Russland im Unklaren zu lassen, sei das Beste: Friedensforscherin im Interview

Waffenlieferungen und die Forderung nach Verhandlungen seien kein Gegensatz, sagt die Friedensforscherin Nicole Deitelhoff. Im Interview spricht sie auch über die Telefonate westlicher Politiker mit Putin und darüber, wie schwer es ist, die Verhandlungsbereitschaft von Kriegsparteien zu erkennen.

Von Hubertus Volmer

Dieser Beitrag erschien zuerst bei ntv.de. 

ntv.de: Sie haben neulich auf Twitter geschrieben, dass eine klare Befürwortung militärischer Unterstützung der Ukraine oft mit Verachtung für Verhandlungen einhergeht. An wen oder was dachten Sie dabei?
Nicole Deitelhoff: Mir ging es da insbesondere um Reaktionen auf einen Essay, den Jürgen Habermas in der “Süddeutschen Zeitung” veröffentlicht hatte. Ich fand, dass es dabei zu einer Verengung der Debatte gekommen war, wo auf einmal jedem, der für Friedensverhandlungen plädiert, vorgeworfen wurde, keine Ahnung von der Ukraine zu haben oder bereit zu sein, die Ukraine zu opfern. Vor allem auf Twitter hat Habermas viel Gegenwind bekommen, sein Text wurde als “Rotz” bezeichnet, als “Schnodder”, als seniles Geschwätz. Das ist kein Qualitätsausweis einer gesunden Debatte.

Professorin Nicole Deitelhoff ist Direktorin der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und lehrt Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main

© Jürgen Heinrich / Imago Images

Schließen die Forderung nach Verhandlungen und die nach Waffenlieferungen sich denn aus?
Nein, natürlich nicht. Die Waffenlieferungen sind ein Instrument der Diplomatie. Sie sollen die Ukraine in die Lage versetzen, Russland zurückzudrängen und dadurch helfen, ein Verhandlungsfenster zu öffnen.

Und wie können wir beispielsweise erkennen, ob die Ukraine bereit ist, über Gebietsabtretungen zu verhandeln? In den Äußerungen ukrainischer Politiker findet sich da derzeit kein Hinweis.
Vor Verhandlungsbeginn machen Verhandlungsparteien keine Zugeständnisse, sondern stellen ihre Maximalpositionen in den Vordergrund. Das ist bei allen Verhandlungen zwischen Kriegsparteien so. Man will nicht die eigene Verhandlungsposition schwächen. Spielräume werden erst hinter verschlossenen Türen ausgelotet. Öffentlich werden wir vermutlich nicht erkennen, dass es eine Bereitschaft dazu gibt – allenfalls durch subtile Zeichen.

Wie könnten die aussehen?
Es könnte sein, dass man eine unerwartete Geste sieht. Beispielsweise könnte eine Seite die Chance auf einen militärischen Vorstoß ungenutzt verstreichen lassen. Oder vielleicht wird auf einem anderen Handlungsfeld ein Angebot gemacht. Das könnte etwa das Thema Gefangenenaustausch sein. Der läuft seit Monaten relativ geräuschlos. Aber den Beginn der Verhandlungen werden wir mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mitbekommen, auch der wird hinter verschlossenen Türen ausgehandelt. Deshalb gibt es ja die ganzen Gespräche zwischen den Unterstützerländern der Ukraine und Russlands. Das ist der Grund, warum Scholz und Macron noch mit Putin reden: weil sie den Moment erkennen wollen, an dem es vielleicht doch eine Aufweichung der Positionen gibt.

Auf der Kundgebung von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht wurde der Vorwurf erhoben, dass Diplomatie nicht stattfinde.
Gespräche finden die ganze Zeit statt, das ist doch offensichtlich. Es gibt den Gefangenenaustausch, es gibt das Getreideabkommen. Selbst Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk sind über den Gefangenenaustausch wieder in die Ukraine zurückgekommen. Das Getreideabkommen steht vor dem Auslaufen, deshalb laufen jetzt Verhandlungen, ob und unter welchen Bedingungen es verlängert wird. All das ist ein Ausdruck von Diplomatie. Aber auch die militärische Unterstützung oder die Sanktionen sind Ausdruck von Diplomatie!

Kreml-Sprecher Peskow sagte im November, Russland werde seine Ziele “entweder durch den militärischen Sondereinsatz oder in Gesprächen” erreichen. Sie haben schon gesagt, dass es normal ist, dass Kriegsparteien ihre Maximalpositionen betonen, aber Russland ist in diesem Krieg nicht einfach nur Kriegspartei, sondern der Aggressor.
Russland ist in diesem Krieg tatsächlich ein Sonderfall. Zwar zeigen derzeit beide Seiten kein Interesse an Verhandlungen, aber für die Ukraine geht es um etwas anderes als für Russland. Bekäme die Ukraine den Eindruck vermittelt, dass es eine grundsätzliche Bereitschaft der russischen Seite gäbe, sich zumindest hinter die Grenzen vom 23. Februar 2022 zurückzuziehen, wäre sie, so glaube ich, sofort verhandlungsbereit. Auf der russischen Seite ist es anders. Hier sehen wir eigentlich immer nur eine Wiederholung oder sogar Radikalisierung der Kriegsziele.

Wie würden wir merken, wenn die Russen verhandlungsbereit wären?
Verhandlungsbereitschaft wäre erkennbar, wenn sich an den Kriegsnarrativen etwas ändern würde. Russland könnte etwa Verhandlungsbereitschaft signalisieren, wenn dort nicht mehr davon gesprochen würde, dass die vier annektierten ukrainischen Oblaste zum “Kernterritorium” der Russischen Föderation gehören. Das wäre ein sehr großer Schritt. Für wahrscheinlicher halte ich es, dass Russland versuchen würde, bei der Formulierung der Kriegsziele Abschichtungen vorzunehmen.

Zum Beispiel?
Eine Möglichkeit wäre, dass Russland nicht mehr davon spricht, dass die “Entnazifizierung” und “Demilitarisierung” der Ukraine das Ziel ist, sondern stärker darüber, dass von der Ukraine keine Sicherheitsbedrohung für Russland ausgehen soll. Dann könnte man darüber verhandeln, wie das geschehen könnte.

Russland hat seine Kriegsziele bislang mit unscharfen Propagandabegriffen wie eben der “Entnazifizierung” und “Demilitarisierung” umrissen. Wir wissen also gar nicht so genau, was Russland will. Haben Sie eine These, wie Russlands aktuelle Kriegsziele aussehen?
Ich stecke da genauso im Nebel wie alle anderen. Aber ich nehme an, das russische Minimalziel dürfte der Donbass sein, der Landzugang zur Krim und die Krim selbst natürlich. Zugleich glaube ich nicht, dass sie das Ziel aufgegeben haben, die gesamte Ukraine niederzuwerfen. Mit diesem Ziel hat Putin die Hardliner von der Kette gelassen, da kommt er kaum noch raus – selbst wenn er eingesehen haben sollte, dass es schwierig wird.

Ist dies für Russland eher ein ideologisch getriebener oder ein von geostrategischen Interessen getriebener Krieg?
Hier paaren sich geostrategische Interessen mit einer ideologischen Rechtfertigung. Geostrategisch ging es Putin darum, zu verhindern, dass ein relativ großer Nachbarstaat sich möglicherweise dem westlichen Bündnis anschließt. Man kann fragen, ob ein solches Motiv legitim ist, aber diese Frage spielt keine Rolle, wenn es darum geht, einen Krieg zu verhindern oder zu beenden. Diese geostrategische Frage ist stark ideologisch unterfüttert. Für Putin geht es eben auch darum, dass die Ukraine aus seiner Sicht keine eigenständige Nation ist, sondern zu Russland gehört und nur durch vom Westen installierte Marionettenregierungen davon abgehalten wird, das einzusehen.

Woran sind die Verhandlungen im Frühjahr 2022 zwischen der Ukraine und Russland gescheitert? Wagenknecht sagt, die Türkei und der damalige israelische Ministerpräsident Bennett hätten zu vermitteln versucht, und diese Verhandlungen seien “nicht an der russischen Seite gescheitert”, sondern an den USA und Großbritannien.
Genaueres werden uns die Historikerinnen und Historiker in 50 Jahren dazu sagen können. Die USA und Großbritannien waren im Frühjahr sicherlich skeptisch, ob man Zusicherungen Russlands glauben könnte. Dass sie diese Gespräche aber blockiert hätten, halte ich für unplausibel. Es gab ja dieses berühmte fünfstündige Interview mit Naftali Bennett. Es wurde auf Hebräisch geführt, und offenbar gab es da mehrere Übersetzungsprobleme. Er selbst hat danach erklärt, dass er nicht sagen wollte, dass die USA und Großbritannien tatsächlich die Gespräche blockiert hätten.

Woran sind die Gespräche dann gescheitert?
Zum endgültigen Scheitern führte aus meiner Sicht, dass Russland ankündigte, als vertrauensbildende Maßnahme die russischen Truppen aus dem Raum Kiew abzuziehen – und direkt im Anschluss mit diesen Truppen die große Donbass-Offensive gestartet hat. Verbunden mit dem Abzug aus Kiew war auch die Offenlegung der Massaker von Butscha und an anderen Orten. Das war das Ende der Gespräche. Das Scheitern ist also weder der Ukraine noch Großbritannien oder den USA anzukreiden, sondern der russischen Führung und den russischen Truppen, die diese Verbrechen begangen haben.

Wie schätzen Sie die Chancen auf Verhandlungen derzeit ein?
Ich würde nie sagen, dass es gar keine Chancen für Verhandlungen gibt. Aber die Wahrscheinlichkeit ist gering. Die russische Seite hat sehr deutlich gemacht, dass sie nach wie vor davon ausgeht, dass sie ihre Ziele militärisch durchsetzen kann, und sie versucht das auch mit Macht. Deswegen hat Russland jüngst auch den ohnehin schwachen “Friedensplan” Chinas zurückgewiesen. In Bachmut wird unter Inkaufnahme großer Verluste um wenige Meter Land gekämpft. Der russischen Führung ist es offenkundig egal, ob es auf ihrer Seite dabei Verluste von 50 bis 70 Prozent pro Kampfeinheit gibt.

Die Ukraine hofft derweil auf baldige Waffenlieferungen aus dem Westen, um dann in einer Frühjahrsoffensive Land zurückzugewinnen und Russland unter Druck setzen zu können. Gleichzeitig hat die ukrainische Regierung ein Dekret verabschiedet, dass es ihr verbietet, direkt mit Putin zu verhandeln. Das macht es auch nicht leichter. Beide Seiten glauben, dass sie das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verändern können. Beide Seiten haben sich innenpolitisch die Hände gebunden – Putin durch die von ihm selbst aufgestachelten Hardliner. Das macht Verhandlungen nicht sehr wahrscheinlich.

Wenn wir die Interessen der Ukraine, selbst ihr Interesse, als Staat und Staatsvolk zu überleben, mal komplett ignorieren: Welches Vorgehen ist für den Westen riskanter – der Ukraine Waffen zu liefern oder ihr keine Waffen zu liefern?
Es wäre riskanter, der Ukraine keine Waffen zu liefern. Was würde dann passieren? Solche Prognosen sind schwierig, aber vermutlich könnte die Ukraine ein bis zwei Monate durchhalten, bevor sie militärisch unterliegt. In diesem Moment gäbe es keinerlei Anreiz für die Russische Föderation, Abstriche von ihren Kriegszielen zu machen – ganz im Gegenteil. Sie könnte die Ukraine überrollen, sie könnte Säuberungen vornehmen, wie wir sie bereits in den besetzten Gebieten gesehen haben, sie könnte in Kiew ein Marionettenregime einsetzen. Ein paar Monate später würde dieses Marionettenregime wahrscheinlich einen Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation stellen. Russland würde deutlich näher an die NATO heranrücken. Und wir hätten es mit einem Russland zu tun, das gelernt hätte, dass ein Krieg sich lohnt, um seine Interessen durchzusetzen.

Um einen hohen Preis.
Russland müsste sich von diesem Krieg erst erholen, ja, aber aus russischer Sicht würde die Lektion lauten: Es kann teuer werden, es kann blutig werden, aber am Ende gewinnen wir. Es könnte sich dann die nächsten Ziele vornehmen – Georgien beispielsweise und Moldau. Auch die Nordostflanke der NATO, das Baltikum, wäre in ganz anderer Weise gefährdet als heute. Natürlich wäre letzteres immer noch unwahrscheinlich wegen des nuklearen Risikos. Aber eine Situation, in der Akteure bis zur Grenze nuklearer Eskalation militärische Gewalt zur Interessendurchsetzung einsetzen, hat einen noch höheren Preis für Europas Sicherheit.

Und das Risiko, das sich mit den Waffenlieferungen verbindet?
Hier besteht das Risiko, dass Russland die Waffenlieferungen zum Anlass einer nuklearen Eskalation nimmt. Dieses Risiko will der Westen möglichst kleinhalten – in der Ukraine, vor allem aber darüber hinaus. Die NATO will auf jeden Fall vermeiden, in einen direkten Konflikt mit Russland hineingezogen zu werden. Das ist der Grund, warum die Waffenlieferungen so zögerlich sind.

An westliche Politiker wie US-Präsident Biden oder Bundeskanzler Scholz wird oft die Erwartung gerichtet, sie mögen ihre Ziele in diesem Krieg klar definieren. Wäre das sinnvoll?
Jein. Grundsätzlich sollte man einen Gegner nicht wissen lassen, wo die Grenzen des Engagements liegen. Es wäre grundfalsch, Russland zu signalisieren: Wenn ihr uns ganz böse nuklear droht, dann machen wir nichts mehr. Damit würden wir Putin freie Hand geben. Denn was wir in Deutschland, in Frankreich, in den USA, in Großbritannien diskutieren, das wird auch in Russland wahrgenommen. Das ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Kriegsführung – der psychologischen Kriegsführung. Volle Transparenz wäre also nicht sinnvoll. Aber zugleich muss der Rahmen erklärt werden, in dem die Politik ihre Entscheidungen fällt.

Sollten Biden und Scholz offen sagen, was sie von einer Rückeroberung der Krim halten?
Da geht es ans strategisch Eingemachte: Auf keinen Fall sollten sie das tun. Ich bin ja Gott sei Dank keine Politikerin. Aber als Wissenschaftlerin kann ich sagen, dass es das Beste ist, Russland im Unklaren darüber zu lassen, wie weit man zu gehen bereit ist. Der Status der Krim kann nur Teil von Verhandlungen sein, wenn sie nicht schon im Vorfeld aufgegeben wurde. Ich will hier keine Empfehlungen aussprechen, weder für die Verhandlungen noch für militärische Strategien, das ist nicht meine Aufgabe. Ich spreche als Verhandlungstheoretikerin, und als solche sage ich: Verhandlungen und Kriegsgeschehen stehen in einem engen Zusammenhang. Die erkämpfte Position ist entscheidend dafür, wie viel Verhandlungsmasse man in Gespräche mitbringt.

Hitler-Analogien sind immer falsch, …
Ja.

Aber vielleicht hilft ein Vergleich zum Zweiten Weltkrieg: Haben Konfliktforscher sich je mit der Frage beschäftigt, ob die Alliierten mit Hitler hätten verhandeln können?
Das ist mehr ein Thema für Historiker. Aber grundsätzlich gilt: Mit einem Aggressor kann man selten verhandeln, bevor man eine militärische Situation geschaffen hat, in der man ihn dazu nötigt. Ich bin neulich gefragt worden, ob wir Russland nicht mit dem Angebot einer verstärkten Entwicklungszusammenarbeit von Verhandlungen überzeugen könnten. Das wird nicht funktionieren. Mit Brunnenbohren stoppt man keine militärische Aggression. Ein militärischer Aggressor kann nur militärisch gestoppt werden. Wobei das nicht heißt, dass das Ziel eine bedingungslose Kapitulation ist – gerade bei einem Nuklearstaat nicht. Das Ziel ist, den Aggressor dahin zu bringen, dass er sich im Rückzug begreift und dadurch Interesse an Verhandlungen hat. Wann dieser Punkt kommt, ist von außen nicht nur schwer zu erkennen, sondern ebenso schwer vorherzusehen.

key; ntv.de


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