der Berlinale gezeigter Film „Der vermessene Mensch“ erzählte den Völkermord der Deutschen an den Herero und Nama aus der Perspektive eines deutschen Wissenschaftlers. Letztere beiden Filme lassen den Protagonisten unangenehm zwischen Helfer und Täter changieren, eine spannende Ambivalenz, die „Small Things Like These“ zugunsten der reinen Retter-Perspektive auflöst.

Donnerstag, 15. Februar, 20:50 Uhr – Claudia Roth erntet Applaus für eindrückliche Rede

Im ersten Teil des Gala-Abends versucht das aus Hadnet Tesfai und Jo Schück bestehende Moderationsduo noch, gute Laune zu verbreiten, die Oscar-nominierten Gäste des Abends zu begrüßen (Cillian Murphy, Christian Friedel und Wim Wenders), und aus den Stars positive Aussagen über Berlin herauszulocken. Letzteres gelingt nur mittelmäßig. Befragt, ob er sich über einen Oscar oder einen goldenen Bären mehr freuen würde, antwortet Murphy diplomatisch: „Kann ich beides haben?“ Von Matt Damon will Tesfai wissen, wann er endlich nach Berlin ziehe. „Ich lebe in Brooklyn, aber wenn ich bereit dazu bin, melde ich mich“.

Doch dann beginnt der zweite Teil des Abends, der den eindringlichen Appellen gewidmet ist. Den Anfang macht die Berlinale-Geschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek, die an den andauernden Krieg im Nahen Osten erinnert, an das Leid der Zivilisten in Israel und Gaza, in der Ukraine, im Iran und Sudan, sowie an das Erdbeben in der Türkei. An die Bedrohung im eigenen Land durch rechtsextreme Worte und Taten, die unser Zusammenleben immer mehr gefährdeten. „Hass steht nicht auf unserer Gästeliste“, begründet sie abermals ihre Entscheidung, diese Rede nicht vor AfD-Mitgliedern zu halten.

Claudia Roth bei der Berlinale-Eröffnungsgala

Claudia Roth bei der Berlinale-Eröffnungsgala

Quelle: Getty Images/Sebastian Reuter

Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth betritt die Bühne im glitzernden Blumen-Outfit, das in keinem größeren Kontrast zu ihren Worten stehen könnte, die Klarheit und Härte ausdrücken. In ihrer emotionalen Predigt betont Roth sowohl den Schmerz der Israelis, die unter dem „barbarischen Angriff der Hamas-Terroristen auf friedlich lebende Menschen“ bis heute litten. „Bring them home now!“, ruft Roth, mahnt aber gleichzeitig, dass unser Mitgefühl allen Menschen gelten müsse, auch den Zivilisten im Gaza-Streifen. Diese Region brauche eine friedliche Lösung.

74. Berlinale – Die Stars protestieren auf dem roten Teppich

Die 74. Berlinale läuft. 230 Filme aus 80 Ländern werden gezeigt. Die Ein- und dann Ausladung mehrerer AfD-Politiker sorgte bereits im Vorfeld des Filmfestivals für Diskussionen.

Roth zeigt sich darüber hinaus entsetzt über die „Welle der Gewalt gegen jüdische Menschen in unserem Land, die wir täglich auch in Berlin erleben“. Sie spricht von „Feinden der offenen Gesellschaft“, die sich „in Villen an Seen“ träfen und „Hass und Hässlichkeit“ wollten.

Dagegen wirkt Lupita Nyong’os mit strahlendem Lächeln geäußerter Hinweis, die erste Berlinale-Jury-Präsidentin of color zu sein, geradezu sanft und unpolitisch.

Donnerstag, 15. Februar, 19:20 Uhr – Erste Proteste auf dem roten Teppich

Kaum ist der rote Teppich ausgerollt, wird er zum Protest genutzt. Nach dem Eklat um die Ein- und spätere Ausladung einiger AfD-Vertreter zur Berlinale-Eröffnungsgala mit der anschließenden Präsentation des Eröffnungsfilms „Small Things Like These“, haben nun rund 50 Filmemacher am Donnerstagabend das Rampenlicht genutzt, um die Ausladungspolitik der Berlinale öffentlich zu begrüßen. „Verteidigt die Demokratie“, rufen Schauspieler wie Jella Haase, während sie ihre Handys wie Kerzen in den Himmel halten.

Filmschaffende bilden eine Menschenkette

Händchenhalten für die Demokratie

Quelle: Getty Images/Sebastian Reuter

Andere setzen ihre Zeichen eher leiser, dafür aber umso greller. Die deutsche Schauspielerin Pheline Roggan trägt eine silberglänzende Kette mit dem Schriftzug „FCK AFD“, der fast ihr gesamtes Dekolleté bedeckt. Die dänische Produzentin Katrin Pors hat sich auf den Rücken ihres schwarzen Kleides ein Banner mit der Aufschrift „Ceasefire Now!“ geklebt. Auch die Lass-Brüder, die jährlich eine Berlinale-Party organisieren, haben diese bereits in ihrer Einladung unter das Motto „No Guestlist, No Bullshit, No AfD“ gestellt.

Pheline Roggan auf dem roten Teppich

Pheline Roggan auf dem roten Teppich

Quelle: Getty Images/Sebastian Reuter

Dass die Berlinale zu den politischsten Festivals der Welt gehört, hört man an diesem Tag immer wieder – manchmal klingt es wie ein Lob, viel öfter aber wie eine Kritik.

Donnerstag, 15. Februar, 16:00 Uhr – Herzlich willkommen!

Liebe Leserinnen und Leser, Festival-Besucher, Film-Fans, Berlinale-Hasser, Promi-Interessierte, Gleichgültige und Gebannte, willkommen zum neuen Liveticker der WELT zu den 74. Internationalen Filmfestspielen Berlin. Hier werde ich die nächsten Tage in regelmäßigen Abständen berichten, was sich im und um den Berlinale Palast abspielt – welche Dramen, Höhepunkte, Romanzen und Skandale zu beobachten sind.

Warum, fragen Sie? Hat sich die Berlinale nicht längst in die Belanglosigkeit manövriert, da sie sich zwar über die Ungerechtigkeiten der Welt empören kann, wie mein Kollege Hanns-Georg Rodek berichtete, aber keine großen Namen mehr im Februar ins regennasse Berlin zu bringen weiß? Hat sie sich mit ihrer wankelmütigen Ein-/Ausladungspolitik von AfD-Vertretern zur Eröffnungsgala nicht selbst diskreditiert? Und wer irrt gerne durch die deutsche Hauptstadt, die ihre Spielstätten bis in die hintersten Ecken verteilt, wenn man nur wenige Monate warten muss, um bei Sonnenschein in Cannes die größten Filme des Jahres zu sehen (zur Cannes-Ernte 2023 gehörten unter anderem „Killers of the Flower Moon“, „Anatomie eines Falls“ und „The Zone of Interest“)?

WELT-Autorin und Berlinale-Reporterin Marie-Luise Goldmann

WELT-Berlinale-Reporterin Marie-Luise Goldmann

Quelle: Martin U. K. Lengemann/WELT

Doch ganz so schlimm ist es nicht um eines der größten Filmfestivals der Welt bestellt. Die Verteilung der Filme auf Programmkinos und Spielstätten in der ganzen Stadt lässt die Berlinale im Vergleich zu anderen Festivals als Publikumsmagnet erstrahlen, statt lediglich Presse und Prominente unter einem Dach zu versammeln. Zwar sind dieses Jahr kaum berühmte Regisseure vertreten und auch keine Taylor Swift, die jede noch so kränkelnde Veranstaltung aus der Misere holt. Dafür wird aber an Schauspiel-Prominenz nicht gespart. Kristen Stewart, Cillian Murphy, Martin Scorsese, Lena Dunham und Carey Mulligan werden über die Leinwand und den roten Teppich stolzieren.

Martin Scorsese wird den Ehrenbären entgegennehmen. Und höchstwahrscheinlich wird wieder der ein oder andere Film-Diamant dabei sein – die Jury unter der neuen Vorsitzenden Lupita Nyong‘o müsste ihn nur erkennen. Schließlich hat im vergangenen Jahr „Sur L‘Adamant“, ein Dokumentarfilm, den kaum jemand gesehen hat, gegen „Past Lives“, einen nun zweifach Oscar-nominierten Publikumsliebling gewonnen.

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So wie auch schon im vergangenen Jahr die deutschen Beiträge mit am meisten überzeugten („Sonne und Beton“, „Roter Himmel“, „Der vermessene Mensch“ sowie der Oscar-Kandidat „Das Lehrerzimmer“), klingen auch dieses Jahr wieder die deutschen Filme oder jene unter deutschsprachiger Regie am vielversprechendsten. Da ist Matthias Glasners Wettbewerbsbeitrag „Sterben“ mit Lars Eidinger, Corinna Harfouch und Lilith Stangenberg sowie Andreas Dresens ebenfalls im Wettbewerb laufendes Widerstandsdrama „In Liebe, Eure Hilde“ mit Liv Lisa Fries. Julia von Heinz hat Millennial-Ikone Lena Dunham für ihren Holocaust-Film „Treasure“ gewinnen können, in Nora Fingscheidts Befreiungsfilm „The Outrun“ spielt die vierfach Oscar-nominierte Saoirse Ronan mit, und Tilman Singers Verschwörungsgeschichte „Cuckoo“ kann mit „Euphoria“-Darstellerin Hunter Schafer glänzen.

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