Der Atomreaktor von Tschernobyl hat nach russischen Angaben wieder Strom. Spezialisten aus Belarus hätten die Versorgung wiederhergestellt, teilt das russische Energie-Ministerium mit.
Die Ukraine hatte am Mittwoch mitgeteilt, dass das von russischen Einheiten besetzte Atomkraftwerk von der Stromversorgung abgeschnitten sei. Stromleitungen seien durch den Beschuss beschädigt worden, sagte der ukrainische Netzbetreiber Ukrenerho. Und weiter: Wegen der gekappten Stromleitung zwischen Kiew und dem AKW bestehe die Gefahr, dass die Brennelemente nicht mehr gekühlt werden und Radioaktivität austreten könnte.
Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA erklärte am Mittwoch, der Stromausfall habe keine kritischen Folgen für die Sicherheit.
Hälfte der Einwohner von Kiew geflohen – Russland kesselt Hauptstadt weiter ein
Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj konnten mindestens 35.000 Zivilisten am Mittwoch aus von russischen Truppen belagerten Städten in Sicherheit gebracht werden. In einer Videoansprache sagte Selenskyj in der Nacht zum Donnerstag, dass drei humanitäre Korridore es den Bewohnern ermöglicht hätten, die Städte Sumy im Nordosten, Enerhodar im Südosten und Gebiete um die Hauptstadt Kiew zu verlassen.
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist nach Angaben des Bürgermeisters von Kiew die Hälfte der Einwohner aus der ukrainischen Hauptstadt geflohen. „Nach unseren Informationen hat einer von zwei Bewohnern von Kiew die Stadt verlassen“, sagt Bürgermeister Vitali Klitschko am Donnerstag im ukrainischen Fernsehen. „Jede Straße, jedes Gebäude, jeder Kontrollpunkt sind verstärkt worden.“ Kiew gleiche nun einer „Festung“, sagt Klitschko.
Die Ukraine plant weitere Evakuierungen von Zivilisten aus den umkämpften Städten im Norden und Osten des Landes sowie der Hauptstadt Kiew. Evakuiert werde vor allem aus dem Gebiet Sumy an der russischen Grenze in Richtung des zentralukrainischen Poltawa, teilte der Vizechef des Präsidentenbüros Kyrylo Tymoschenko am Donnerstag im Nachrichtenkanal Telegram mit. Ebenso werde versucht, Menschen aus Isjum im Gebiet Charkiw und den belagerten Städten Mariupol und Wolnowacha im Donezker Gebiet in sichere Regionen zu bringen.
Zudem seien weitere Transporte aus den nordwestlichen Vororten von Kiew in die Hauptstadt geplant. Menschen können sowohl mit eigenen Autos als auch mit bereitgestellten Bussen über die vereinbarten Korridore aus dem Kampfgebiet hinausgelangen.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte am Donnerstag, Russlands Vorschlag zur täglichen Öffnung von Fluchtrouten bleibe bestehen. Zeitpunkt und konkrete Wege müssten von denen bestimmt werden, die die Lage vor Ort kontrollierten.
Mariupol: 1207 Zivilisten gestorben
In der belagerten südukrainischen Hafenstadt Mariupol sind nach Angaben der örtlichen Behörden binnen neun Tagen 1207 Zivilisten getötet worden, hieß es in einem am Mittwoch auf dem offiziellen Telegram-Kanal der Stadtverwaltung veröffentlichten Beitrag, der mit einer Videobotschaft des Bürgermeisters Wadym Boitschenko versehen war.
Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte spricht hingegen von 549 Zivilisten, die verifizierten Informationen zufolge seit dem Einmarsch Russlands am 24. Februar in der Ukraine gestorben sind. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, betont, dass die tatsächlichen Zahlen mit Sicherheit deutlich höher lägen. Mitarbeiter bräuchten oft Tage, um Opferzahlen zu überprüfen. Das Hochkommissariat gibt nur Zahlen bekannt, die es selbst unabhängig überprüft hat.
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Am Mittwoch war in Mariupol eine Geburts- und Kinderklinik durch russischen Beschuss zerstört worden. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge sind bei dem Angriff drei Menschen getötet worden. Darunter sei ein Kind, sagte er in einer im Fernsehen übertragenen Ansprache.
Selenskyj bezeichnete den Angriff in einer Videobotschaft als „Kriegsverbrechen“. Er fügte hinzu: „Die Bombardierung aus der Luft ist der letzte Beweis. Der Beweis, dass ein Völkermord an Ukrainern stattfindet.“ Er erneuerte seine Forderung an die westlichen Staats- und Regierungschefs, den ukrainischen „Luftraum für russische Raketen und Bomben zu schließen oder uns Kampfflugzeuge zu geben, damit wir es selbst machen können“.
Auf einem von der ukrainischen Präsidentschaft veröffentlichten Video ist zu sehen, wie das Innere der Klinikgebäude weggesprengt wird, Trümmer, Papier und Glasscherben auf dem Boden liegen. Auf einem anderen Video, das von der Facebook-Seite der nationalen Polizei veröffentlicht und außerhalb des Krankenhauses gedreht wurde, sind mehrere verkohlte Autos und ein großer Krater zu sehen, der als Folge des Luftangriffs entstanden ist.
Nach Angaben der lokalen Behörden wurden mehrere Bomben abgeworfen. Das ließ sich nicht überprüfen. „Die Zerstörung ist enorm“, teilte der Stadtrat mit. Angaben zu möglichen Opfern wurden zunächst nicht gemacht. In der Klinik seien kürzlich noch Kinder behandelt worden.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat die Vorwürfe des Angriffs auf die Klinik in Mariupol als Falschmeldung zurückgewiesen. Russland habe bereits am 7. März die Vereinten Nationen informiert, dass in der ehemaligen Klinik kein medizinisches Personal mehr sei, sondern ein Lager ultraradikaler Kämpfer des ukrainischen Bataillons Asow, sagte Lawrow am Donnerstag in Antalya nach Gesprächen mit seinem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba. Er sprach von einer „Manipulation“ der gesamten Welt mit Informationen zu mutmaßlichen Gräueltaten der russischen Armee.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wiederum hat die Vorwürfe, ultraradikale Kämpfer seien in der Geburtsklinik stationiert gewesen, als unwahr erklärt. „Die Russen wurden (im Fernsehen) damit belogen, dass angeblich in dem Krankenhaus keine Patienten und in dem Geburtshaus keine Frauen und Kinder waren“, sagte er in einer Videobotschaft. Das sei alles „Lüge“.
Unterdessen sind Rettungsaktionen in Mariupol abermals gescheitert. „Mariupol bleibt sowohl für die Evakuierung von Menschen als auch für humanitäre Hilfe vollständig blockiert“, sagte die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk der Agentur Ukrinform zufolge. Wegen Kämpfen direkt auf der Fluchtroute seien Lastwagen mit humanitärer Fracht nach Saporischschja zurückgekehrt. „Es ist der vierte Tag, an dem wir kein Wasser, keine Medikamente und keine Lebensmittel liefern können.“
2000 Menschen aus Isjum evakuiert
Während die Evakuierung von Zivilisten aus Mariupol erneut fehlschlug, konnten 2000 Menschen aus der Stadt Isjum im Osten des Landes gerettet werden. Das teilte der Leiter des Gebiets Charkiw, Oleh Synjehubow, auf Facebook mit. 44 Busse seien im Einsatz gewesen, um Bewohner in sichere Regionen zu fahren. In einem Video war zu sehen, wie Flaschen mit Trinkwasser und andere Lebensmittel in Lastwagen verladen wurden.
Weitere Angriffe aus der Luft – Einnahme mehrerer Stadtteile
Nach Angaben des Stadtrats hat es am Donnerstag neue Luftangriffe gegen Mariupol gegeben. In der Nähe eines Wohnhauses seien Bomben abgeworfen worden, teilte der Stadtrat am Mittag im Nachrichtenkanal Telegram mit. Die Technische Universität in der Nähe des Stadtzentrums sei getroffen worden. Angaben zu Opfern lagen zunächst nicht vor. Auf einem Video waren Einschläge zu sehen. Ein Platz war übersät mit Trümmern.
Der Stadtrat machte Russland für den Angriff verantwortlich. Moskau hat stets zurückgewiesen, zivile Ziele anzugreifen. Das russische Verteidigungsministerium kündigte zudem die Einnahme mehrerer Stadtteile der Stadt am Asowschen Meer an. Russische Truppen und Kämpfer aus Donezk stünden bereits am Stahlwerk Asow-Stahl, sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow.
Nach Zählung der Weltgesundheitsorganisation sind seit Beginn des Kriegs in der Ukraine mindestens 18 Kliniken, andere Gesundheitseinrichtungen oder Krankenwagen angegriffen worden. Mindestens zehn Menschen seien bei diesen Attacken getötet worden, teilte die WHO mit. Unklar war zunächst, ob in die Zahl bereits der Beschuss einer Entbindungsklinik in Mariupol am Mittwoch eingerechnet war.
Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau haben die russischen Truppen bislang 2911 Einrichtungen der militärischen Infrastruktur in der Ukraine zerstört. Russland hat wiederholt erklärt, in seinem von ihm sogenannten militärischen Sondereinsatz ausschließlich militärische Ziele anzugreifen. Vorwürfe, auch zivile Ziele wie Krankenhäuser und Schulen seien getroffen worden, weist die russische Führung zurück.
Kampfjets bombardieren Schytomyr – Angriffe auf Kiew und Charkiw
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs haben russische Streitkräfte ihre „offensive Operation“ zur Einkesselung der Hauptstadt Kiew fortgesetzt. Dem Lagebericht zufolge gab es auch in den Städten Petrowsk (Norden) Isjum, Hruschuwakha (beide im Osten), Sumy, Ochtyrka (beide im Nordosten) sowie in den Regionen Donezk und Saporischschja (Südosten) neue Angriffe.
Binnen weniger Tage hat sich die Frontlinie rund um die ukrainische Hauptstadt deutlich verschoben: Stand die russische Armee vor fünf Tagen noch rund hundert Kilometer nordöstlich von Kiew entfernt, näherten sie sich am Mittwoch der an Kiew grenzenden Stadt Browary, wie AFP-Reporter berichteten.
Nach britische Darstellung ist der lange russische Militärkonvoi nordwestlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew in der vergangenen Woche nur langsam vorangekommen. Zudem erleide er anhaltend Verluste, erklärt das Verteidigungsministerium in London. Da die Zahl der Opfer zunehme, werde der russische Präsident Wladimir Putin gezwungen sein, aus den russischen Streitkräften und anderen Quellen zu schöpfen, um die Verluste zu ersetzen. Es habe in den vergangenen Tagen auch einen bemerkenswerten Rückgang der gesamten Aktivität der Luftwaffe über der Ukraine gegeben.
Der Leiter der Militärverwaltung der Region Sumy, Dmytro Dschiwitsky, teilte am Donnerstag mit, dass bei einem nächtlichen Bombenangriff in Welyka Pyssariwka zwei Frauen und ein 13-jähriger Junge getötet worden seien.
Die ukrainische Stadt Schytomyr westlich von Kiew ist nach Angaben des Bürgermeisters von russischen Kampfjets bombardiert worden. Unter anderem seien am Mittwochabend zwei Krankenhäuser in Schytomyr getroffen, darunter eine Kinderklinik, erklärte Bürgermeister Serhij Suchomlyn auf Facebook. Die Zahl der Opfer werde noch ermittelt.
Fluchtkorridor und Feuerpause in Sumy
Den dritten Tag in Folge verlassen Zivilisten die Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine durch einen Fluchtkorridor. Es gelte wieder eine örtliche Feuerpause, teilt der Gouverneur der Region, Dmytro Schywyzkii, mit. Mehrere Tausend Menschen hätten die von russischen Truppen belagerte Stadt in dieser Woche bereits verlassen. Auch die nahe gelegenen Siedlungen Krasnopillja und Trostjanez würden evakuiert. „Die Kolonnen fahren ab. Die Feuerpause ist vereinbart!“
Separatisten in Luhansk melden Beschuss durch ukrainische Seite
Die ukrainische Armee soll binnen 24 Stunden sechsmal Ziele in der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk (LNR) beschossen haben. Das berichtete die russische Agentur Tass mit Berufung auf Vertreter der LNR am Donnerstag. Demnach wurde bei dem Beschuss mindestens eine Zivilistin in der Stadt Pervomajsk verletzt. Zudem seien eine Gasleitung und eine Stromleitung beschädigt, in der Folge nun zwei Dörfer ohne Strom. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.
Unterdessen hält die britische Regierung einen Einsatz russischer Söldner bei der Invasion in die Ukraine für wahrscheinlich. Das teilte das Verteidigungsministerium in London am Donnerstag mit. Die Briten gehen demnach von engen Kontakten zwischen Moskau und privaten russischen Militärunternehmen aus.
Angesichts deren Aktivitäten in anderen Ländern zeigte sich das britische Ministerium besorgt. „Private russische Militärunternehmen wurden für in mehreren Ländern wie Syrien, Libyen und der Zentralafrikanischen Republik für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht während sie für den russischen Staat im Einsatz waren“, heißt es in der Mitteilung.
Mehr als zwei Millionen Menschen haben das Land verlassen
Seit Beginn der russischen Invasion sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerkes UNHCR schätzungsweise 2,1 bis 2,2 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Die meisten gehen nach Polen. Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine sind dort 1,43 Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarland eingetroffen. Allein am Mittwoch hätten 117.600 Menschen die Grenze passiert, teilte der nationale Grenzschutz am Donnerstag auf Twitter mit. Inzwischen gehe die Zahl zurück. Eine Sprecherin der Behörde sagte zur Lage am Donnerstag: „Heute waren es bis 7 Uhr morgens 35 Prozent weniger als am Mittwochmorgen.“ Die Abfertigung an allen Grenzübergängen für Fußgänger und Autofahrer laufe fließend.
Die Zahl der in Deutschland eintreffenden ukrainischen Kriegsflüchtlinge nimmt weiter stetig zu. Die Bundespolizei registrierte seit dem Kriegsbeginn vor zwei Wochen bis Donnerstagvormittag 95.913 Menschen aus der Ukraine, wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums mitteilte. Damit erhöhte sich die Zahl seit Mittwoch um fast 15.900.
Die tatsächliche Zahl könne aber „bereits wesentlich höher“ sein, erläuterte der Sprecher. Es gebe zwar verstärkte Kontrollen der Bundespolizei, aber keine festen Grenzkontrollen.
Nach ukrainischen Angaben sind seit Beginn des Kriegs mindestens 71 Kinder getötet worden. Mehr als hundert Kinder seien zudem verletzt worden, teilte die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmyla Denisowa, in einer im Messengerdienst Telegram veröffentlichten Erklärung mit.
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