Russlands isolierte Wirtschaft: Putin kann sich den Krieg nicht ewig leisten

Militärisch hält Russland die Welt in Atem. Ökonomisch gehört das größte Land der Welt im besten Fall zur Mittelklasse. Ein Blick auf eine Nation, deren Wirtschaft den Ambitionen ihres Autokraten weit hinterherhinkt – und für dessen Angriff teuer bezahlt.

Auf einmal war er da, der Krieg in Europa. Russlands Invasion der Ukraine markiert eine Zäsur, eine “Zeitenwende”. Der Überfall einer Supermacht auf ein Nachbarland hat auf brutalste Weise gezeigt, wie instabil die vermeintlich gefestigte Weltordnung des 21. Jahrhunderts, wie zerbrechlich dieses durch globalisierten Handel zusammengeschweißte Konstrukt in Wahrheit ist.

Die Vorstellung, dass nach den mehrfach erfolglosen Verhandlungen russischer und ukrainischer Delegierter die neuesten Gespräche in Istanbul tatsächlich den Beginn einer Deeskalation bedeuten könnten, ist mit äußerster Vorsicht zu genießen. Ob die Ankündigung des Kreml, russische Militäroperationen in der Region Kiew “radikal” zu reduzieren ein erster Schritt in Richtung Frieden ist, oder ob es sich doch nur um Kriegstaktik handelt, darüber streiten die Experten völlig zurecht. Dennoch macht es eines deutlich: Wladimir Putin kann sich diesen Krieg nicht auf ewig leisten. Er ist zu teuer.

Putin hatte für einen Blitzsieg gespart, muss nun aber für einen Langzeitkonflikt bezahlen. Denn, dass die Ukrainer mehr als fünf Wochen erfolgreich Widerstand leisten würden, war ganz offensichtlich nicht einkalkuliert. Russland kämpft weit über seine Verhältnisse – und kann sich das auf Dauer nicht erlauben. Zwar gehört die Russische Föderation zu den militärischen Supermächten. Wirtschaftlich ist das flächenmäßig größte Land der Erde jedoch ein kleines Licht.

Wie kommt es, dass eine Nation, die für sich selbst eine tragende Rolle auf der politischen Weltbühne in Anspruch nimmt, ökonomisch derart hinter den eigenen Großmachtfantasien hinterherhinkt?

Abhängigkeit vom Rohstoffhandel – die “Holländische Krankheit”

Eigentlich hatte Russland alles, was es braucht, um seinen Ambitionen gerecht zu werden. Nach seiner Machtübernahme vor rund 22 Jahren brachte Wladimir Putin den mit der Umstellung von Plan- zur Markwirtschaft überforderten Staat zunächst tatsächlich auf Erfolgskurs. Als überaus machtbewusstes neues Staatsoberhaupt krempelte er die Wirtschaft um und etablierte ein System, dessen Führung zu großen Teilen beim Staat – und damit bei Putin selbst liegt.

Zwei Jahrzehnte später sucht man Russland unter den Top Ten der stärksten Volkswirtschaften der Welt vergebens. Kanada, Frankreich, Indien, ja selbst Italien und Südkorea, in denen zusammengenommen weniger als halb so viele Menschen wie in Russland leben, hatten 2020 jeweils ein größeres Bruttoinlandsprodukt. Daten des Internationalen Währungsfonds zufolge belegt Russland mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1,47 Milliarden US-Dollar gerade einmal Platz elf im internationalen Spitzenranking. Zum Vergleich: Die deutsche Wirtschaftskraft übertraf 2020 die der vermeintlichen Weltmacht um weit mehr als das Doppelte.

Die Hauptursache: Russlands größte ökonomische Stärke ist gleichzeitig seine größte Schwäche. Das ganze Land sei “im Grunde eine große Tankstelle”, fasste es Jason Furman, Wirtschaftsexperte von der Harvard-Universität und früherer Berater von US-Präsident Barack Obama, kurz vor Invasionsbeginn für die “New York Times” zusammen. “Visual Capitalist” zufolge sind heute acht der zehn größten Firmen Russlands Rohstoffproduzenten – vier davon kontrolliert der Kreml. Diese extreme Fokussierung raube der Industrie Fachkräfte, weswegen andere Branchen international kaum konkurrenzfähig seien, erklärte der Wirtschafts­wissenschaftler Janis Kluge in einem Beitrag des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) Ende Januar. Experten sprächen in diesem Zusammenhang von der sogenannten “Holländischen Krankheit”, die in der Volkswirtschaftslehre die negativen Auswirkungen beschreibt, die der Rohstoffsektor auf andere Wirtschaftszweige hat. Laut Germany Trade and Invest (GTAI), dem Nachfolger der Bundesagentur für Außenwirtschaft, scheuen private Investoren ebenfalls den russischen Markt – zu sehr fürchteten sie institutionelle Risiken wie Korruption, Bürokratie und fehlende Rechtssicherheit.

Abschottung als Geschäftsmodell

Bereits lange bevor die ersten Panzer über ukrainischen Boden rollten, gehörten westliche Sanktionen – wenn auch nicht in der heutigen Härte – fast schon zum russischen Alltag. Das hatte zur Folge, dass sich das Land (mit Ausnahme des existentiellen Rohstoffexports) zunehmend von der Weltwirtschaft abkapselte. “Stabilität über Wachstum” lautete demnach die Devise. Der Rubel soll rollen, doch lieber langsam und stetig.

“Die Behörden haben gelernt, dass ihre Politik funktioniert hat – soweit es sie betrifft. Der Ansatz der ‘Festung Russland’ hat ihnen gute Dienste geleistet, und dafür können sie sich wahrscheinlich auf die Schulter klopfen”, zitierte die “Moscow Times” Elina Ribakova, stellvertretende Chefvolkswirtin am Institute of International Finance in Washington, D.C.

GTAI zufolge bestand die oberste Priorität des Kreml deshalb in der Bildung von Rücklagen: 550 Milliarden Euro Gold- und Devisenreserven soll Moskau Anfang Dezember 2021 gehortet haben – ein neuer Rekord. Der Zweck liegt auf der Hand: den Staatshaushalt für neue, weitaus schärfere Sanktionen zu wappnen. Auch die Staatsschulden waren mit 18 Prozent des BIP vor Invasionsbeginn sehr niedrig und der “Moscow Times” zufolge zum Großteil an den Rubel gebunden. Dies sollte als zusätzlicher Schutz dienen, sollte Russlands vom internationalen Zahlungsverkehr und Finanzmarkt ausgeschlossen werden.

Dass der Westen den Überfall auf die Ukraine abstrafen würden, darauf hat sich der Kreml ganz offensichtlich vorbereitet. Dass die Sanktionen allerdings so schnell und so hart ausfielen, dürfte Putin und seinen Hofstaat dann doch überrascht haben.

Der russischen Währung droht die Hyperinflation

Die russische Volkswirtschaft kränkelte schon vor dem Überfall auf die Ukraine. Fünf Wochen später droht dem Land der ökonomische Kollaps. Praktisch über Nacht seien “die 40-jährigen Bemühungen des Landes um den Aufbau einer florierenden Marktwirtschaft […] gescheitert”, heißt es in einem Bericht des US-Nachrichtensenders CNBC. Einer Mitteilung des Institute of International Finance zufolge soll die russische Wirtschaft in diesem Jahr um 15, im nächsten Jahr um weitere drei Prozent schrumpfen. Kurzum: Bis Ende 2023 macht die Invasion 15 Jahre Wirtschaftswachstum zunichte.



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Dem Kreml gehen die Optionen aus: Die auf ausländischen Konten geparkten Geldreserven im Wert von Hunderten Milliarden Euro, die den Rubel zumindest zweitweise auf Kurs halten sollten, sind unerreichbar, vom Westen eingefroren. Die Regierung bemüht sich verzweifelt, den freien Fall des Rubel abzubremsen; die russische Währung hatte zwischenzeitlich fast 40 Prozent seines Wertes gegenüber dem Euro verloren. Die Staatskonzerne Gazprom und Rosneft wurden deshalb von der Zentralbank verpflichtet, innerhalb kurzer Zeit 80 Prozent ihrer Einnahmen aus Energielieferungen in Rubel umzutauschen. “Für die psychologische Wirkung der Sanktionen ist sie vielleicht das wichtigste Maß, denn der Rubel drückt aus, wie es der Wirtschaft geht”, sagte Russlandexperte Kluge in einem Interview mit der “Tagesschau”. Dass sich der Rubel inzwischen etwas stabilisiert hat, ist CNBC zufolge mehr Schein als Sein: “Der Rubel wurde praktisch zu Spielgeld in einer im Wesentlichen fiktiven Wirtschaft.”

In einer Analyse für die “Washington Post” beschreibt Robert Person, Professor für Internationale Beziehungen an der United States Military Academy, den Teufelskreis, in dem Russland beim Versuch den Rubel künstlich am Leben zu erhalten, gefangen ist. Vor Kurzem habe Moskau den Leitzins von 9,5 auf 20 Prozent angehoben, um den Wechselkurs zu stützen. Denn jeder, der Rubel besitzt, will ihn loswerden. Das wiederum treibt die Inflationsspirale noch weiter in die Höhe, da der Markt mit der ohnehin schon billigem Währung überschwemmt wird. Um sich vor einer Hyperinflation “im Stil der Weimarer Republik” zu schützen, sei der Staat zu einer massiven Kontrolle der Geldströme übergegangen, schreibt Person weiter. So dürfen zum Beispiel ausländische Investoren große Investitionen nicht mehr auszahlen, russische Bürger Rubel nicht mehr in Dollar umtauschen und maximal 10.000 Dollar von ihren Konten abheben.

Exodus der Unternehmen: das Ende des Westens in Russland

Dieser Krieg sei “ökonomisch völlig unsinnig”, fasst Marcus Keupp, Dozent für Militärökonomie an der Militärakademie der ETH Zürich im “ZDF-Morgenmagazin” zusammen. Vor allem die Zivilbevölkerung werde unter der wirtschaftlichen Isolation leiden. Der Wertverlust des Rubel trifft besonders die in den vergangenen Jahrzehnten aufstrebende russische Mittelschicht – schließlich ist ihr Vermögen in Rubel im Ausland zunehmend nutzlos. Die Folge: Mehr als 200.000 Akademiker und Fachkräfte haben ihrer Heimat inzwischen den Rücken gekehrt (der stern berichtete). Diese als “Brain Drain” bezeichnete Migration qualifizierter Arbeitskräfte stürzt Russland noch tiefer in die Rezession, so das IIF.  

Was die Russinnen und Russen schon jetzt sehen, ist der Rückzug Dutzender namhafter westlicher Unternehmen. Die Schließung von McDonald’s-, Levis- und Starbucksfilialen habe auch symbolischen Charakter, verstärke sie doch das Gefühl der Isolation, so CNBC. Wirtschaftlich härter träfe Russland aber der Abgang von Ölgiganten wie Shell, BP und Exxon. Auch, dass Unternehmen wie Visa, Mastercard, PayPal und American Express ihre Dienste eingestellt haben, ist für Russland ein Problem. Indem der Staat auf chinesische Bezahldienste ausweicht, begibt sich das Land weiter in die ohnehin schon gravierende Abhängigkeit Pekings.

Die meisten dieser Konzerne kehren Russland allerdings nicht den Rücken, um ihren guten Ruf zu schützen, sagt Maximillian Hess vom Eurasien-Programm des gemeinnützigen Foreign Policy Research Institute. Vielmehr täten sie dies im Wissen, “dass sie aufgrund der Sanktionen auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein werden, Zahlungen abzuwickeln und Geld in das und aus dem Land zu transferieren.” Eine Rückkehr sei Investitionsexperten zufolge zumindest in den kommenden zwei Jahren unwahrscheinlich. Hess sagt voraus, dass die Russen in fünf Jahren “in einer Art Version der 90er Jahre und möglicherweise sogar in einer noch schlimmeren Situation leben werden.”

Autarkie Kriegsmaschinerie

Dass die russische Wirtschaft auf Dauer dem Druck der Sanktionen nicht Stand halten kann, ist die eine Sache. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig das Ende des Kriegs in der Ukraine. “Man muss eines ganz klar sehen: Die russische Rüstungsindustrie ist autark”, erklärt Keupp im “ZDF-Morgenmagazin”. Selbst, wenn sich der Westen dazu entschließe, den Import von russischem Öl und Gas zu stoppen, würde die Kriegsmaschinerie weiterlaufen. Denn von den elf Millionen Barrel Öl, die Russland täglich fördere, würden allein drei Millionen für den Eigenverbrauch verwendet. Im Notfall könne Putin zudem auf die Milliarden des sogenannten Stabilisierungsfonds, einem Sondervermögen des Kreml, zurückgreifen. Hinzukommt: “Das Teuerste an diesem Krieg – Geräte wie Panzer, Raketen oder Flugzeuge – wurde bereits in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gebaut und ist damit schon finanziert”, so Experte Kluge gegenüber der “Tagesschau”. Die laufenden Kriegskosten fielen demnach weniger ins Gewicht.

Auf der anderen Seite sind bereits Tausende russische Soldaten Putins Machtgier zum Opfer gefallen. Diese Leben sind – so geschmacklos es auch klingt und ist – ein Kostenpunkt. Wie das australische Medienportal “The Conversation” berichtet, lasse eine grobe Schätzung der Lebenserwartung und des Pro-Kopf-BIP darauf schließen, dass 10.000 getötete Soldaten Russland mehr als vier Milliarden Dollar kosten würden. Das sei für das Regime allerdings finanziell verkraftbar: Schließlich entschädige der Kreml die Hinterbliebenen in Rubel – dessen Wert ohnehin nur künstlich am Leben gehalten wird.



Ukraine veröffentlicht die Kosten der russischen Invasion

Militärischer Sieg als wirtschaftliche Niederlage

Die russische Rüstungsindustrie mag unter dem Druck andauernder Sanktionen weiterproduzieren können. Der Rest des Landes kann es nicht. Schon jetzt schlittert Russland in eine tiefe Rezession – und das ist erst der Anfang. Der Niedergang passiere aber nicht von heute auf morgen, sondern sei ein “langsamer, kontinuierlicher Verfallsprozess”, meint Keupp.

Ratingagenturen haben die Kreditwürdigkeit Russlands bereits auf Ramschniveau heruntergesetzt. Das Land werde “nie wieder in der Lage sein, Kredite zu den Zinsen aufzunehmen, zu denen es in den letzten Jahren Kredite aufnehmen konnte”, prognostiziert Ökonom Maximilian Hess laut CNBC. Weil eine Lockerung der Sanktionen nicht mal annähernd in Sicht ist, haben die beiden US-Finanzdienstleister JPMorgan und MSCI haben angekündigt, Russland aus den Aktienindizes zu streichen. Ein weiterer Sargnagel für das auf ausländische Investitionen angewiesene Schwellenland.

Einem auf lange Sicht isolierten Russland bliebe nichts anderes übrig, als sich noch tiefer in die offenen Arme seines “felsenfesten” Freundes China fallen zu lassen. Seine Freundschaft würde sich Peking allerdings fürstlich entlohnen lassen. Wie viele Autokraten fußt auch Putins Macht nicht zuletzt auf dem Versprechen des wirtschaftlichen Aufschwungs. Kann er diesen langfristig nicht mehr garantieren, könnte es auch für den vermeintlich unantastbaren Kremlchef gefährlich werden. Wie der Iran stünde Russland dann als isolierte Atommacht da, völlig entfremdet von der Weltöffentlichkeit, wie es in einer Analyse des Nachrichtenportals “Bloomberg” heißt. Moskau würde zu einem “Teheran an der Wolga”.

Selbst, wenn die Ukraine am Ende tatsächlich an Russland fiele, so “The Conversation”, müsste der Kreml den Wiederaufbau dessen finanzieren, was russische Bomben über Wochen in Schutt und Asche gelegt haben. Zum anderen würde die Mehrheit der Ukrainer die Russen nicht als Befreier, sondern als Besatzer wahrnehmen – die Aufrechterhaltung des “Friedens” würde Moskau Unsummen kosten. Wie teuer die Instandhaltung eines Besatzerregimes ist, zeige das Beispiel Tschetschenien. Nach zwei Kriegen gebe der Kreml dort jährlich bis zu 3,8 Milliarden Dollar aus, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten – die Krim verschlänge ähnliche Summen. Nun leben in der Ukraine allerdings 40-mal mehr Menschen als in Tschetschenien, die Rechnung ergibt sich von selbst.

Egal, was der Kreml als nächstes unternimmt: Der Überfall auf die Ukraine war ein gewaltiger Fehler – für den Russland am Ende bezahlt. Buchstäblich.  

Weitere Quellen: “Redaktionsnetzwerk Deutschland“; “Moscow Times”; “New York Times”; “CNBC”; “Bloomberg”  “The Conversation”; “Washington Post”; “Reuters”; “Tagesschau”; “ZDF-Morgenmagazin” (Youtube)

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