Vaude-Chefin Antje von Dewitz: Nachhaltig ist in Mode

Das Familienunternehmen Vaude ist unter Antje von Dewitz zu einer von Deutschlands führenden Outdoormarken aufgestiegen. Hilft es, auf hohe soziale und ökologische Lieferkettenstandards zu setzen? Ein Besuch in der Firmenzentrale.

Von Markus Wanzeck

Antje von Dewitz mag ihre eigene Branche nicht. 

Wie bitte? 

“Total zu Recht” habe diese einen miesen Ruf bei Menschenrechtlern und Umweltschützern, findet die Vaude-Chefin: “Neunzig Prozent der Textilproduktion findet in Asien statt, unter oft prekären Bedingungen für die Angestellten! Die Textilindustrie leitet weltweit 3500 giftige Chemikalien in Flüsse und Meere! Sie verbraucht mehr als fünf Prozent des weltweiten Frischwassers! Zehn Prozent aller Treibhausgase gehen auf ihr Konto! Wahnsinn, oder?”

Wahnsinn, klar. 

Und ein schöner Gesprächseinstieg. Darauf kann man aufbauen.

Antje von Dewitz, 51, wollte in jüngeren Jahren bei einer Umwelt-NGO arbeiten. Aber dann trat sie eben doch in die Fußstapfen ihres Vaters, der die Outdoor- und Sportbekleidungsfirma Vaude 1974 gegründet hatte, und wurde 2009 Geschäftsführerin. “Ich hatte immer gedacht: Die Wirtschaft rast weltweit in die falsche Richtung. Also war ich gegen die Wirtschaft. Bei Vaude hab ich dann aber gemerkt, dass ich Verantwortung übernehmen und die Richtung ändern kann. Das hat mich begeistert.”

Nun sind solche Bekenntnisse freilich immer mit Vorsicht zu genießen, ebenso die Beschimpfung des eigenen Metiers. Kapitalistische Koketterie, könnte man meinen, ein allzu billiger Trick, um nach dem Rundumschlag gegen die Fehler elegant darauf zu verweisen, warum man es selbst natürlich ganz anders und auf jeden Fall besser zu machen gedenkt, ja vielleicht sogar schon macht.

Ihre Vision ist die vollkommen transparente Lieferkette

Allein, im Fall von Vaude ist exakt dieser Fall durchaus belegt, der etwas andere Weg längst Fakt, und die Selbstverpflichtung, gegen den miesen Ruf der eigenen Branche zu operieren, Firmenphilosophie. Antje von Dewitz lenkt, wirklich wahr, als Wirtschaftskritikerin ein Wirtschaftsunternehmen – und kann die Widersprüche, die darin liegen, sogar erklären. Zuvorderst mit dem Erfolg ihrer Marke, die einen Weg eingeschlagen hat, der kostspielig und risikoreich war und auch hätte scheitern können, aber hohe ökologische und soziale Standards nach sich zog.

Ihre Vision für Vaude, sagt diese von Dewitz, sei: ein Glashaus. “Ein Glashaus, in dem man einfach alles transparent machen kann. Weil alles gut ist, weltweit.” Bis in die letzten Glieder der globalen Lieferkette. Und weil seit Monaten über Lieferkettentransparenz diskutiert wird, nicht nur in Deutschland, aber eben auch hier, über die Abgründe und Vorteile, die Schwierigkeiten und das Konsumentenvertrauen, ist man zum Hauptsitz von Vaude gereist, dörflich gelegen am Ortsrand von Tettnang-Obereisenbach, ein paar Kilometer vom Bodensee entfernt. Um sich davon zu überzeugen, dass es wirklich auch anders geht. Und um zu fragen, warum das denn nicht alle so machen.

Stoffmuster in der Vaude-Zentrale in Tettnang-Obereisenbach am Bodensee

© Isabella Finholdt

Ein kurzer Blick auf die Eckdaten, ehe die Führung beginnt. Mehr als 5000 Artikel führt “Vollsortimenter” Vaude insgesamt, um die 1000 neue Modelle kommen jede Saison. Als Antje von Dewitz vor 15 Jahren übernahm, hatte das Unternehmen knapp 300 Mitarbeitende, heute sind es rund 650. Der Umsatz lag damals bei etwa 50 Millionen Euro, 2022 war er dreimal so hoch.

Zwar lässt auch Vaude aus Kostengründen den Großteil – rund 90 Prozent – seiner Produkte in Asien fertigen, vor allem in Vietnam, Myanmar und Kambodscha. Aber sie sind hier bemüht, die Produktion in diesen Billiglohnländern ohne Ausbeutung von Umwelt und Menschen zu ermöglichen. Wie das geht?

Pascal Erath, Anfang dreißig, schulterlanges Haar, im Lieferantenmanagement tätig, öffnet eine Excel-Tabelle, die “Sektor-Risiken” der Textilbranche zeigt. Viele rote Felder. Rot heißt “hohes Risiko”. Die Felder stehen für Lohn oder Arbeitszeit, für Klima- und Umweltschutz, für Kinderarbeit.

Erath öffnet eine zweite Excel-Tabelle: Wenig Rot. Viel Grün. Bisschen Gelb. Es ist der Blick durch die Vaude-Brille, der die Risiken der Partnerfirmen erkennen lässt.

Wir treten gegenüber den Produzenten nicht mit erhobenem Zeigefinger auf. Schließlich sind wir, die Auftraggeber in Europa, die Wurzel des Übels.

Man sieht: Auch in der Vaude-Lieferkette ist nicht alles grün und gut. Aber anders als viele andere macht die Firma die Makel transparent, auch auf ihrer Website, und kümmert sich darum, Missstände zu minimieren. Zum Beispiel bieten die beiden Produktionspartner in Myanmars Millionenmetropole Yangon ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen kostenlosen Shuttlebus, der sie sicher zur Fabrik und nach Hause bringt; als nach dem Militärputsch abendliche Ausgangssperren verhängt wurden, fuhren die Feierabendbusse entsprechend früher.

“Es gibt einen internen Beschwerdemechanismus in all unseren Partnerfirmen”, erklärt Erath. In Vietnam und China kümmere sich zudem je ein Kollege vor Ort um soziale Belange. Sollte sich keine interne Lösung finden, kämen externe “Beschwerdehändler” von Fair Wear zum Einsatz.

Zertifikate und Label

Pascal Erath ist einer von vier Leuten, die die weltweiten Lieferketten im Blick behalten. Vier nur, bei 5000 Produkten? “Das funktioniert, weil bei uns das Lieferantenmanagement nicht, wie anderswo oft, am Rand des Unternehmens angesiedelt oder ausgelagert ist”, erklärt Susanne Medesi, Leiterin der Abteilung. Gleiches gelte für das Thema Nachhaltigkeit. “Beides ist bei uns vollständig integriert.”

Das hilft, um bei den Partnerfirmen in Asien Gehör zu finden. “Wir können auf Augenhöhe mit den Produzenten sprechen”, sagt Medesi. “Und wir treten ihnen gegenüber nicht mit erhobenem Zeigefinger auf. Schließlich sind wir, die Auftraggeber in Europa, die Wurzel des Übels. Weil wir oft Dinge von den Produzenten verlangen, die gar nicht ohne negative soziale und ökologische Folgen machbar sind.”

Überzeugen statt Marktmacht

Zweite Station der Führung, das Qualitätsmanagement. “Wir sind ein mittelständischer Familienbetrieb”, sagt Bettina Roth, Leiterin der Abteilung. “Über Marktmacht können wir wenig erreichen. Wir müssen überzeugen.” Beispielsweise mit dem Argument, dass faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen für weniger Fluktuation beim Personal sorgen.

Gepa, Fairafric, Hessnatur – weitere Leuchttürme der Branche

Gepa

Die Gepa, die sich selbst “The Fair Trade Company” nennt, ist die größte europäische Importeurin von fair gehandelten Lebensmitteln und Handwerksprodukten aus Ländern des Globalen Südens. Sie wurde 1975 in Wuppertal als “Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt mbH” gegründet. Die Gepa zahlt ihren Produzenten beispielsweise für Kaffee und Tee, Honig und Wein – die außer fair meist auch bio produziert werden –, deutlich mehr als die Fairtrade-Mindestpreise und kauft ihre Ware gezielt bei Kleinbauernorganisationen, die genossenschaftlich organisiert sind. Sie nennt das “fair+”. Die Fairtrade-Vorreiterin hat rund 150 Mitarbeitende in Deutschland und kooperiert mit mehr als 100 Handelspartnern in fast 50 Ländern. Beim Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2014 wurde die Gepa als “Deutschlands nachhaltigste Marke” ausgezeichnet.

Fairafric

Fairafric, ein deutsch-ghanaisches Social Business, 2016 in München gegründet, hat gut 100 Mitarbeitende, produziert seine Schokolade, wo der Kakao wächst: in Ghana. Auf diese Weise lässt es einen größeren Teil der Wertschöpfungskette in das westafrikanische Land und möchte so nach eigenen Angaben die Schokolade “entkolonialisieren”. Während beim Kakao-Kauf durch konventionelle Konzerne pro Tonne lediglich 2350 US-Dollar an Wertschöpfung in Ghana bleiben, rechnet Fairafric vor, seien es bei Fairtrade-zertifiziertem Kakao zwar immerhin rund 3000 Dollar – durch den Fairafric-Ansatz aber ein Vielfaches davon: mehr als 10.000 Dollar. Fairafric zahlt seinen Bäuerinnen und Bauern zusätzlich zum Marktpreis eine Prämie von 600 Dollar je Tonne Kakao, mehr als doppelt so viel wie die Organisation Fairtrade. Für ihre Schokolade verwendet die Firma zudem 100 Prozent Bio-Kakao.

Hessnatur

Ähnlich wie Vaude kritisiert auch das Unternehmen Hessnatur den Wirtschaftszweig, dem es entstammt, mit harschen Worten: “Die Modebranche gilt als die zweitschmutzigste Industrie der Welt.” (Die schmutzigste in der Aufzählung ist die Ölindustrie.) Das 1976 gegründete Versandhaus für Naturtextilien aus dem hessischen Butzbach aber wollte von Anfang an möglichst sauber bleiben (“Unsere Mode war schon Bio, als Bio noch nicht Mode war.”). Heute bestehen die Kollektionen von Hessnatur nach eigenen Angaben zu mehr als 99 Prozent aus Naturfasern, vor allem Bio-Baumwolle, -Hanf und -Leinen. Die Firma legt nicht nur Wert auf umweltfreundliche Kleidung, sondern auch auf einen wertschätzenden Umgang mit den Menschen, die sie herstellen. Das gesamte Sortiment stammt aus fairem Handel. Als erste deutsche Marke ist Hessnatur 2005 der Fair Wear Foundation beigetreten.

Vaude kommt den Partnern entgegen, indem es diesen erlaubt, mehr Waren in der Nebensaison zu produzieren und damit die Fabriken ganzjährig besser auszulasten. Auch Lieferverträge laufen oft über mehrere Jahre, während Konkurrenten aus der Textilbranche jede Saison nach dem billigsten Anbieter Ausschau halten. “Wir haben unser ganzes Einkaufsverhalten geändert”, so Roth.

Bei dem Umstieg auf erneuerbare Energien an asiatischen Produktionsstandorten setzt Vaude zudem, für viele überraschend, auf Kooperation mit der Konkurrenz. Mit neun weiteren Outdoor-Firmen hat man sich zu einer Koalition der Klimaschutzwilligen zusammengeschlossen, um die CO2-Emissionen bei den gemeinsamen Lieferanten zu reduzieren – durch mehr Ökostrom, den Einsatz von Biogas- statt Kohleboilern, auch durch effizientere Färbemaschinen.

Stoffproben, Werkzeuge – das Handwerkszeug der Produkttester

© Isabelle Finholdt

Am Ende steht ein gemeinsamer Gewinn für die zehn Koalitionäre und ihre Lieferanten. Die meisten Investitionen in Energieeffizienz amortisieren sich schnell, manche schon nach drei Jahren. “Das ist auch betriebswirtschaftlich sehr interessant”, so Roth. Denn die Lieferkette besteht aus vielen Gliedern, die Roth aber sämtlich beziffern kann: “Wenn wir von Nähbetrieben sprechen, sind es 48. Bei den Materiallieferanten, die für uns produzieren, sind es gut 150.”

Womit es die Näherinnen in Fernost zu tun haben, zeigt Birte Steinebrunner, Abteilungsleiterin Materialien, in ihrem Archiv unter der Dachschräge des Vaude-Hauptsitzes. Hier hängen an Kleiderbügeln Hunderte Textilmuster. Grautöne. Beigeschattierungen. Regenbogenfarben. Steinebrunner ahnt, was man einwenden will. “Man kann dem Stoff nicht ansehen, ob er nachhaltig oder sozial korrekt produziert wurde”, sagt sie. Wie also stellt Vaude dies sicher?

Zum einen durch gewachsenes Vertrauen zu den Partnerfirmen, denen ebenfalls an einer langfristigen Zusammenarbeit gelegen ist. “Bei manchen Lieferanten haben wir seit 20 Jahren denselben Ansprechpartner”, sagt sie. “Dazu kommen diverse Zertifizierungen. Und immer wieder Stichproben.”

Ein paar Meter nebenan sind Stoffmuster an Holztafeln gepinnt. Die Muster, die oben hängen, sind okay. Die unten sind es nicht. “BMG nicht erfüllt” prangt dort auf einem Zettelchen, “BMG” steht für “brand material goals” und bezeichnet die firmeneigenen Materialvorgaben. Das Ziel bis 2024, zum 50. Firmenjubiläum, war, dass mehr als 50 Prozent der Produktpalette aus recycelten oder biobasierten Materialien bestehen. Hat geklappt. Neues Ziel: 90 Prozent bis 2030.

Monomaterial, ihr großer Trumpf

Abstieg von der Empore, hinunter zum Produktmanagement, vorletzte Station der Führung. Hier geht es um die “Rethink”-Kollektion, mit der Stefan Lörke, der bei Vaude den Bereich Bekleidung verantwortet, “die Grenzen bei der Nachhaltigkeit noch weiter verschieben” will, wie er sagt.

Bei der Kollektion liegt der Recyclinganteil bei annähernd 100 Prozent. Damit ein Rethink-Textil auch am Ende seines Daseins keinen Öko-Kummer bereit, soll es selbst recycelbar und mithin ein Monomaterial-Kleidungsstück sein. Eines, das aus einem einzigen Material gefertigt ist.

Das Material der Wahl ist Polyester. “Polyester allein, das reicht aber noch nicht”, erklärt Lörke. “Alles muss aus PET-Polyester sein. Dann haben alle Bestandteile denselben Schmelzpunkt.” Den passenden Fleecestoff musste Vaude eigens entwickeln lassen.

Schlussetappe, zwei Stockwerke tiefer, quer durch das Lager bis zu einer schweren Tür. Das Testcenter. Die Tür öffnet sich. Vera Schintler, Sachbearbeiterin Qualitätssicherung, bittet herein. “Hier wird getestet, ob die nachhaltigen Materialien auch die funktionalen Vorgaben erfüllen”, erklärt sie. Reißfestigkeit, Wasserdichtigkeit, Luftdurchlässigkeit, Abrieb. Eine ihrer Gehilfinnen: eine Rubbelmaschine, die Textilien intensiver Reibung aussetzt, um deren Anfälligkeit für Knötchenbildung zu testen. Daneben wartet eine nadelbewehrte, rotierende Stahlbox auf ihren Einsatz, in der Jackenstoffe 2000 Umdrehungen – den “Fadenziehertest” – überstehen müssen. Schintler nennt sie “mein kleines Brombeergestrüpp”.

Lieferkettengesetz – das Projekt

Der stern und das freie Autoren- und Fotografenkollektiv Zeitenspiegel Reportagen widmen sich in loser Folge einem der wichtigsten neuen deutschen Wirtschaftsgesetze – dem im Januar 2023 in Kraft getretenen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Was bedeuten die neuen Regeln für deutsche Unternehmen? Was für die Menschen im globalen Süden? Und was für Kunden und Konsumenten? Dieses Projekt wird vom European Journalism Centre finanziert und von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt – die Artikel entstehen ohne redaktionellen Einfluss der Stiftung.

Bei der Qualität, auch beim Pflegeaufwand, könne man der Kundschaft kaum Kompromisse zumuten, erklärt Schintler, Nachhaltigkeit hin oder her: “Was maximal geht, ist eine besondere Waschanleitung bei Hanfmaterial oder hohem Wollanteil.” Dies ist ein Punkt, den auch Antje von Dewitz immer wieder betont: “Es ist nicht so, dass du deine Produkte verkaufst, nur weil sie nachhaltig sind.” Um am Markt zu bestehen, müssten sie außerdem funktional sein, gut designed, die richtige Farbe haben.

Womit man bei der großen, der entscheidenden Frage anlangt: Wenn durch die Lieferkettengesetze in Deutschland und der EU bald auch viele Wettbewerber nachhaltiger werden – verwässert das nicht den Markenkern von Vaude?

“Um Vaude muss man sich keine Sorgen machen”, sagt von Dewitz gelassen. “Wir haben mit unserer Wirtschaftsweise viele planetare Grenzen überschritten. Das Klima erwärmt sich, das 1,5-Grad-Ziel ist nicht mehr erreichbar. Das Artensterben schreitet so rasant voran wie zuletzt zu Zeiten der Dinosaurier. Worum wir uns Sorgen machen sollten, ist, unseren Kindern einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen.”

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