SPD-Politikerin Katja Mast über ihre Kindheit in Armut: “Meine Mutter hätte das Bundesverdienstkreuz verdient”

Spitzenpolitiker gelten als privilegiert und abgehoben. Die Fraktionsgeschäftsführerin der SPD, Katja Mast, hat in ihrer Kindheit Härten durchlebt. Im stern schildert sie, wie die Erfahrungen sie geprägt haben.

Frau Mast, Sie sind als Drittältestes von vier Kindern einer Alleinerziehenden aufgewachsen. Ihre Mutter war halbtags Reinigungskraft und musste mit Sozialhilfe aufstocken, weil Ihr Vater nach der Trennung keinen Unterhalt zahlte. Haben Sie sich als Kind arm gefühlt?
Ich habe mich nicht arm gefühlt, aber manchmal zurückgesetzt. Aber da waren auch immer Menschen, die mich unterstützt haben.

In welchen Momenten haben Sie besonders gespürt, wie knapp das Geld war?
Zum Beispiel beim Thema Kleidung. Ich konnte nie einfach so in die Stadt gehen und einkaufen gehen. Wenn etwas dringend benötigt wurde, hat meine Mutter es über den Otto-Versand bestellt, weil sie da in Raten zahlen konnte. Ich musste natürlich auch Kleidung auftragen. Ich erinnere mich, dass ich bei meiner Firmung die Flanellhose meiner Cousine tragen musste. Ich fand das schrecklich. Sonst hatte ich genau eine Jeans im Schrank. Die musste dann halt am Wochenende immer gewaschen werden.

Wo mussten Sie sich noch einschränken? Beim Essen?
Nein. Wir hatten einen Garten und deshalb immer viel Obst und Gemüse. Aber als ich Teenager war, sind meine Freundinnen sonntags immer in die nächstgrößere Stadt zum Eisessen gefahren. Ich bin nie mit, weil ich mir so etwas nicht leisten konnte. Auch mussten wir vor jeder Klassenfahrt beim Amt einen Antrag auf Finanzierung stellen. Und später bei den Jusos-Sitzungen habe ich immer meine Tupperdose mit Tomatensalat dabei, während die anderen sich eine Pizza bestellt haben. 

Haben Sie die Geldsorgen Ihrer Mutter mitbekommen? 
Ja. Wenn die Waschmaschine kaputt war oder der Kühlschrank, war das ein Riesenthema zuhause. Meine Mutter wusste lange nicht, dass sie in ihrer Situation Sozialhilfe beantragen kann. Als sie es wusste, war das trotzdem nochmal ein schwerer Schritt, weil sie sich geschämt hat, zum Amt zu gehen. Ihr ganzes Leben hat sie hart gearbeitet. Ich habe früh angefangen zu jobben, etwa Zeitungen ausgetragen oder in Läden bei der Inventur geholfen, um meine Mutter auch finanziell zu entlasten. Und ich habe sie bei jedem Gang aufs Amt begleitet und früh die Anträge geschrieben. Gleichzeitig haben immer auch meine Geschwister meinen Weg unterstützt. 

Sie selbst gingen zunächst auf die Hauptschule und wechselten erst in der 7. Klasse aufs Wirtschaftsgymnasium. Weil Ihre Lehrer Ihnen nicht zutrauten, als Kind aus armer Familie das Gymnasium zu schaffen?
Die Hauptschulempfehlung nach der vierten Klasse war verbunden mit dem Satz: “Deine Eltern haben sich gerade getrennt, bei euch ist so viel los, probiere es doch später mit dem Gymnasium.” Und das habe ich dann ja auch gemacht.

Ich habe geheult wie ein Schlosshund

Eine merkwürdige Begründung.
Aber im Nachhinein war sie richtig und ich bin ja meinen Weg gegangen. Ich hatte auch immer wieder Lehrer, die mich unterstützt haben. Kurz nach meinem Wechsel aufs Gymnasium schrieb ich eine 6 im Englisch-Diktat. Ich habe geheult wie ein Schlosshund und wollte wieder auf die Hauptschule zurück. Da nahm mich eine ältere Lehrerin beiseite, klopfte mir tröstend auf die Schulter und sagte: “Du schaffst das schon, Mädchen.”

Was hat Ihnen geholfen, es zu schaffen?
Meine Mutter hat immer an mich geglaubt und mir vertraut, dass ich meinen Weg gehe. Auch wenn sie nicht genau wusste, was ich mache. Als ich nach meiner Banklehre bereits studierte, fragte sie mich immer: “Was macht die Schule?” Ich habe versucht zu erklären, dass ich jetzt auf die Uni gehe, wie das abläuft – es war ja eine ganz neue Welt für mich. Es hat etwas gedauert, bis ich begriff, dass für sie Lernen mit Schule verbunden war.

Was hat Sie motiviert, in die Politik zu gehen? 
Ich habe mich schon früh für Politik interessiert, habe mich in der Schulgemeinschaft engagiert. Mich hat das Thema Umwelt sehr geprägt. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie ich voller Elan zu Hause wollte, dass wir Milch in Flaschen kaufen statt im Tetra-Pack um Müll zu vermeiden. Wir konnten uns die aber nicht leisten, sondern haben weiter Milch aus Tüten gekauft. Schon da wurde mir klar: Klima- und Umweltschutz muss sich jeder leisten können, darum bin ich auch zu den Jusos und der SPD gekommen und nicht etwa zu den Grünen gegangen. Außerdem habe ich früh gelernt, wie sehr sich schon kleine Gesetzesänderungen auf unser Leben ausgewirkt haben. Wir waren zuhause ja total abhängig davon. 

Zum Beispiel?
Ich habe den Sozialhilfeantrag für meine Mutter gestellt. Prägend war für mich die Änderung, dass man die Hälfte seines Bafögs wieder zurückzahlen muss. In meinem Fall bedeutete das, dass ich mein Berufsleben auf einen Schlag mit einem Kredit beginnen musste, weil ich von zuhause aus keine finanzielle Unterstützung hatte. Das war schon eine Hürde für mich – auch deshalb habe ich zuerst eine Ausbildung gemacht. Hätte es damals Studiengebühren gegeben, hätte ich niemals studiert, aus Angst vor dem Schuldenberg.

Ihr Vater hat Sie kein bisschen unterstützt?
Er hatte meine Mutter verlassen, als ich in der dritten Klasse war. Meine Mutter bekam keinen regelmäßigen Unterhalt von ihm. Im Studium musste ich für meinen Bafög-Antrag immer die Einkommensbescheide beider Eltern vorlegen, aber mein Vater gab mir seinen oft nicht. Ich bekam deshalb oft monatelang kein Bafög. Einmal musste ich sogar auf Einreichen des Einkommensbescheids klagen. Ein anderes Mal verdiente er so viel, dass mein Bafög gekürzt wurde. Es ging um fast 100 D-Mark – das war viel Geld für mich. Leider musste ich einen Anwalt einschalten, der dann das Geld eingefordert hat. Jeden Monat – ein Jahr lang. 

Haben Sie Ihren Kontakt zu ihm abgebrochen?
Das war keine aktive Entscheidung meinerseits – das fand einfach statt.

Sie zählen mit Ihrer Biografie zu den Ausnahmen im Bundestag. Ist das manchmal ein Vorteil?
Ich würde es nicht Vorteil nennen, aber mich prägt, dass ich weiß, wie hart das Leben sein kann. Manchmal werde ich gefragt: Was ist das Wichtigste, was du politisch jemals durchgesetzt hast? Ich könnte da mit dem Mindestlohn oder der Grundrente antworten, weil ich bei beidem aktiv mitgewirkt habe. Aber für mich war es etwas anderes: In der letzten Legislatur haben wir durchgesetzt, dass arme Kinder Nachhilfe auch dann finanziert bekommen, wenn sie noch nicht akut versetzungsgefährdet sind. Ich weiß, das kann eine Biografie dauerhaft beeinflussen und eröffnet Kindern neue Chancen. Und genau das zeigt, es macht einen Unterschied wer Gesetze verhandelt mit welcher Biographie. Und das ist dann ein Vorteil für viele Kinder mit einer ähnlichen Biografie. 

Nervt Sie, dass manche Abgeordnete große Reden über Menschen in Armut halten, ohne die Situation wirklich zu kennen?
Ja, das nervt mich manchmal. Denn da geht es ja oft um Menschen wie meine Mutter, die sich dieses Leben nicht ausgesucht haben, sondern durch einen Schicksalsschlag in ihre prekäre Lage kamen. Der eine oder andere Politiker tut so, als ob das aus Faulheit geschehe. Meine Mutter hätte das Bundesverdienstkreuz verdient für das, was sie für uns Kinder getan hat. Sie hat vier Kinder groß gezogen, die alle ihren Weg gehen. Auch heute ringen viele Männer und Frauen wie meine Mutter damals darum, unter widrigsten Bedingungen den Alltag zu organisieren und ihren Kindern Sicherheit und Geborgenheit zu geben. Das wird in der politischen Debatte nicht ausreichend gesehen. Es gibt unzählige Mütter wie meine, die alles für ihre Kinder tun und selbst immer zurückstecken. Darum sind manche Debatten, die rund ums Bürgergeld oder die Kindergrundsicherung geführt werden, auch so schäbig. Von Rechts heißt es immer, das Geld würde eh nicht bei den Kindern ankommen, sondern von den Eltern verbraten. Meine Biografie zeigt mir, dass es anders ist – und auch viele Studien belegen das. 

Was können Politikerinnen und Politiker tun, um den Eindruck entgegenzuwirken, sie hätten keine Ahnung mehr von der Realität?
Wir müssen mehr über unsere Biografien reden, besser erklären, woher wir politisch kommen. Natürlich habe ich auch ein Leben jenseits des Bundestags, als Pflegemutter habe ich ganz eigene Eindrücke. Meine zwei Kinder machen mich und meine Politik reicher und ich bin dankbar, dass ich sie auf ihrem Weg begleiten darf. Das ist ein täglicher und manchmal schwieriger Spagat, den viele Familien oft noch viel härter erleben. Gleichzeitig wird unser demokratisches Engagement sehr bewusst von der AfD verhetzt. Das trifft die vielen ehrenamtlich Engagierten in der Kommunalpolitik noch stärker. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen.  

Katja Mast im Bundestag mit Kanzler Olaf Scholz

Kanzler Olaf Scholz mit Katja Mast im Bundestag. Sie gilt als absolut loyal.

© Imago Images

Wie Ihre Mutter schämen sich immer noch viele Menschen, Sozialhilfe zu beantragen. Was kann Politik da tun?
Der Gang zum Amt ist leider für viele immer noch stigmatisiert. Aber für die Beantragung von Sozialleistung muss man sich nicht schämen. Dennoch sollte unsere Pflicht sein, dass noch mehr Leistungen einfacher und automatischer zu den Menschen kommen.

Auch das Bürgergeld sollte dazu beitragen. Nun steht es im Feuer der Debatte, wie konnte das unter einem SPD-Kanzler passieren?
Das hat ja nichts mit dem Kanzler zu tun. Schuld daran ist vor allem die Union, die jeden Tag behauptet Arbeit würde sich nicht lohnen, obwohl es nicht stimmt. Arbeit lohnt sich immer. Man verdient immer mehrere hundert Euro mehr als wenn man nicht arbeitet. Denn wir haben ja auch noch das Wohngeld und den Kinderzuschlag stark verbessert – beides Geld, das man bekommt, wenn man genug für sich selbst verdient, aber es eben nicht für die Kinder reicht. Ja man muss das beantragen, aber es hilft und ich kann nur den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Beantragen sie es – warten Sie nicht so lange wie meine Mutter. 

Die Debatte ums Bürgergeld hat die SPD trotzdem verloren.
Die CDU hat dem Bürgergeld vor einem Jahr zugestimmt – also auch Friedrich Merz und Jens Spahn. Das Bundesverfassungsgericht hat uns gesagt, wir brauchen ein menschenwürdiges Existenzminimum. Nichts anderes ist das Bürgergeld. Nun ist die dauerhafte Vermittlung in Arbeit das klare Ziel. Darum stärken wir die Aus- und Weiterbildung. Das Versprechen ist: Jeder kann sich auf den Sozialstaat verlassen. Schicksalsschläge können passieren. Aber wir erwarten auch, dass man alles tut, in Arbeit zu kommen. Die Koalition hat im Bundestag dieses Projekt hart verteidigt. Das war ein richtig guter Ampel-Moment.  

Aber Ihr eigener Koalitionspartner, die FDP, wollte die Erhöhung des Bürgergelds zum Jahreswechsel stoppen, forderte eine Nullrunde für 2025. Auch so ein Ampel-Moment?
Das wäre so kurzfristig gar nicht mehr möglich gewesen, die Bürgergeld-Erhöhung zu stoppen. Die Höhe wird ja nicht irgendwie gewürfelt, sondern von Expertinnen und Experten in einer komplexen Rechnung sehr fein austariert. Deswegen handelt es sich auch keinesfalls um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Es ist eine Grundsicherung. Es lohnt sich zu jedem Zeitpunkt zu arbeiten. Und wer will, dass sich Arbeit lohnt, muss auch für höhere Löhne sorgen – das haben wir mit der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro gemacht, da hat übrigens die CDU nicht mitgemacht. 

Auch Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine bekommen das Bürgergeld ausgezahlt, was den Staat auch kommendes Jahr mehrere Milliarden Euro kosten dürfte. 
Das Bürgergeld entlastet vor allem die Kommunen und Bundesländer, da der Bund einen Großteil der Kosten trägt. Nun geht es darum, die vor Krieg geflohenen Ukrainerinnen und Ukrainer schneller in Arbeit zu bekommen. Hierfür gibt es jetzt den Job-Turbo für Menschen die die Sprachkurse gerade abschließen. So lassen sich am effektivsten die Kosten senken – nicht durch Kürzungen – sondern durch Vermittlung in dauerhafte Arbeit. 

Wie lautet Ihr Neujahrsvorsatz für die Ampel?
Weniger öffentliche Auseinandersetzung über Detailfragen und gemeinsam, wie jetzt beim Haushalt, nach draußen gehen, wenn es eine Lösung gibt.  

Mit Verlaub: “gemeinsam” bedeutet in diesem Fall, dass Scholz, Lindner und Habeck den Haushalt praktisch im Alleingang verhandelt haben.
Erstmal haben sie überwiegend zu dritt verhandelt. Jetzt kommt der Haushalt 2024 ins Parlament und zu und den Bundestagsabgeordneten. Der Prozess ist noch nicht zu Ende. Der Haushalt wird im Bundestag verabschiedet. Natürlich werden wir an der einen oder anderen Stelle nochmal rangehen.

Haben Sie eigentlich noch Freunde aus Ihrer Jugend?
Ja, natürlich, dafür bin ich sehr dankbar. 

Wie reagieren die eigentlich auf das, was gerade in Berlin passiert?
Die können gut trennen zwischen der SPD-Politikerin Katja Mast und der Freundin Katja. Und wie überall finden die natürlich nicht immer alles gut, was wir hier machen. Aber sie fragen auch, warum Dinge sind wie sie sind: gibt es verlässliche Kita-Öffnungszeiten, bezahlbare Wohnungen und wie wird sich Deutschland wirtschaftlich entwickeln?

Hat Ihre Mutter Ihre politische Karriere noch miterlebt?
Sie ist schon vor einigen Jahren gestorben. Aber sie hat noch miterlebt, wie ich in den Bundestag kam. Sie wurde oft an der Bushaltestelle in unserem Heimatort auf mich angesprochen. Sie hat sich selbst lange als alleinerziehende Sozialhilfeempfängerin trotz Arbeit stigmatisiert gefühlt. Wenn ich als Kind in der Schule oder mit dem Turnverein Veranstaltungen hatte, ist sie deshalb meistens nicht mitgekommen. Weil sie sich für ihre Situation geschämt hat. Nun war ihre Tochter im Bundestag. Da war sie schon sehr stolz.

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