Die russischen Invasionstruppen in der Ukraine zögern nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums mit großen Infanterie-Angriffen auf ukrainische Großstädte. Die Invasoren setzten die Belagerung von Metropolen wie Charkiw, Tschernihiw und Mariupol zwar fort, teilte das Ministerium unter Berufung auf Erkenntnisse der Geheimdienste am Samstag mit. Sie zögen es jedoch vor, die Städte wahllos mit Artillerie und Luftwaffe zu bombardieren, um die Moral der Verteidiger zu brechen. Russische Bodentruppen hätten bereits erhebliche Verluste erlitten und versuchten jetzt, diese mithilfe ihrer Feuerkraft zu begrenzen, auf Kosten von Opfern unter ukrainischen Zivilisten.
Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen unterdessen nach Angaben eines ranghohen Vertreters des US-Verteidigungsministeriums darum, die wichtige südliche Stadt Cherson von den Russen zurückzuerobern. Das russische Militär habe keine so feste Kontrolle mehr über die Stadt wie zuvor, weswegen Cherson nun wieder als „umkämpftes Gebiet“ zu bewerten sei, sagte der Vertreter des Pentagons am Freitag. Die Ukrainer leisten dort „Widerstand“, wie er weiter sagte.
Cherson am Beginn des Dnipro-Mündungsdeltas sei eine strategisch bedeutende Hafenstadt, sagte der leitende Beamte. Falls es den Ukrainern gelingen sollte, die Stadt zurückzuerobern, würde das den russischen Angriff auf die nahe umkämpfte Großstadt Mykolajiw erschweren. Zudem würde es eine mögliche Bodenoffensive in Richtung der östlichen Hafenstadt Odessa deutlich erschweren, sagte er.
Eine mögliche Einnahme Chersons wäre „eine bedeutende Entwicklung“ für den Krieg im Süden der Ukraine, fügte er hinzu. Das russische Militär hatte Cherson Anfang des Monats eingenommen. Vor etwa zehn Tagen meldete Moskau die Einnahme des kompletten Bezirks Cherson. In dem Gebiet in der Schwarzmeer-Region leben rund eine Million Menschen.
Der Pentagon-Vertreter erklärte weiter, wegen der Kämpfe südlich von Mykolajiw sei das russische Militär dort blockiert, weswegen es auch für Odessa keine „unmittelbare Bedrohung“ eines Angriffs gebe. Auch bei den russischen Kriegsschiffen im Schwarzen Meer sei keine Aktivität mit Blick auf Odessa zu erkennen.
Er fügte hinzu, das russische Militär habe weiter mit logistischen Problemen zu kämpfen. Nun gebe es „erste Anzeichen“, dass das Militär zusätzliche russische Truppen aus Georgien in die Ukraine verlegen wolle, sagte er.
Weiter heftige Kämpfe um Mariupol – Holocaust-Mahnmal beschädigt
Um die Hafenstadt Mariupol wird nach ukrainischen wie russischen Angaben weiter heftig gekämpft. Die russische Armee beschieße aus der Luft und mit Artillerie zivile und militärische Objekte, teilte der ukrainische Generalstab in seinem Bericht Samstagmittag mit. Am Boden versuchten russische Kräfte, in das Stadtzentrum vorzudringen. Auch der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch sprach von Straßenkämpfen in Mariupol.
Von russischer Seite veröffentlichte das Oberhaupt der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, Videos über den angeblichen Einsatz seiner Kämpfer in Mariupol.
Hauptquartier der ukrainischen Luftwaffe angegriffen – Waffen-Depot zerstört
Am Freitag war das Hauptquartier der ukrainischen Luftwaffe in Winnyzja im Westen des Landes mit mehreren russischen Marschflugkörpern beschossen worden. Ein Teil der sechs Raketen sei im Anflug abgeschossen worden, die übrigen trafen das Gebäude, teilte die Luftwaffenführung auf ihrer Facebook-Seite mit. Dabei sei „erheblicher Schaden“ an der Infrastruktur entstanden. Ein Foto auf der Facebook-Seite zeigte schwere Zerstörungen. Über eventuelle Opfer des Angriffs wurden keine Angaben gemacht. Die Untersuchungen und Bergungsarbeiten dauerten an.
Die russischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben bei einem Raketenangriff in der Ukraine erneut ein Arsenal mit Waffen und Militärtechnik zerstört. Vier Raketen vom Typ „Kaliber“ seien von einem Kriegsschiff im Schwarzen Meer abgefeuert und in dem Depot in der Nähe der Großstadt Schytomyr eingeschlagen. Die wichtige Industriestadt Schytomyr liegt rund ein 120 Kilometer westlich von Kiew. Insgesamt seien innerhalb von 24 Stunden 117 militärische Objekte zerstört worden, darunter sechs Kommandostellen und drei Kampfflugzeuge, teilte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Samstag mit.
Von unabhängiger Seite überprüfbar waren diese Angaben nicht. Veröffentlicht wurde erneut auch ein Video, auf dem der Abschuss von Raketen zu sehen war. Beobachter kommentierten zuletzt, dass das russische Militär seine Angriffe in der Ukraine auch für eine beispiellose Waffenschau nutze, um seine Raketen vorzuführen.
Russische Truppen haben offenbar die Kontrolle über die Stadt Slawutytsch in der Nähe des ukrainischen Unglücks-Kernkraftwerks Tschernobyl erlangt. Sie hätten das Krankenhaus eingenommen und den Bürgermeister entführt, hieß es einer Online-Mitteilung des Gouverneurs der Region Kiew, Olexandr Pawljuk. In Slawutytsch leben die Beschäftigten von Tschernobyl. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. Am Freitag hieß es von ukrainischer Seite, ein erster Angriff sei zurückgeschlagen worden.
59 Gotteshäuser beschossen
Fast 60 Kirchen und Gotteshäuser anderer Religionen in der Ukraine sind nach Kiewer Zählung bislang durch den russischen Angriffskrieg zerstört oder beschädigt worden. Bis Freitag zählte die für Kirchenfragen zuständige Behörde 59 religiöse Stätten, die beschossen wurden. Die weitaus meisten getroffenen Objekte seien orthodoxe Kirchen.
Schwere Verluste erlitt demnach vor allem die Ukrainische-Orthodoxe Kirche, die zum Moskauer Patriarchat gehört und im Osten des Landes besonders stark vertreten ist. So wurde das Erzkloster Mariä-Entschlafung in Swjatohirsk teilweise zerstört, das zu den heiligsten Klöstern der russischen Orthodoxie gehört.
Ebenso seien eine römisch-katholische Kirche und fünf evangelische Kirchen von den Kämpfen betroffen gewesen, zählte der Staatliche Dienst für Nationalitätenpolitik und Gewissensfreiheit in Kiew. Auch je drei islamische Moscheen und jüdische Synagogen wurden beschädigt.
Wo ist der russische Verteidigungsminister?
Seit einigen Tagen wird über den Verbleib des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu spekuliert. Normalerweise ist der 66-Jährige regelmäßig in den Sendungen des Staatsfernsehens zu sehen. Doch seit dem 11. März hatte er offensichtlich keine öffentlichen Termine mehr wahrgenommen. Jetzt sind erstmals nach zweiwöchiger Abwesenheit Bilder von ihm verbreitet worden.
Das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte am Samstag ein Video, das zeigt, wie Schoigu eine Sitzung zum russischen Verteidigungsetat leitet. Die Aufnahme ist nicht datiert, der Verteidigungsminister macht russischen Nachrichtenagenturen zufolge darin aber eine Anspielung auf ein Treffen mit dem Finanzminister, das am Freitag stattgefunden habe.
Informanten in der russischen Armee
Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsgeheimdienstes GUR ist die russische Armee durchsetzt von Informanten und hat sich verschiedene „Fehleinschätzungen“ geleistet. Eine „sehr große Anzahl von Menschen“ sei mobilisiert worden, um hinter den russischen Linien einen Guerillakrieg zu führen, sagte GUR-Chef Kyrylo Budanow der US-Publikation „The Nation“ am Freitag. Die ukrainischen Streitkräfte hätten außerdem von „Fehleinschätzungen“ der Russen profitiert.
Die Ukraine setze diese Informanten effektiv ein. „Wir haben viele Informanten in der russischen Armee, nicht nur in der russischen Armee, sondern auch in ihren politischen Kreisen und ihrer Führung“, sagte Budanow. „Im November wussten wir bereits über die Absichten der Russen Bescheid.“ Auch in den Reihen der Tschetschenen seien viele Informanten. „Sobald sie mit der Vorbereitung einer Operation beginnen, wissen wir das von unseren Informanten.“
Die ukrainische Armee habe gezeigt, dass die russische Armee als zweitstärkste Armee der Welt ein großer Mythos sei und „nur eine mittelalterliche Konzentration von Kräften und alten Methoden der Kriegsführung darstellt“, sagte er weiter.
Russland will keine Reservisten einberufen
Das russische Verteidigungsministerium hat bekräftigt, im Ukraine-Konflikt keine Reservisten einsetzen zu wollen. „Das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation zieht keine Reservisten ein und plant auch nicht, Reservisten in die Militärstationen einzuberufen“, erklärte ein Ministeriumssprecher am Samstag. Anrufe, die russische Männer in den vergangenen Tagen angeblich von der russischen Armee erhalten hätten, seien „gefälscht“.
In den vergangenen Tagen hätten russische Männer Telefonanrufe erhalten, in denen ihnen eine „aufgezeichnete Stimme“ mitgeteilt habe, dass sie vom Militär einberufen würden. Diese Anrufe seien allesamt gefälscht und „von ukrainischem Territorium aus getätigt worden“, erklärte der Ministeriumssprecher. Es handele sich um eine „Provokation“ durch die Ukraine.
Viele tote russische Generäle
Die Ukraine hat indes den Tod eines weiteren russischen Generals bei Kämpfen gemeldet. Ukrainische Truppen hätten bei einem Bombenangriff auf den Flughafen von Tschornobajiwka in der Region Cherson den Kommandanten der 49. Armee des südlichen Distrikts, General Jakow Rjasanzew, getötet, erklärte Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch am Freitag. Rjasanzew ist bereits der sechste russische General, dessen Tod die Ukraine seit Kriegsbeginn vor einem Monat meldet. Überprüfen lassen sich die Angaben nicht.
Russland hat bislang nur den Tod von General Andrej Suchowezki sowie des stellvertretenden Chefs der Nordmeerflotte, Kapitän Andrej Palij bestätigt.
Westliche Sicherheitskreise sprachen am Freitag allerdings von sieben getöteten Generälen, darunter ein tschetschenischer Kommandeur der Spezialkräfte sowie ein Kommandeur, der von seiner eigenen Truppe getötet worden sein soll. Zudem sei ein ranghoher General Anfang der Woche vom Kreml wegen der schweren Verluste und strategischen Fehler während des seit einem Monat andauernden Angriffskriegs entlassen worden.
Zum Teil machen Experten Kommunikations- und Logistikprobleme dafür verantwortlich, die hochrangige Offiziere dazu veranlassten, unverschlüsselte Kanäle zu benutzen. Damit sind sie den ukrainischen Streitkräften ausgeliefert.
Elie Tenenbaum vom französischen Institut für internationale Beziehungen (Ifri) sagte der Nachrichtenagentur AFP, die Gegenwart hoher Offiziere nahe der Kampflinien zeige, dass Moskau „von den Generälen verlangt, an der Spitze ihrer Truppen zu stehen und Risiken einzugehen“, um gegen eine niedrige Kampfmoral der Truppe vorzugehen.
Der Kreml gab am Freitag bekannt, dass etwas mehr als 1300 Militärangehörige im Kampf getötet worden seien. Westliche Schätzungen gehen von einer vier- oder fünfmal so hohen Zahl aus. Es wird vermutet, dass etwa 20 der von Moskau in der Ukraine eingesetzten taktischen Gruppen mit 115 bis 120 Bataillonen aufgrund der erlittenen Verluste „nicht mehr kampffähig“ sind.
Angesichts des anhaltenden Widerstands von Armee und Bevölkerung gegen die russische Armee zeichnet sich ein Strategiewechsel Moskaus ab. Künftig werde sich die Armee auf die „Befreiung“ der Donbass-Region in der Ostukraine konzentrieren, sagte Russlands Vize-Generalstabschef Sergej Rudskoj am Freitag. Das ukrainische Militär hatte zuvor bedeutende Geländegewinne unter anderem in der Hauptstadtregion Kiew gemeldet.
Dennoch hält das ukrainische Militär einen groß angelegten Angriff russischer Truppen auf Kiew immer noch für möglich. Dazu ziehe der Gegner weiterhin starke Kräfte zusammen, sagte Ukraines Heeres-Stabschef Olexander Grusewitsch am Freitag. Zudem würden nach Erkenntnissen der Aufklärung in der Kaukasus-Republik Dagestan spezielle Einheiten für diesen Einsatz vorbereitet. Diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Eine zunächst bis Montag angekündigte Ausgangssperre für die Bewohner der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist wieder aufgehoben worden. „Neue Information des Militärkommandos: Die Ausgangssperre in Kiew und Umgebung wird morgen nicht in Kraft sein“, teilte Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko am Samstag im Messengerdienst Telegram mit.
Kurz zuvor hatte Klitschko unter Berufung auf das Militärkommando eine erneute Ausgangssperre von Samstag um 20.00 Uhr „bis mindestens 07.00 Uhr am Montag“ angekündigt. Nun sollen die Einwohner Kiews aber nur wie gewohnt nachts zwischen 20.00 Uhr (Ortszeit; 19.00 MEZ) und 07.00 Uhr nicht auf die Straße gehen.
Warnung vor Berichten über Waffenlieferungen und Aktionen
Trotz der militärischen Erfolge der vergangenen Tage hat das ukrainische Verteidigungsministerium vor vorschnellen und unkontrollierten Berichten über Waffenlieferungen oder militärische Aktionen gewarnt. Diese würden nur der russischen Seite in die Hände spielen und ihr helfen, „Aktionen genauer auszurichten“, sagte die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Freitagabend.
Es sei bereits vorgekommen, dass „gut gemeinte oder aus Dankbarkeit veröffentlichte Berichte“ über Waffenkäufe oder -lieferungen dazu geführt hätten, dass entweder Verträge gekündigt oder Lieferungen verhindert worden seien. „Und daher versuchen wir heute unter Kriegsbedingungen zu verhindern, dass Informationen über Hilfe, die wir erhalten, durchsickern“, sagte Maljar.
In der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol bleibt die Lage nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Selenskyj „absolut dramatisch“. Russische Militärs erlaubten keine humanitäre Hilfe für die Bewohner. „Sie benutzen die Bewohner von Mariupol bestenfalls für ihre Propagandisten“, sagte er am in der Nacht zum Samstag in einer Videoansprache.
Der Bürgermeister von Mariupol hat nach eigenen Angaben mit dem französischen Botschafter die Möglichkeiten für Hilfe bei einer Evakuierung sondiert. Dies teilte Bürgermeister Wadym Boitschenko im staatlichen Fernsehen mit. Zuvor hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angekündigt, er wolle Russland einen Plan vorschlagen, um dabei zu helfen, die Menschen aus der Stadt in Sicherheit zu bringen. Bürgermeister Boitschenko erklärte zudem, die Lage in der Stadt sei weiterhin kritisch. Im Stadtzentrum gingen die Straßenkämpfe weiter.
Seit Beginn der russischen Invasion vor mehr als einem Monat sind nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft bislang 136 Kinder getötet worden. 199 Kinder seien verletzt worden, teilt die Behörde auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit. Die Angaben waren zunächst nicht unabhängig zu überprüfen.