Schafft Deutschland die Energiewende? – Wirtschaft

Zwischen Berlin-Moabit und Cuxhaven, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft dieses Konzerns, liegen immerhin ein paar Hundert Kilometer, je nach Tagesform der Bahn und ihrer Züge sind das ungefähr vier Stunden mit ICE und RE. Und es liegen mehr als 100 Jahre dazwischen, in denen viel passiert ist. Mit dem Energietechnik-Unternehmen, das früher einmal ein Teil von Siemens war, vor ein paar Jahren abgespalten wurde und heute Siemens Energy heißt. Und mit der Art und Weise, wie man Energie produziert, sowieso.

Jahrzehntelang ging es in diesem Unternehmen vor allem um Öl und Gas. Und jetzt soll über Nacht alles anders und vor allem sauberer werden. Kommt man da als Unternehmen überhaupt noch mit?

Man kann diese kleine Reise beginnen in einer Fabrikhalle in Berlin-Moabit, die 1909 fertig gebaut wurde und mit ihren alten Fenstern ein bisschen an eine dieser großen Markthallen des vorvergangenen Jahrhunderts erinnert. Schon früh wurden hier Dampfturbinen zusammengesetzt, irgendwann Gasturbinen für die Stromerzeugung in Kraftwerken. Dann kamen die Energiewende und die Gewissheit, dass das Zeitalter der fossilen Energien allmählich ausläuft.

Alles ist irgendwann museumsreif. Auch Gasturbinen

Vor der Halle hat man jedenfalls schon mal die Vergangenheit ausgestellt. Eine über hundert Jahre alte, rot angemalte Turbine. So wie sie dasteht, umgeben von Asphalt und Grün, erinnert sie daran, dass früher oder später alles mal ein Fall fürs Museum werden kann. Auch alte Energietechnik. Spätestens aber, wenn so ein altes Teil da draußen steht, braucht man etwas Neues, wenn man als Unternehmen mit mehr als 90 000 Mitarbeitern im Geschäft bleiben will. Und darum geht es hier: Der Konzern, der seit über 175 Jahren schon so ziemlich überall mit dabei war, von Dampfturbinen bis zu Atomkraftwerken, der für Milliarden Dollar einen amerikanischen Fracking-Zulieferer gekauft hat, muss sich gerade neu erfinden. Die Frage ist: Schafft Siemens Energy die Energiewende? Oder schafft die Energiewende Siemens Energy?

Womit man nun bei der Zukunft wäre. Da, wo es nach salzigem Nebel riecht, sich große Pötte an grünen Wiesen vorbeischlängeln und wo die Siemens-Energy-Tochter Gamesa moderne Windkraftturbinen für die Energiewende baut. Eine Wende, die sich in diesen Tagen ziemlich stürmisch und nass anfühlt, denn in Cuxhaven peitscht einem Regen und kräftiger Wind ins Gesicht. So schnell schon wieder Herbst, obwohl doch gerade erst Mitte Mai ist? Andererseits ist das ja auch sehr passend, denn es geht schließlich um Windkraft. Je fieser das Wetter, desto besser ist das.

Das 373 000 Quadratmeter große Industrieareal steht am Wasser, also da, wo es hingehört. Denn die Windkraftanlagen, die hier gebaut werden, gehen oft per Schiff an Kunden in der Welt. Man kann sie natürlich aber auch gleich ein paar Kilometer vor der Küste von Cuxhaven ins Meer rammen, Wind gibt es ja genug. “Offshore” heißen diese Windparks, die auf dem Meer vor der Küste errichtet werden, um den Wind für den Strom an Land einzufangen. Strom, den man dringend braucht, denn bis 2030 soll der Stromverbrauch in Deutschland zu mindestens 80 Prozent aus erneuerbaren Energien gedeckt werden. Das ist ein großes Ziel. Als man die Windturbinen-Fabrik 2017 auf die grüne Wiese setzte, da ahnte man natürlich noch nicht, wie schnell sich die Sache mit dem billigen russischen Gas schon bald erledigen würde.

500 Tonnen schwere Maschinenhäuser, jedes so groß wie ein kleines Reihenhaus

Wer also der Energiewende bei ihrer Industrialisierung zusehen will, ist hier richtig: Die Riesenmaschinen für die Anlagen, die irgendwann vor den Küsten aus dem Wasser ragen, stehen hier aufgereiht wie kleine Reihenhäuser. Eines dieser Häuser verlässt pro Tag die Fabrik, 500 Tonnen schwere Teile aus massivem Stahl. Dazu diese Schrauben! Wem hier vielleicht gerade die Bastler-Teile aus dem Baumarkt einfallen: Diese hier sehen eher nach Zehn-Kilo-Hanteln aus dem Sportstudio aus als nach Hobbykeller-Schräubchen.

In der Cuxhavener Fabrik werden Maschinen für Windturbinen von der Größe kleiner Reihenhäuser gefertigt.

(Foto: Sina Schuldt/dpa)

Draußen pfeift weiter der Wind, in einem Konferenzsaal sitzt der Siemens-Gamesa-Chef und erklärt, warum das alles hier nicht so einfach ist, wie es aussieht. “Windkraftanlagenbauer wie Siemens Gamesa leben gerade in einem schwierigen Umfeld”, sagt Jochen Eickholt. Diese Zeit werde nicht “von heute auf morgen” vorbei sein. Das klingt erst einmal paradox. Windkraftanlagen werden wegen der ambitionierten Klimaziele vieler Länder gebraucht, die Nachfrage ist da und wird noch weiter boomen. Aber Geld verdienen lässt sich damit zurzeit: herzlich wenig. Gründe dafür gibt es einige.

Da sind die hausgemachten Probleme des deutsch-spanischen Konzerns mit Sitz im spanischen Bilbao, der vor sechs Jahren aus der Fusion der Siemens-Windsparte mit der spanischen Gamesa hervorging. Kulturunterschiede, Managementprobleme, dazu technische Fehlschläge, jahrelange Verluste. Dazu kommen jene Probleme, die alle haben. Energietechnikunternehmen wie Siemens Gamesa arbeiten gerade noch alte Bestellungen und Verträge ab mit festen Verkaufspreisen, die schon länger festgelegt sind. Dumm nur: In der Zwischenzeit stiegen die Einkaufspreise für Rohstoffe, etwa für Stahl und Seltene Erden, massiv an. Das sind Verschiebungen, die man nicht so einfach an die Kunden weitergeben kann. Es ist wie so oft in der Wirtschaft: Die Aufträge sind da, die Nachfrage steigt. Aber es rechnet sich nicht – schon gar nicht, solange alte Bestellungen nicht durch neue ersetzt werden.

Und dann wäre da noch etwas, das Eickholt sehr stört.

Chinesische Anbieter mit billigeren Angeboten landen auf einem Markt, auf dem der Zuschlag oft an den günstigsten Anbieter geht. “Es macht es für uns nicht einfacher, dass wir es am Markt mit großen chinesischen Anbietern zu tun haben, die nach komplett anderen Regeln spielen”, sagt er. Mit Subventionen und Exporthilfen aus Peking hat man es am Weltmarkt eben leichter als europäische oder amerikanische Konkurrenten.

Durchhalten, aussitzen, weitermachen

Das Ganze erinnert nicht zufällig an die Solarindustrie, bei der deutsche Firmen einmal führend waren, bis die Konkurrenz aus Fernost die Preise drückte und die anderen vom Markt fegte. “Wir möchten in der Windbranche keine zweite Photovoltaikindustrie werden”, sagt Eickholt. Hilft also nichts: durchhalten, aussitzen, weitermachen, auch wenn die Genehmigungsverfahren bei Windkraftanlagen und Netzen kompliziert sind. Weitermachen trotz der chinesischen Konkurrenz.

Nun wirkt Eickholt nicht wie ein Manager, der die Brocken hinwirft, weil ihn das alles nervt. Und auch nicht wie jemand, der geduldig wartet und seinen Leuten in Deutschland und Spanien alle Zeit der Welt gibt. Es dürfte also kein Zufall sein, dass der Konzern – nach einigen Managerwechseln in den vergangenen Jahren – ausgerechnet diesen Mann an die Spitze von Siemens Gamesa gesetzt hat. Im großen Siemens-Reich gilt er als Mann für besonders schwierige Fälle. Bevor man ihn als Sanierer zu den Windturbinen holte, hatte er schon einige unmögliche Missionen auf dem Tisch, so auch die Probleme beim ICE in der Zugsparte. Im Konzern sagt man: Der muss es jetzt endlich bringen.

Ein Weg wäre: sich einfach mal aus der Krise herauszuquatschen

Durchhalten, das ist auch die Parole, die der Siemens-Energy-Chef Christian Bruch ausgibt. Er sitzt an diesem Nachmittag in einem Gewerkschaftshaus (ausgerechnet) in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs und formuliert bemerkenswert lakonische Sätze, von denen einer so klingt: “Man kann sich in die Krise hineinquatschen, man kann sich aber auch aus ihr herausquatschen.” Reingequatscht hat man sich in diese Krise ja schon längst. Also bitte sehr!

Energiewende: Siemens Energy-Chef Christian Bruch sagt, er verbringe gerade "sehr viel Zeit mit Wind".

Siemens Energy-Chef Christian Bruch sagt, er verbringe gerade “sehr viel Zeit mit Wind”.

(Foto: Andreas Pohlmann/Siemens AG)

Der Siemens-Energy-Chef sagt, er glaube “weiterhin daran, dass man mit Wind erfolgreiche Geschäfte machen kann”. Er selbst verbringe “gerade jedenfalls sehr viel Zeit mit Wind”, was man ihm angesichts der großen Probleme durchaus glauben darf. Bruch sieht das Energiegeschäft nun erst “am Anfang einer ziemlichen Investitionswelle”. Jetzt muss man nur noch eines: Geld verdienen.

Wegen der ambitionierten Klimaziele boomt die Nachfrage. Nur: Geld verdienen lässt sich damit nicht

Wenn der Konzern insgesamt wächst, der Umsatz im vergangenen Quartal um 22 Prozent auf acht Milliarden Euro steigt, die Aufträge auf Rekordhöhe liegen und am Ende trotzdem Verluste herauskommen, dann liegt das nicht an Gasturbinen oder Stromnetzen. Dann liegt das an den roten Zahlen der Windkraftanlagen. Mit dem Gasgeschäft, einer Energietechnik aus der Vergangenheit, verdient der Konzern gerade das Geld, das er im Zukunftsgeschäft noch verliert.

Es ist noch gar nicht so lange her, da schien die Sparte mit Gasturbinen nicht viel mehr zu sein als die “bad bank” eines Konzerns, der auf Wind und grüne Technologien setzt. Dann wurde klar, dass Gaskraftwerke immer noch gebraucht werden – als Technologie für den Übergang. Neue Gaskraftwerke sollen helfen, wenn der Strom aus erneuerbaren Energiequellen mal nicht reicht, und sie sollen dann auch mit Wasserstoff arbeiten.

Die Energiewende kann ziemlich kompliziert sein.

Von Cuxhaven also nun wieder nach Berlin-Moabit, hinein in die rot geklinkerte Industriearchitektur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dahin, wo in riesigen alten Hallen gigantische Turbinen gebaut werden. Wo Schilder vor glänzenden Stahl-Kolossen stehen, auf denen genau festgehalten ist, wo die Reise demnächst hingehen soll: Südkorea, China, Großbritannien, Mexiko. Es ist ja nicht so, dass sich diese Turbinen überhaupt nicht mehr verkaufen würden, im Gegenteil. Der Konzern hat auf diesem sehr engen Markt einen Anteil von 30 Prozent, die Konkurrenten sind General Electric (GE) aus den USA und der japanische Hitachi-Konzern. 20 bis 30 Gasturbinen im Jahr werden in der Berliner Halle gebaut, viele können später auch auf umweltfreundlicheren Wasserstoff umgerüstet werden. Das Geschäft mit den Gasturbinen ist also noch längst nicht erledigt, die Vergangenheit ist gerade auch Gegenwart.

Energiewende: Blick in die Vergangenheit? In Berlin-Moabit montiert Siemens Turbinenschaufeln für Gaskraftwerke.

Blick in die Vergangenheit? In Berlin-Moabit montiert Siemens Turbinenschaufeln für Gaskraftwerke.

(Foto: Rainer Weisflog/imago)

Power from Berlin! Echt jetzt?

An der Wand der Fabrikhalle hängt ein großes Plakat, auf dem steht: “Power from Berlin”. Energie aus Berlin? Interessant. Wer glaubt, dass diese Stadt ihre Energie vor allem aus Clubs wie dem Berghain bezieht, der war noch nicht in der Berliner Huttenstraße 12.

In einem Gebäude nebenan sitzt der Siemens-Energy-Manager Tim Holt, auch er gehört zu den Menschen, die die Energiewende planen müssen. Vor sich ein Körbchen mit Croissants, einen Kaffee und einen Joghurtbecher, hinter sich eine Präsentation, mit deren Hilfe er gleich erklären wird, was neben Wind- und Gasturbinen sonst noch wichtig ist. Holt ist im Vorstand unter anderem zuständig für Stromübertragungsnetze. Grüne Energie produzieren ist die eine Sache – sie quer über den europäischen Kontinent zu schaffen, eine andere. “Kohlekraftwerke würden länger laufen, wenn der Netzausbau nicht so schnell geht”, warnt er. Das will natürlich keiner.

Also geht es jetzt darum, schnell zu sein. Wegen der Energiewende, die sonst wohl nicht funktioniert, aber natürlich auch wegen Holts Unternehmen, das gerade sehr damit beschäftigt ist, sein Geschäft der Energiewende anzupassen. Das Ziel, bis 2030 bereits 80 Prozent erneuerbare Energien zu nutzen, hält der Manager für “sehr ambitioniert”. Er zeigt nun Landkarten, Grafiken und Tabellen, die die Energiewende auf einem halben Dutzend Schaubildern zusammenfassen.

2600 Eifeltürme – wo soll man die bloß hernehmen?

Es sind Schaubilder, die zeigen, dass man noch so ambitionierte Zukunftspläne für die Energiewende haben kann – ohne einen gigantischen Netzausbau geht es nicht. Das Netz müsse “in den nächsten Jahren und Jahrzehnten verdoppelt” werden, um all den Strom über das Land zu transportieren. Und er rechnet vor: Für sämtliche bis 2035 geplante Anlagen zur sogenannten Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung, mit denen Windfarmen mit dem Stromnetz verbunden werden, braucht es 15,6 Millionen Tonnen Stahl. Für Paris-Fans: Das entspricht in etwa 2600 Eifeltürmen. Die muss man natürlich auch erst mal irgendwoher nehmen.

Dazu kommen noch einmal 700 000 Halbleiter und eine Million Tonnen Kupfer. Einen großen Teil davon liefert China, ohne China keine Energiewende. “Die Rohstoffversorgung ist für unsere Branche eine kritische Sache”, sagt Holt. Eine Kupfermine wolle man jetzt aber trotzdem nicht kaufen. Dann schon lieber in den USA investieren, wo in den kommenden Jahren so viel in die Stromnetze gesteckt werden müsse wie in den vergangenen 150 Jahren zusammen. Die Zukunft, sie findet überall statt, nicht nur in Europa, sondern gerade auch in den USA, wo Präsident Joe Biden mit seinem Anti-Inflations-Gesetz und staatlichen Subventionen Unternehmen für Projekte im Bereich Erneuerbare Energien gewinnen will. Davon möchte Siemens Energy profitieren. Viel Geld will der Konzern auch in sogenannte Elektrolyseure investieren, die grünen Wasserstoff produzieren können. Von diesem Herbst an will man die Maschinen dafür selbst in Berlin bauen, denn auch grüner Wasserstoff ist so ein Ding, das man in sehr großen Mengen braucht, wenn man sich von der fossilen Energiewelt verabschieden will.

Die Energiewende als Videospiel – wenn die Sache nur so einfach wäre

Abschied, Neuanfang, Vergangenheit, Zukunft. In einem Nebengebäude der alten Berliner Fabrik gibt es einen dunklen Raum mit bunt animierten Installationen. Hier wird die Energiewende als Videospiel und Gaming-Attraktion aufgeführt. Wenn man so will, ist es das Programmkino von Siemens Energy, und der Film geht so: Man drückt auf einen Knopf und zieht wahlweise die Kohle oder auch die Atomkraft aus dem Spiel. Ein Warnsignal: “Alert! Your energy output is too low.” Zu wenig Energie im Netz, jetzt wird es instabil. Drohen Stromausfälle? Blackouts? Höchste Zeit, mehr Windenergie einzuspeisen oder mehr grünen Wasserstoff in die Gasturbinen zu geben. Dafür gibt es bei diesem Videospiel die richtigen Knöpfe. So geht das eine Weile hin und her, und irgendwann ist das ganze System dann: dekarbonisiert.

Alles auf Grün, alles ist gut, die Energiewende abgeschlossen. Klingt gut, sieht auch super aus. Wenn nur die Sache da draußen auch so einfach wäre.

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