Sonderweg in Schweden: So gut sind sie durch die Pandemie gekommen

Schweden hat mit seinem laxeren Kurs in der Corona-Pandemie international für Aufsehen gesorgt. Jetzt will das Land alle Beschränkungen aufheben. Wie hat sich das Land mit seinem Sonderweg geschlagen?

Der “schwedische Sonderweg” – ein Begriff, der besonders im ersten Jahr der Corona-Pandemie weltweit für viel Beachtung sorgte. Während viele andere Länder in den Lockdown gingen, Schulen, Geschäfte, Gastronomie und vieles mehr schlossen, ging Schweden einen anderen Weg. Man schickte nicht alle Schüler:innen ins Homeschooling. Viele Geschäfte blieben offen und auch ein Restaurantbesuch waren möglich. Maskenpflicht? Gab es nie. Für die einen war das die richtige Strategie. Hier und da konnte man auf Demonstrationen gegen die deutsche Corona-Politik eine schwedische Fahne sehen.

Die anderen reagierten mit Kopfschütteln auf den schwedischen Weg. Ausführlich berichteten Medien über den “Sonderweg” der Schweden, nicht selten wurde er kritisiert – auch im stern.

Sehr bald gehören die vergleichsweise lockeren Corona-Maßnahmen Schwedens der Vergangenheit an. Ab dem 9. Februar sollen fast alle Restriktionen aufgehoben werden. “Die Pandemie ist nicht vorbei, aber wir stehen am Beginn einer komplett neuen Phase”, sagte Ministerpräsidentin Magdalena Andersson am Donnerstag. Verschiedene Studien hätten gezeigt, dass die Omikron-Variante des Virus “zu weniger schweren Erkrankungen” führe. Trotz der hohen Neuinfektionszahlen sei die Zahl der Intensivpatienten stabil geblieben. Die Impfzahlen seien zudem hoch. Dies zusammengenommen bedeute eine neue Lage, sagte die Regierungschefin.

Sperrstunde und Impfnachweis werden abgeschafft

In Schweden haben bereits mehr als 83 Prozent der Menschen über zwölf Jahren zwei Corona-Impfstoffdosen erhalten. Rund die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung ist dreifach gegen das Virus geimpft. Da steht Deutschland ähnlich gut da: Hier liegt die Booster-Quote bei allen über 18-Jährigen bei 63,1 Prozent. Auch die Quote der doppelt Geimpften bei den über 12-Jährigen ist in Deutschland ähnlich hoch.

Nach Inkrafttreten der Lockerungen am Mittwoch kommender Woche fällt die Sperrstunde für Bars und Restaurants, die bisher ab 23.00 Uhr gilt. Die Begrenzung von Besucherzahlen bei Veranstaltungen wird aufgehoben, ebenso die Pflicht zum Vorzeigen eines Impfnachweises bei Veranstaltungen in Innenräumen. Auch die Empfehlung zum Tragen einer Maske im öffentlichen Verkehr zu Stoßzeiten will die Regierung aufheben.

Schrittweise Lockerungen soll es nach Regierungsangaben bei der Rückkehr von Angestellten aus dem Homeoffice ins Büro sowie beim Übergang von der digitalen Lehre zum Präsenzunterricht an Hochschulen geben. Für Ungeimpfte soll auch nach Inkrafttreten der Lockerungen die Empfehlung gelten, große Menschenansammlungen zu vermeiden.

Viele Ältere in Schweden während der Pandemie gestorben

“Auch wenn die Pandemie in eine andere Phase eingetreten ist, ist sie definitiv noch nicht vorbei”, betonte der schwedische Chef-Epidemiologe Anders Tegnell aber. Er hält es auch für wichtig, auf eine Veränderung der Situation vorbereitet zu sein – und sich weiterhin impfen zu lassen. “Wenn wir anfangen, diese Teile zu verlieren, besteht ein großes Risiko, dass wir wieder in Schwierigkeiten geraten.” Dennoch: “Ich glaube, dass wir an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn wir die Einschränkungen nicht entsprechend der Entwicklung, die wir bei der Ausbreitung von Infektionen sehen, korrigieren.” Es sei nicht vernünftig, dass die Krankheit als gefährlich für die Gesellschaft angesehen werde, sagt er.

Schweden lässt die Pandemie also hinter sich. Aber wie hat sich das Land in den zwei Jahren geschlagen?

Was vor allem zu Beginn der Pandemie kritisiert wurde, war die hohe Sterberate in Schweden. Landesweit starben in dem Zehn-Millionen-Einwohner-Land seit Pandemiebeginn mehr als 16.000 Menschen im Zusammenhang mit dem Coronavirus. In der zweiten und dritten Corona-Welle Ende 2020 bzw. Anfang 2021 wies das Land im europäischen Vergleich sehr hohe Ansteckungs- und Todeszahlen auf.

Ein Untersuchungsbericht der Gesundheitsaufsicht vom November 2020 zur ersten Pandemie-Welle stellte fest, dass das Ziel, die vulnerablen Gruppen (Alte und Kranke) zu schützen, verfehlt wurde. Demnach waren drei Viertel der Corona-Toten pflegebedürftig. Ein sehr großer Teil der Toten war älter als 70 Jahre.


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Empfehlungen und Freiwilligkeit hätten “mäßig gut funktioniert”

Auch wirtschaftlich war der Lockdown-freie Weg der Schweden nicht besonders erfolgreich. Eine Rezession konnte nicht verhindert werden. Die Gründe dafür waren einerseits ein deutlich zurückgegangener Konsum und andererseits auch die Unternehmen, die weniger investierten oder ihre Mitarbeitenden ins Homeoffice schickten oder sogar ganz Stellen abbauten. Das Bruttoinlandsprodukt ging im Jahr 2020 um 2,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurück. Einen stärkeren Einbruch konnte man nur mit umfangreichen Wirtschaftshilfen des Staates verhindern. Die Erwerbslosenquote lag Ende 2020 um ein Drittel höher als im Jahr zuvor.

Auch die Wissenschaft hat sich mit dem Sonderweg der Schweden beschäftigt. Unter anderem Arash Heydarian Pashakhanlou von der Swedish Defence University. Im Juni vergangenen Jahres schrieb er in seinem Artikel “Sweden’s coronavirus strategy: The Public Health Agency and the sites of controversy” zu dem viel kritisierten Ansatz der Gesundheitsbehörden, auf Freiwilligkeit bei vielen Corona-Maßnahmen zu setzen: “Insgesamt deuten die verfügbaren Daten darauf hin, dass sich ein beträchtlicher Teil der schwedischen Bevölkerung die freiwilligen Empfehlungen der Gesundheitsbehörden zu Herzen genommen hat. (…) Als solches deuten die verfügbaren Beweise darauf hin, dass der Voluntarismus mäßig gut funktioniert hat.”

Viele ältere Menschen in Schweden hätten während der Pandemie scheinbar vorzeitig ihr Leben verloren, so Pashakhanlou. “Es ist unmöglich, die Zahl der Leben zu beziffern, die durch früheres Testen und Umsetzen der von der Gesundheitsbehörde herausgegebenen Empfehlungen hätten gerettet werden können.” Er betont aber, dass die Verantwortung bei Pflege bei den jeweiligen Kommunen liege – und nicht bei der staatlichen Gesundheitsbehörde.

Bericht: schlechter Schutz für die Älteren

Ein Bericht der staatlichen Corona-Untersuchungskommission, die die schwedische Corona-Politik bewertete, vom Oktober vergangenen Jahres kommt zu dem Schluss: “In den Zeiträumen März – Juni 2020 und November 2020 – Januar 2021 war die Sterblichkeit in Schweden deutlich höher als im gleichen Zeitraum der Vorjahre.”

Weiter heißt es in dem mehr als 800 Seiten starken Bericht, dass das Risiko, an Covid-19 zu sterben, für Menschen verschiedener Bevölkerungsgruppen ähnlich strukturiert war wie das Risiko, an anderen Ursachen zu sterben. Jedoch sei das Risiko für im Ausland Geborene höher und bemerkenswert hoch für ältere Menschen in Alten- und Pflegeheimen gewesen. Bei älteren Menschen in Alten- und Pflegeheimen sei das Risiko, an Covid-19 zu sterben, während der zweiten Welle der Pandemie unverändert hoch. “Das finden wir sehr enttäuschend. Als wir unseren ersten Bericht schrieben, hofften wir, dass die Erfahrungen in der Altenpflege aus der ersten Welle zu einem besseren Schutz älterer Menschen in speziellen Einrichtungen führen würden. Das war offensichtlich nicht der Fall”, konkludiert die Untersuchungskommission. Besonders über Mitarbeitende sei das Coronavirus in die Pflegeeinrichtungen gelangt.

Zudem habe es in den Bevölkerungsgruppen, die das größte Risiko hatten, an schwerem Covid-19 zu erkranken, eine geringere Testneigung gegeben. “Darüber hinaus finden wir es bemerkenswert, dass selbst in der zweiten und dritten Welle der Pandemie ein so erheblicher Anteil von Covid-19-Patienten ohne vorherigen positiven Test ins Krankenhaus eingeliefert wurde.”

Schwedische Pandemievorsorge “unterdurchschnittlich”

Gleichzeitig unterstreicht der Bericht, dass die Isolation und die Reduktion von Kontakten zu einer Verschlechterung des Wohlbefindens bei vielen Menschen geführt habe. Besonders bei Menschen mit Suchtproblemen habe dies zu einer Verschärfung der Lage oder zu Rückfällen geführt. Einsamkeit habe sich verschlimmert.

In ihrer Zusammenfassung des Berichts heißt es: “Schwedens Umgang mit der Pandemie war von Verzögerungen geprägt. Die anfänglichen Schutzmaßnahmen gegen die Infektion reichten nicht aus, um die Ausbreitung der Infektion im Land zu stoppen oder gar stark einzuschränken.” So kritisiert die Kommission, dass die schwedische Pandemievorsorge unterdurchschnittlich gewesen sei. Die Gesetzgebung zur Infektionskontrolle sei unzureichend, “um einem schweren Ausbruch einer Epidemie oder Pandemie zu begegnen.”

Die Königliche Wissenschaftsakademie in Schweden schaute ebenfalls darauf und stellte sich in einem Bericht vom vergangenen November die Frage “Was können wir aus der Pandemie lernen?” Auch hier wird die mangelhafte Vorbereitung zu Beginn der Pandemie kritisiert. “Vor allem in der Altenpflege trug die mangelnde Vorbereitung zu der hohen Sterblichkeitsrate in Schweden in der ersten Phase der Pandemie bei. Unter anderem fehlte es an Schutzmaterial, aber auch an einer ausreichenden Einsicht in die luftübertragene Infektion und damit an der Notwendigkeit eines Mundschutzes / einer Gesichtsmaske für alle, die mit älteren Menschen in Kontakt kommen.” Für Pflegekräfte sei es oft unmöglich gewesen, die erwartete Verantwortung für die Sicherheit der Benutzer zu übernehmen.

Strategie habe wahrscheinlich zu höheren Zahlen in Schweden geführt

Die geringe Testkapazität zu Beginn der Pandemie könnte laut dem Report dazu geführt haben, dass die tatsächliche Ausbreitung der Infektion im Land überschätzt wurde. Auch in den Krankenhäusern sei die Vorbereitung auf eine pandemische Lage unzureichend gewesen. Die schwedische Impfstrategie hingegen sei zufriedenstellend, so die Wissenschaftler:innen.

Sie kommen zu dem Schluss: “Die schwedische Pandemiestrategie hat wahrscheinlich zu Schwedens deutlich höheren Infektions-, Krankheits- und Todesraten im Vergleich zu Dänemark, Norwegen und Finnland beigetragen.” Die Einschleppung von Infektionen aus dem Ausland sowie das Begrenzen lokaler Ausbrüche seien nur wenig berücksichtigt worden. “Die Lehren aus der ersten Welle mit einer hohen Zahl von Infizierten reichten nicht aus, um die erwartete zweite Ansteckungswelle zu bewältigen. Sehr wenig von den Erfahrungen anderer Länder wurde genutzt, um die ansteckenderen Alpha- und Delta-Varianten zu bekämpfen, als sie unser Land erreichten”, konkludieren sie.

Weitere Quellen: “Der neue Kosmos Weltalmanach 2022”, “Aftonbladet”, SVT, “Dagens Nyheter”

mit Material der DPA und AFP

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