Wladimir Putin: Prigoschin-Gate verrät, was die russische High Society von ihm hält

Satan, Niete, Liliputaner mit Komplexen: In einem abgehörten Telefonat lassen zwei Männer aus den russischen Eliten eine Kaskade aus Schimpfwörtern über Wladimir Putin ergehen. Der Leak lässt tief hinter die Fassade der High Society Russlands blicken – und stellt den Kreml vor ein Dilemma.

Prigoschin ist der Name des Mannes, der in der vergangenen Woche Russland in Aufregung versetzte. Nein, die Rede ist nicht von Jewgeni Prigoschin, dem berüchtigten Chef der Söldnertruppe Wagner. Zum Hauptakteur eines großen Skandals wurde dieses Mal Iosif Prigoschin, ein bekannter Musikproduzent und Ehemann der nicht minder beliebten Sängerin Valeria. Es gab Zeiten, da musste man dem russischen Publikum erklären, wer Jewgeni Prigoschin ist, damit er nicht mit dem Schlagerkönig verwechselt wird. Ein geleaktes Telefongespräch bringt den Star-Produzenten nun in die Bredouille.

Bereits am 7. März war im Netz ein 35-minütiger Mitschnitt eines Gesprächs zwischen Iosif Prigoschin und dem Wirtschaftsmagnaten Farchad Achmedow aufgetaucht. In den Fokus der Aufmerksamkeit rückte das Telefonat aber erst, nachdem große Telegram-Kanäle den Leak verbreiteten. 

Gab es anfangs noch Zweifel daran, ob der Mitschnitt authentisch ist, sind sich alle Experten inzwischen einig: Die Aufnahme muss echt sein. Das sehr spezielle Vokabular, die charakteristische Sprechweise, der Akzent von Achmedow, die genannten Details, die Hintergrundgeräusche – dies alles lasse sich nicht fälschen. Die Aufzeichnung sei echt, zitiert das unabhängige Medium “Waschnije Istorii”, zudem eine russische Geheimdienstquelle. Die FSB-Führung habe befohlen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Iosif Prigoschin versucht Ablenkungs-Manöver 

Zu Beginn des Skandals hatte Prigoschin behauptet, das Gespräch müsse die Schöpfung einer künstlichen Intelligenz sein. “Dieser Stimme hat nichts mit mir zu tun. Das ist ein Fake”, stotterte er in einer ersten Stellungnahme. Wenig später erklärte er im Interview mit der Sankt Petersburger Lokalzeitung “Fontanka”, dass “einige Momente im Gespräch echt sind” und die Stimme der seinen ähnlich sei. “Auch wenn irgendwo Gesprächsmitschnitte existieren könnten, dürfen diese auf keinen Fall öffentlich gemacht werden”, erklärte Prigoschin zudem und versuchte so den Fokus der Diskussion zu verlegen. Dies würde seine Rechte verletzen. 

Doch angesichts des Inhalts des Telefonats, interessiert es in Russland niemanden, ob Prigoschins Persönlichkeitsrechte verletzt worden sind. Mehr als eine halbe Stunde zog er mit seinem Freund, dem Milliardär, über die russische Führung her. Verschont wurde niemand, von Verteidigungsminister Sergej Schoigu bis Ex-Präsident Dmitri Medwedew. Doch die interessanteste Kaskade von Schimpfwörtern richtete sich gegen niemand Geringeren als Wladimir Putin.

Blitz aus heiterem Himmel

Im Fall von Achmedow ist die Wut wenig überraschend. Der Milliardär und ehemalige Senator lebt seit Jahren im Ausland, nachdem er sich einen jahrelangen Streit mit Gazprom geliefert hat. Am Ende wurde der Rechtsstreit mit einer Vergleichsvereinbarung beigelegt: Achmedow musste 51 Prozent seiner Aktien am Gasunternehmen Northgas kostenlos an Gazprom abtreten. 

Im Fall von Prigoschin kommt die vernichtende Kritik an Putin und seiner Regierung jedoch wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der Produzent ist ein fester Bestandteil des Systems Putin. Er gehört zu jenen russischen Eliten, die den Kreml-Chef seit Jahrzehnten an der Macht halten. In der Öffentlichkeit hat Prigoschin stets seine Treue zum Kreml und seinem Chef beteuert. Das abgehörte Telefonat zeigt nun jedoch, was längst alle vermutet haben: Die nach außen demonstrierte Linientreue ist nur eine Fassade – die aus Eigennutz aufrechterhalten wird. Dahinter herrscht jedoch Verständnis, wohin Putin und seine Getreuen Russland gesteuert haben. 

“Sie sind absolute Missgeburten”

“Sie haben das ganze Land verschissen. Sie haben alles verschissen”, lautet das Urteil von Achmedow gleich zu Beginn des geleakten Telefonats. “Sie haben das Land verspielt”, pflichtet ihm Prigoschin bei. Gemeint ist vor allem der Machtzirkel, den Putin um sich versammelt hat. “Sie leben wie die Könige. Aber sie sind absolute Missgeburten”, schimpft der Musikproduzent in dem Mittschnitt ungehemmt.  

“Er hat immer erzählt, dass alles keine Rolle spielt. Das Wichtigste sei die Armee. Aber nun zeigt sich, es gibt auch keine Armee”, echauffiert sich Achmedow über den Zerfall in allen Sektoren. “Er” ist Putin. Auch wenn der Name in dem Gespräch kein einziges Mal fällt, gibt es keine Zweifel daran, von wem die Rede ist.

Um den Zerfall der Armee zu erklären, hätten sich nun der Vorstandsvorsitzende der staatlichen Ölgesellschaft Rosneft Igor Setschin, der Außenminister Sergej Lawrow und der Chef der Nationalgarde Russlands Wiktor Solotow verbündet, meint Prigoschin. Die drei Männer aus dem engsten Kreis Putins würden die Schuld dem Verteidigungsminister Sergej Schoigu in die Schuhe schieben wollen. “Sie nennen ihn hinter seinem Rücken Schwanzlutscher. Sie haben sich zum Ziel gesetzt, ihn zu stürzen, verfickt.”

Das russische Wort “blyat”, das sich nur grob als “verfickt” übersetzten lässt, fällt in dem Gespräch insgesamt 157 Mal. Im russischen Jargon ist es ein beliebtes Füllwort, doch Prigoschin und Achmedow benutzen es in einmaliger Ekstase. 

“Der Präsident wird sich für all das verantworten”

“Die sind alle zu nichts gebrauchen. Sie sind nutzlos, unfähig, dumm, ungeeignet”, setzt Achmedow die Schimpftirade fort. “Siehst du, was er gemacht hat?”, wirft Prigoschin in Anspielung auf Putin ein. “Er hat sie wie auf dem Schachbrett gegeneinander aufgestellt, um sich selbst zu retten.”

Farhad ist sich aber sicher: “Er wird sich nicht retten. Er ist für alles verantwortlich. Wir haben eine Republik, eine Föderation, einen Präsidialstaat. Der Präsident wird sich für all das verantworten. Für alles. Man wird ihn zu Rechenschaft ziehen.” Dabei wird Putin als Präsident zum ersten Mal konkret erwähnt. “Sie haben alles verspielt: uns, die Zukunft unserer Kinder, ihr Schicksal.” 

“Aber was kommt nach ihnen?”, fragt der Milliardär und gibt sich selbst die Antwort: Kadyrow-Getreue und Prigoschin-Söldner. Die einen mit Dolchen, die anderen mit Vorschlaghämmern in den Händen. 

Schimpftirade gegen Wladimir Putin 

“Wenn wir ehrlich sind, sind sie alle Verbrecher”, erklärt Prigoschin an einer Stelle des Gesprächs. “Sie haben verloren, und zwar kreativ gegen den 95. Wohnblock.” gemeint ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der 2003 ein Medien-Produktionsfirma gegründet und sie auf den Namen “Wohnblock 95” getauft hat. “Sie sagen, er sei in diese Scheiße hineingetrieben worden. Er hat sich selbst hineingetrieben. Ehrlich gesagt, er könnte alles beenden, den Nobelpreis kassieren und sich zum Teufel scheren. Er hat das Land sowieso verspielt, und wir können nirgendwo hin. Wir haben keine Optionen. Die gesamte Nation hat keine Zukunft. Er hat uns alle gefickt”, schimpf Prigoschin gegen Putin. 

“Sie sind alle Missgeburten. Sie werden alle sitzen“, urteilt Achmedow über Putins Eliten. “Sie haben in Saus und Braus gelebt, aber jetzt verachten sie ihn.”

Satan, Niete, Liliputaner mit Komplexen 

“Die Menschen sind zu Zombies verkommen. Er verlässt sich gar nicht auf die Eliten. Die sind ihm absolut egal”, wirft Prigoschin ein. “Ihm sind alle egal. Auch das Volk. Er ist der Satan.” 

“Eine Niete. Eine verdammte Niete”, ergänzt der Milliardär. “Voller Minderwertigkeitskomplexe alle beide. Liliputaner. Alle hassen sie. Die gesamte Elite hasst sie.” Gemeint sind Putin und Dmitri Medwedew, der einst vier Jahre lang den Sitz des Präsidenten für Putin warmhalten durfte. “Die Frage ist nur, wann das Ganze enden wird. Und wie?”, fragt sich Achmedow und ist sich dabei sicher, dass in Russland bald der Faschismus herrschen wird. “Es wird eine militärische Diktatur geben”, warnt er seinen Freund und rät ihm: “Halte dich von ihnen fern. Das alles wird lange dauern. Er wird keinen Schritt rückwärts machen. Er kann aber auch nicht vorwärts. Sie sind wie Kakerlaken in einem Glas, sie werden sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Sie gehen unter. Sie wissen, dass dies das Ende ist.”

Achmedow weint seiner Jacht hinterher

Während die erste Hälfte des Gesprächs vor allem durch die Schimpftirade gegen Putin und seine Eliten, zu denen sich Prigoschin und Achmedow offenbar nicht zählen, bestimmt ist, offenbart die zweite Hälfte die Angst der beiden vor Sanktionen des Westens. Achmedow weint sich bei Prigoschin über die Sanktionen aus, die gegen ihr verhängt wurden. Er könne nicht einmal nach Dubai zu seinem Freund reisen, weil er keine gültige Kreditkarte habe. Sein “Boot“ verrotte derweil irgendwo. Gemeint ist seine Jacht, die unter Arrest steht. “Heute habe ich eine Rechnung auf sieben Millionen bekommen, für die Instandhaltung. Ich werde das nicht bezahlen. Ich kann es nicht benutzen. Nur wegen einer Laune der Deutschen, steht es unter Arrest.” 

Seine Jacht “Luna” ist 115 Meter lang und soll rund 400 Millionen Euro wert sein. Das Schiff liegt im Hamburger Hafen bei Blohm+Voss und darf ihn nicht verlassen. 

Die Sanktionen gegen ihn sind aus der Sicht des Milliardärs, dessen Vermögen auf 1,7 Milliarden Dollar geschätzt wird, nicht gerechtfertigt. “Sie schreiben, dass ich ein Freund Putins bin. Ich habe ihn seit 2008 nicht mehr gesehen. Ich haben 2012 nach einem zwölfjährigen Krieg mit Gazprom alles verkauft und habe Russland verlassen”, erzählt er. “Wenn für dich ein Risiko besteht, unter Sanktionen zu geraten, verkauf alles! Sie wissen alles über uns”, warnt Achmedow seinen Freund, den er mit dem Kosenamen Josja anspricht. Die Immobilien in der Schweiz könne der Musikproduzent behalten. Die in London müsse er aber unbedingt verkaufen, lautet sein eindringlicher Rat.

Wer steckt hinter dem Leak? 

Es sind diese Passagen, die eine Antwort auf die Frage liefern könnten, wer das Telefonat öffentlich gemacht haben könnte. Hinter der Enthüllung könnte Achmedow selbst stecken, vermuten viele Beobachter. Dies könnte sein Versuch sein, den Sanktionen zu entkommen. Ein geleaktes Gespräch wirke im Fall von Achmedow bei weitem glaubhafter als ein öffentliches Statement gegen den Krieg in der Ukraine, so die Argumentation. Bezeichnenderweise schweigt Achmedow beharrlich zu dem Telefonat. Während Prigoschin sich in Erklärungen windet. Er ist noch nicht bereit, Russland zu verlassen: “Wir müssen wenigstens noch ein oder zwei Jahre arbeiten. Gleich alle Brücken abzubrechen, ist nicht möglich”, räumt er in dem Gespräch gegenüber seinem Freund freimütig ein. Es gilt vorzusorgen – für die Zeit nach Putin. 

Dilemma für Wladimir Putin 

Welche Konsequenzen Prigoschin für seine Worte tragen muss, werden die nächsten Wochen zeigen. Noch scheint man im Kreml an einer Strategie zu feilen, die aus dem entstandenen Dilemma führen soll. Bestätigt mach die Authentizität des Telefonats, offenbart man im selben Atemzug zu, was hinter der patriotischen Fassade der russischen Eliten über Putin gedacht und gesagt wird. Auf den Kreml-Chef könnte das einen zu großen Schatten werfen. Doch persönliche Beleidigungen konnte Putin noch nie einfach stehen lassen. Er servierte die Rache gern kalt. 

In Erwartung der Entscheidung im Kreml halten derweil die großen Kreml-Propagandisten die Füße still und die Münder geschlossen. Weder Margarita Simonjan noch Wladimir Solowjow haben bislang ein Wort zu dem Skandal verloren – obwohl die beiden führenden Hetzer sich mit dem größten Vergnügen auf vermeintliche Verräter stürzen. Die Länge ihrer Leine wird die Entscheidung des Kremls offenbaren. 

source site-3