Ukraine-Krieg: Wie wichtig die Gruppe Wagner für Putins Feldzug ist

Will der Kreml feuern und leugnen, ist die Gruppe Wagner stets das Mittel der Wahl. Mit Kriegsbeginn sind Söldner “zu ihren Wurzeln” in die Ukraine zurückgekehrt und hinterlassen eine blutige Spur. Ihr Anführer, “Putins Koch”, gilt als einer der größten Kriegsgewinner.

Acht Monate nach Kriegsbeginn stehen die russischen Truppen mit dem Rücken zur selbstgemalten Grenze, der Verlust der strategisch und symbolisch wichtigen Stadt Cherson ist wohl nur eine Frage der Zeit. Der Kreml dürfte sich das alles anders vorgestellt haben.

Ein Großteil seiner kampferprobten Elitesoldaten hat Russland bereits in den ersten Kriegsmonaten eingebüßt. Die zwangsverpflichteten Nachschubtruppen brauchen fachmännische Unterstützung. Auftritt der berüchtigten Gruppe Wagner – Putins Elitearmee, die es eigentlich gar nicht gibt.

Eine Armee, die nicht existiert

Auf dem Papier existiert die Gruppe Wagner nicht. Die paramilitärische Organisation (PMC: Private Military Company) ist in keinem Land der Welt als Unternehmen registriert. In Russland verstößt das Betreiben einer Söldnerarmee sogar gegen die Verfassung. Um Wagner ranken sich zahlreiche Legenden und Mythen. Ursprünglich hieß es, der heute 51-jährige ehemalige russische Geheimdienst-Offizier Dmitri Utkin sei an ihrer Gründung beteiligt gewesen. Auf ihn geht angeblich auch der Name zurück – als glühender Verehrer des Dritten Reichs soll “Wagner” (in Anspielung auf Hitlers Lieblingskomponisten) einst sein Kampfname gewesen sein.

Laut Nachforschungen des internationalen Recherchenetzwerks “Bellingcat” ist Utkin jedoch kaum mehr als eine “angeheuerte Waffe, um dem Projekt ‘Privatarmee’ eine öffentlichkeitswirksame Legende zu verschaffen”. Als eigentlicher Kopf gilt Kremlgünstling Jewgeni Prigoschin, der ob seiner Rolle als Caterer des Kremls auch “Putins Koch” genannt wird. Erst im September bekannte sich der Oligarch erstmals offiziell als Anführer der Söldnergruppe.

Allerdings handelt es sich bei Wagner keineswegs um eine käufliche Privatstreitkraft. Man müsse die Organisation eher als “einen Vertragsmechanismus für das russische Verteidigungsministerium und den GRU, den russischen militärischen Geheimdienst, betrachten”, so Kimberly Marten von der Columbia University gegenüber dem Nachrichtenportal “Grid”. Oder einfacher gesagt: Will der Kreml militärisch irgendwo auf der Welt mitmischen, aber genau das abstreiten können, ist Wagner das Mittel der Wahl. 

Die Gruppe gilt als Eliteeinheit, da sie sich zum Großteil aus Veteranen und inzwischen wohl auch aus ausländischen Kämpfern zusammensetzt. Den Söldnern, die in mehr als 30 Staaten aktiv sind oder waren (darunter in Syrien, Libyen und Zentralafrika), wurde immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen wie Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Folterungen und Exekutionen vorgeworfen. Wie das US-Forschungsinstitut “Foundation for Defense of Democracies” berichtet, unterhält Wagner zudem indirekte Verbindungen zur nationalistischen “Russischen Imperialen Bewegung”, die paramilitärische Schulungen anbietet und von den USA als Terrorgruppe eingestuft wird.

Wagner in der Ukraine: zurück zu den Wurzeln

Die Ukraine ist für Wagner so etwas wie der “Ground Zero”. Die Schattenarmee spielte für den Kreml bereits bei der Annexion der Krim 2014 eine wichtige Rolle. Wie die BBC berichtet, waren damals nach Angaben des britischen Militärgeheimdienstes ungefähr 1000 ihrer “Söldner” im Einsatz. Im Anschluss diente Wagner dem Kreml als Allzweckwaffe zur Sicherung der eigenen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen – vor allem in Afrika. 

Die Gruppe soll bereits in den Wochen vor Kriegsbeginn an einer Reihe von Anschlägen unter Falscher Flagge in der Ostukraine beteiligt gewesen sein, die Russland ursprünglich einen Vorwand für einen Angriff liefern sollten.

Wenig verwunderlich also, dass die Elitekämpfer schon am (letztlich gescheiterten) Sturm auf Kiew mitmischten. Der Bundesnachrichtendienst geht heute davon aus, dass Wagner-Kämpfer auch an der Ermordung von Zivilisten im Vorort Butscha beteiligt waren. Im Mai wurden drei Wagner-Mitglieder, zwei davon Belarussen, als erste Söldner von der ukrainischen Staatsanwaltschaft wegen Kriegsverbrechen angeklagt. Auch in den folgenden Wochen und Monaten hinterließ Wagner eine blutige Spur. “Die Wagner-Gruppe spielte eine aktive Rolle bei der Einnahme von Städten wie Popasna und Sewerodonezk in Luhansk”, so Samuel Ramani vom Londoner Royal United Services Institute (Rusi) gegenüber der BBC.

In der Ukraine kämpfen sie Seite an Seite mit regulären russischen und pro-russischen Verbänden. Ramani bezeichnet sie als “inoffizielle Einheit der russischen Armee”. Obwohl Wagners Rolle in Putins Feldzug kaum zu leugnen ist, tut der Kreml weiterhin genau das. Praktisch – schließlich muss der Kreml für Soldaten, die gar nicht existieren, auch keinen Totenschein ausstellen. Denn auch Wagner soll massive Verluste erlitten haben. Laut “Forbes” war bereits im April die Rede von 3000 Gefallenen.  



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Der Kampf um Bachmut: “Sie behandeln sie wie Einweg-Soldaten”

Der derzeit prominenteste Einsatzort für Wagner ist wohl Bachmut, etwa 100 Kilometer nördlich von Donezk. Seit mehr als drei Monaten steht die Salzbergbaustadt unter russischem Dauerbeschuss, die Söldner an vorderster Front.

Strategisch geht es hier schon lange um nichts mehr. Man hat jedoch schlicht zu viel geopfert, um jetzt noch umzukehren, meint das “Institute for the Study of War”. Und so lässt Wagner-Chef Prigoschin weiterhin Welle um Welle seiner Elitekämpfer an der ukrainischen Verteidigung zerschellen. “Sie behandeln sie wie Einweg-Soldaten”, sagte ein ukrainischer Soldat in Bachmut gegenüber der “Washington Post”. Für “Putins Koch”, der die Militärführung immer wieder als inkompetent beschimpft hat und unter Hardlinern zunehmendes Ansehen genießt, ist Bachmut eine nicht zu widerstehende Trophäe. Berichten zufolge kämpfe hier sogar sein eigener Sohn.

Wie die BBC schreibt, attestierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Angreifern jüngst “Wahnsinn”. “Tag für Tag, seit Monaten, treiben sie dort Menschen in den Tod.” Laut dem britischen “Independent” drangen russische Truppen unter Führung von Wagner in die südlichen Vororte Iwanhrad und Opytne ein, wurden aber kurz darauf bereits wieder teilweise zurückgedrängt. 

Die “Wagner-Linie”: Russlands Rettung in den Winter

Der Kreml verlässt sich mittlerweile aber nicht nur in Sachen Angriff auf die Gruppe Wagner. Satellitenbilder zeigen, dass die Söldner derzeit an der gesamten Frontlinie Gräben ausheben. Die PMC verbaut hier auch pyramidenförmige Betonklötze, sogenannte Drachenzähne, die dem Vorstoß ukrainischer Panzerfahrzeuge ein Ende setzen oder ihn zumindest verlangsamen sollen. Kremlnahe Journalisten, so berichtet unter anderem der “Spiegel”, bezeichneten diesen Verteidigungswall als neue russische Staatsgrenze, russische Medien nennen sie schlicht “Wagner-Linie”. Wagner-Chef Prigoschin selbst hatte erst kürzlich in russischen Medien behauptet, sein Unternehmen habe keinen Auftrag zum Bau von Befestigungsanlagen erhalten. Wenn, dann baue Wagner auf Grundlage eigener, operativer Entscheidungen.

Tatsächlich dürfte sich Russland mit Wagners Hilfe buchstäblich für den Winter eingraben. “Die russischen Streitkräfte bereiten Verteidigungspositionen vor, um ihre Gebietsgewinne über den Winter zu konsolidieren”, meint auch Rusi-Experte Ed Arnold gegenüber dem “Spiegel”. Dabei seien die Drachenzähne keine Allzwecklösung. Zwar könnten sie die vorpreschenden Panzer verlangsamen – aber nur dann, wenn der Wall auch entsprechend von Soldaten geschützt ist.

Für Wagner heißt das: Es müssen neue Männer her.

Wagner auf Rekrutensuche: Ein “unvergesslicher Sommer mit neuen Freunden”

Mit seiner Teilmobilmachung hat Putin bereits mehr als 200.000 weitere Menschen in seinen Krieg gezwungen. Doch treten diese meist unfreiwilligen Rekruten den regulären Truppenverbänden und nicht ominösen Schattenarmeen bei. Woher den Nachschub also nehmen, wenn nicht stehlen?

Im September gelangte ein verstörendes Video an die Öffentlichkeit. Zu sehen ist Wagner-Chef Prigoschin, wie er in einem russischen Gefängnis eine Ansprache hält. Der Oligarch war auf Werbetour. Im Tausch für sechs Monate Dienst für die Gruppe versprach er den Häftlingen Straferlass. Der “Los Angeles Times” zufolge erklärte die russische Aktivistin Olga Romanowa, ihre Organisation habe Fälle von circa 11.000 Strafgefangenen dokumentiert, die sich Wagner daraufhin angeschlossen hätten – 7500 von ihnen sollen in der Ukraine eingesetzt werden. Keiner der Rekruten sei für die nötigen sechs Monate verpflichtet worden sein. “Wenn ihr in der Ukraine ankommt und euch entscheidet, dass das nichts für euch ist”, sagt er zu den Gefangenen, “werden wir euch hinrichten”, so Prigoschin im Video.

“Diese zunehmend schlampigen Rekrutierungspraktiken haben erhebliche Auswirkungen auf die operative Effizienz von Wagner in der Ukraine”, heißt es in einem Beitrag des Blogs “Lawfare”, der von der US-amerikanischen Denkfabrik “Brookings Institution” betrieben wird. Fragt sich, ob Prigoschin für die nächste Welle in Bachmut zwangsläufig neue Elitekämpfer braucht, oder ob ihm “Kanonenfutter” genügt. Doch Wagner rekrutiert nicht mehr nur aus dem Halbschatten heraus. In den letzten Monaten ist PMC deutlich stärker an die Öffentlichkeit getreten, meint auch Ramani vom Rusi gegenüber der BBC. “Sie rekrutiert offen in russischen Städten, auf Plakatwänden und wird in den russischen Medien als patriotische Organisation bezeichnet.” Wie “Grid” berichtet, bewirbt Wagner den Einsatz in der Ukraine sogar als “unvergesslichen Sommer mit neuen Freunden”. Nicht-Existenz sieht anders aus.

Jewgeni Priogischin – ein Kriegsgewinner mit Ambitionen

Das Versagen des russischen Generalstabs spielt Putins Koch in die Hände. Vor allem bei den im Inland enorm einflussreichen Militärbloggern genießt er inzwischen hohes Ansehen. Prigoschin macht offenbar keinen Hehl daraus, was er von der Militärführung hält: “Schickt all diese Bastarde an die Front, barfuß und mit Maschinengewehren”, zitierte ihn laut “Los Angeles Times” ein mit Wagner verbundener Telegram-Kanal, nachdem ukrainische Truppen die Stadt Lyman, Teil der russischen Annexionsgebiete, zurückerobert hatten.

Prigoschin selbst “strebt nach mehr Bedeutung”, heißt es auch beim “Institute for the Study of War”. Dass Wagner nun aus dem Halbschatten getreten ist, legt die Vermutung nahe, dass Prigoschin einen offiziellen Posten im Kreml anstrebt – womöglich als Nachfolger des bei Putin in Ungnade gefallenen Verteidigungsministers Sergei Schoigu. Über seine Firma Concord hatte der Wagner-Chef am Mittwoch ein Statement veröffentlichen lassen, in dem er nicht nur Ramsan Kadyrow, den Machthaber der Teilrepublik Tschetschenien, unterstützt, sondern offenen Schoigu angreift, ohne ihn jedoch beim Namen zu nennen. 

Putin selbst hat Prigoschin bislang mit keiner Silbe kritisiert – obwohl der Kremlchef von Amts wegen auch Oberbefehlshaber ist. Doch bleiben seine jüngsten Auftritte nicht unbemerkt: Abbas Gallyamov, ein politischer Analyst und ehemaliger Redenschreiber Putins, schrieb laut “Los Angeles Times” auf Telegram, dass sich der Wagner-Chef eindeutig positioniere, um diejenigen anzusprechen, die “von der derzeitigen Regierung enttäuscht sind”. Während Putins Ansehen jeden Tag sinkt, ernten Hardliner wie Prigoschin immer mehr Zuspruch: “Wagneristen sagen mir, dass sie ihn jederzeit Putin vorziehen würden, und ich habe den Eindruck, dass er Blut riecht”, twitterte Christo Grozev von “Bellingcat” bereits Ende September.

Quellen: “Spiegel“; “Forbes“; BBC; “The Grid“; “Los Angeles Times“; “Lawfare“; CNN; “Institute for the Study of War“; “Foundation for Defense of Democracies“; AFP


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