Ukraine-Krieg: Was der Rückzug der Russen aus der Region Charkiw bedeutet

Auf einmal wehen sie im Nordosten der Ukraine wieder, die blau-gelbe Fahnen. Der chaotische Rückzug der russischen Truppen aus der Region Charkiw nährt die (vorsichtige) Hoffnung, dass sich das Blatt in diesem Krieg wenden könnte.

Als russische Panzer am 24. Februar über die Grenze des Nachbarlandes rollten, wahrsagten Militärexperten fast unisono: Das wird die Ukraine nicht lange durchhalten. Diese Annahme war freilich nicht aus der Luft gegriffen – waren doch die Rollen des David und Goliath glasklar verteilt. Auch im Kreml gab man sich siegessicher, die Einnahme Kiews im Sturm war fest eingeplant.

Was in den folgenden Wochen und Monaten stattdessen passierte, ist eine blutige Berg- und Talfahrt sondergleichen. Jetzt, 200 Tage nach Beginn der “militärischen Spezialoperationen”, wie der Kreml den brutalen Überfall weiter nennt, ist es wieder einmal zu hören, dieses Wort: Sieg.

Der Rückzug der russischen Verbände aus der Region Charkiw am Samstag nährt die bis dato wenn überhaupt leise schwelende Hoffnung, den Ukrainer könnte mehr gelingen, als bloß standzuhalten, sich zu wehren, das Unausweichliche hinauszuzögern. Gibt es also für die Verteidiger, und damit für den Westen tatsächlich noch Hoffnung, dass Putin seine Invasion weitaus schmerzhafter auf die Füße fällt als je gedacht?



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Blitzoffensive: Ukraine erobert binnen weniger Tage Tausende Quadratkilometer Gelände

Es sei die “größte Gegenoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg”, twitterte John Spencer vom Modern War Institute der US-Militärakademie in Westpoint. “Die Ukraine gewinnt”, ist er sich sicher. Tatsächlich hat man in Kiew in kurzer Zeit offenbar enorm erfolgreich von Verteidigung auf Angriff geschaltet. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj habe man in den vergangenen zehn Tagen rund 2000 Quadratkilometer russisch besetzter Gebiete im Nordosten des Landes gutgemacht. Die US-Denkfabrik “Institute for the Study of War”zeichnet sogar ein noch beeindruckenderes Bild: Allein seit dem 6. September sollen die ukrainischen Streitkräfte mehr als 3000 Quadratkilometer erobert haben – mehr als die Russen in all ihren Operationen seit April zusammengenommen. An einigen Stellen seien die Ukrainer bis zu 70 Kilometer tief hinter die Frontlinie vorgedrungen.

Entsprechend groß war auch die Genugtuung in der Hauptstadt, als sich die Invasoren am Samstag aus strategisch so entscheidenden Städten wie Isjum abrückten. “Besatzer haben in der Ukraine keinen Platz und werden keinen haben”, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache. Im Kreml nimmt man indes den vielsagenden Begriff Rückzug nicht in den Mund. Stattdessen sprach Moskau von einer “Umgruppierung” der Verbände, um Einheiten in der angrenzenden Region Donezk zu verstärken. Schönreden auf höchstem Niveau. Bände sprechen dabei die Worte von Witali Gantschew, dem Chef der vom Kreml eingesetzten Militärverwaltung in Charkiw. Der rief alle Bewohner der Region zur Flucht auf: “Ich empfehle nochmals allen Bewohnern der Region Charkiw, das Gebiet zum Schutz ihres Lebens und ihrer Gesundheit zu verlassen”, sagte er der russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge.

Aber was bedeuten die jüngsten Erfolge der ukrainischen Truppen wirklich? Markieren sie tatsächlich einen Meilenstein auf dem Weg zu einem wie auch immer gearteten Sieg der Ukraine?

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Wochenlang sah es so aus, als würde sich ein Verschleißkrieg anbahnen, so festgefahren wie die Frontlinien wirkten. Anfang des Monats machten die Ukrainer dieser vermeintlichen Pattsituation jedoch das Garaus – in einer Geschwindigkeit, mit der die wenigsten auch nur im Traum gerechnet hätten.

Und so kam der Rückzug am Samstag aus russischer Sicht tatsächlich in letzter Minute. Mit ihrer Verdrängung aus der Kleinstadt Kupjansk hätte mehr als 10.000 Soldaten die Einkesselung gedroht. Bereits dieser Verlust des wichtigen Knotenpunkts war ein schwerer Schlag für die Invasoren, die in hohem Maße vom Nachschub per Eisenbahn angewiesen sind.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, liegt nicht zuletzt an einem nahezu perfekt inszenierten Täuschungsmanöver des ukrainischen Generalstabs, wie der “Guardian” berichtet. Die Militärführung hatte am 29. August eine breit angelegte Offensive im Süden angekündigt. Ein plausibles Ziel, bedenkt man, wie wichtig die Hafenstadt Cherson für die Versorgung der annektierten Krim ist und dass sie, wie “Al Jazeera” anmerkt, ein idealer Ausgangspunkt für den weiteren Vorstoß in Richtung Süden könnte – von der symbolischen Bedeutung ganz zu schweigen. Cherson war eine der ersten Großstädte, die die Angreifer eingenommen hatten.

“Es handelte sich um eine große spezielle Desinformationsoperation”, sagte der Presseoffizier der ukrainischen Spezialkräfte, Taras Berezovets, der britischen Zeitung. Im Glauben, die Ukrainer würden sich auf die Region Cherson konzentrieren, habe der Kreml Truppen und schweres Geschütz in den Landessüden verlegt. Als würde man “einem wütenden, unfähigen Stier mit einem roten Umhang zuwinken”, wie das US-Magazin “The Atlantic” treffend schrieb. Natalia Humeniuk, eine Sprecherin des ukrainischen Südkommandos, habe auf einem “Regime des Schweigens” bestanden, wie der “Guardian” weiter berichtet. Journalisten sei es sogar zwischenzeitlich verboten gewesen, zur Front bei Cherson zu reisen. Berezovets zufolge sei auch das Teil der Strategie gewesen, die Aufmerksamkeit der Medien auf den Süden zu lenken. “In der Zwischenzeit wurden [unsere] Jungs in Charkiw mit den besten westlichen Waffen, vor allem amerikanischen, ausgestattet”, so der Offizier. Als der eigentliche Vormarsch dann stattdessen im Nordosten begann, habe man die Invasoren völlig überrumpelt. “Die Russen hatten keine Ahnung, was vor sich ging.”

Kreml macht auf heile Welt – trotz lauter werdender Kritik

Und Putin? Der hüllt sich bislang in vielsagendes Schweigen. Wie das US-Nachrichtenmagazin “Politico” berichtet, nahm der Kremlchef, obwohl die Niederlage (selbstredend nicht so genannt) auch die russischen Staatsmedien erreichte, am Samstag bei der Einweihung eines Riesenrads teil. Auf die aus russischer Sicht gelinde gesagt enttäuschende Entwicklung an der Front ging er in seiner Rede zum 875. Geburtstag der Hauptstadt nicht ein. Stattdessen freute er sich über die Attraktion: “Es ist sehr wichtig, dass die Menschen die Möglichkeit haben, sich mit ihrer Familie und ihren Freunden zu entspannen”, sagte der russische Nachrichtenagentur Tass zufolge.

So vermeintlich entspannt wie der Oberste Befehlshaber nehmen bei weitem nicht alle die jüngsten Niederlage auf. In der Politik werden – wenn auch auf kleiner Ebene – kritische Stimmen laut. In Sankt Petersburg hatten Stadtabgeordnete der Staatsduma angeraten, , sogar .

Inzwischen ist sogar so etwas wie Kritik seitens der bis dato krampfhaft loyalen russischen Militärexperten zu vernehmen. Daniil Bezsonow, der stellvertretende Informationsminister der von Moskau unterstützten Donezker Volksrepublik, ließ sich laut “Politico” dazu hinreißen, nach dem Rückzug der Truppen aus Isjum, die Militärführung zu kritisieren. Da sei “natürlich … das Ergebnis von Fehlern des Oberkommandos”. Igor Girkin, einer der einstigen Anführer der prorussischen Separatisten in der Ostukraine, geht gar einen Schritt weiter. Die russische Armee stehe “vor einer akuten operativen Krise in einem breiten Frontabschnitt, die bereits zu einer großen Niederlage eskaliert ist”.

Wie die “New York Times” berichtet, gehen auch prorussische Militärblogger mittlerweile auf die Barrikaden. Telegram ist nach der Abschaltung von Instagram und Facebook sowie der allgegenwärtigen Propagandaschau im Staats-TV die einzig verbliebene frei zugängliche Meinungsplattform im Land. Pro-Kriegs-Blogger, von denen einige auf Geheiß des Kremls an der Front stationiert seien, sind “vergleichsweise” unabhängig. Einer dieser bekannten Kriegs-Influencer mit 2,3 Millionen Followern habe schon am Freitag erklärt, dass die Bevölkerung der russischen Militärführung alsbald keinen Glauben mehr schenken würde, sollte sie die Niederlagen weiter herunterspielen. Doch der offenkundigen Demütigung des selbst proklamierten Goliath tut das keinen Abbruch.

Gewinnt die Ukraine tatsächlich?

Nun mag man nicht den Miesepeter spielen. Und tatsächlich sind die jüngsten Erfolge der ukrainischen Streitkräfte beispiellos.

Allerdings ist das lauter werdende Gemurmel vom “Sieg” mit äußerster Vorsicht zu genießen. Ja, die Rückeroberung der Region Charkiw könnte durchaus einen Wendepunkt in diesem Krieg bedeuten. Doch hat sich in den vergangenen 200 Tagen die Hoffnung als trügerischer Luxus erwiesen. Bereits nach dem unerwarteten Abzug der Russen aus der Region Kiew im April hatten Medien (darunter auch der stern) einen Meilenstein auf dem Weg zu ernsthaften Friedensgesprächen gewittert.

Im Vergleich zu April ist die Waage jedoch zugunsten der Verteidiger gekippt, die Situation ist nur noch bedingt vergleichbar. Denn im Grunde genommen sind die ukrainischen Streitkräfte genau das zurzeit nicht mehr – Verteidiger. Die Armee ist deutlich besser ausgerüstet – dank unaufhörlicher Investitionen des Westens, allen voran der USA. Auch das rasche Vorrücken als solches befeuert die Maschinerie sprichwörtlich. Wie der “Spiegel” unter Bezugnahme auf den Militärblog “Oryx” berichtet, seien in den vergangenen Tagen 15 unbeschädigte russische Panzer und Dutzende Truppentransporter in die Hände der Ukrainer gefallen.

Auf der anderen Seite trägt die immer wieder thematisierte sinkende russische Moral und der offenkundig teils desolate Zustand der Armee ihren Teil zum verschobenen Kräfteverhältnis bei. Dennoch kontrolliert Russland weiterhin große Teile des Landes – unter anderem die wichtigen Städte Cherson und Mariupol und natürlich die von Putin heiß begehrte Landbrücke zur 2014 annektierten Krim. Der “Washington Post” zufolge treten auch Teile der ukrainischen Führung auf die Euphorie-Bremse. Noch sei sein Land weit davon entfernt, einen Triumph feiern zu können, so Verteidigungsminister Oleksij Resnikow. “Ein Zeichen des Sieges ist für mich, wenn ich in Charkiw ein Flugzeug besteige und in Mariupol lande”, hab e er am Samstag auf einer Konferenz in Kiew gesagt.

Ähnlich sieht es Rob Lee, ein Militäranalyst am US-amerikanischen Foreign Policy Research Institute. Die jüngsten Erfolge der Ukraine wertet er zwar als “bedeutendes Ereignis, so die US-Zeitung. Das bedeute aber nicht, “dass Russland in absehbarer Zeit aus der Ukraine vertrieben wird.” Die Gesamtsituation spreche allerdings für die Ukraine, “vor allem mittelfristig”. Dennoch, so schreibt die “New York Times”, warnen Militärexperten nun davor, dass der rasche Vormarsch im Norden die Soldaten überfordern und anfällig für Gegenangriffe machen könnte. Bereits den überstürzten Rückzug aus Isjum hatte das russische Militär eigenen Angaben zufolge mit Sperrfeuer gedeckt. Im Süden, im Gebiet Cherson, dürften es die ukrainischen Verbände zudem deutlich schwerer haben. Hier ist die Gefahr eines Abnutzungskrieges deutlich größer.

Hoffen auf Verhandlungen: Wer macht den ersten Schritt?

Interessant wird in den kommenden Wochen auch die Frage, ob ein Waffenstillstand auf den Verhandlungstisch (der natürlich überhaupt erst einmal gezimmert werden müsste) kommt. Im Juli hatte der ukrainische Chefunterhändler David Arachamija in einem Interview mit dem US-Sender “Voice of America” noch angekündigt, Friedensgespräche mit Moskau frühestens Ende August aufnehmen zu wollen – dann sei Kiew hoffentlich in einer besseren Verhandlungsposition. Entscheidend wird am Ende sein, wer auf wen zugeht.

Putin sah sich damals offenbar nicht in der Lage, den ersten Schritt zu machen. Auch heute wäre der Gesichtsverlust für ihn womöglich hochgefährlich, müsste er doch seine katastrophale Kriegsbilanz einräumen: Statt einer zurückgedrängten Nato hat das Militärbündnis zwei neue Mitglieder und eine doppelt so lange Grenze. Statt einer entmilitarisierten Ukraine, wurde das Nachbarland mit Milliardensummen hochgerüstet. Immerhin: “Russland lehnt Verhandlungen mit der Ukraine nicht ab, doch je länger der Prozess hinausgezögert wird, desto schwerer wird es, sich zu einigen”, sagte Außenminister Sergej Lawrow am Sonntag im Staatsfernsehen.

Doch bleibt es wohl vorerst beim Sterben. Sollte die ukrainische Offensive im Süden ähnlich reiche Früchte tragen, bliebe den Kremlchef mittelfristig wohl kaum eine andere Wahl als zumindest den kleinen Finger auszustrecken. Fragt sich, ob der Kiew reicht – oder ob es gleich die ganze Hand abreißen will. Nachvollziehbar wäre es.   

Quellen: “Al Jazeera“; “The Guardian“; “Politico“; “Washington Post“; “New York Times“; “Spiegel“; mit dpa


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