Quidditch in München: Vom Hobby zum Wettkampfsport – München

Das graue Plastikrohr zwischen die Beine geklemmt, rennt Tatjana Lamparter auf ihren Gegenspieler zu. Die Frau mit dem blonden Pferdeschwanz unter dem weißen Stirnband ist schnell, zieht ihm von unten den Ball aus den Armen. Rechts von ihr sind drei Straßenschilder-große Ringe auf mannshohen Stangen befestigt. Sie sprintet über die Wiese und zielt auf den rechten, wirft – und trifft. Das, was Lamparter da macht, heißt Quidditch: Ein Spiel aus den “Harry Potter”-Büchern. Lamparter hat den Sport in München mitbegründet. Mittlerweile ist der Zulauf groß. Vielleicht sogar zu groß, könnte man meinen, wenn man Lamparter so zuhört.

Donnerstagabend im Juli, München-Moosach. Über dem braunen Rasen des Postsportvereins hängt die Hitze. 26 Grad. Lamparter, rotweiße Ringelsocken in blauen Fußballschuhen, gelbblauweißes Trikot, setzt wieder zum Sprint an. Ein Volleyball und drei gleichgroße Softbälle fliegen gleichzeitig durch die Luft. Ja, es ist ein unübersichtliches Spiel, aber gerade das reizt die Spieler. Und auch, dass es mehr oder weniger so wie in der Zauberwelt funktioniert, vor allem mit weniger Fliegen.

Es ist eine der letzten Trainingseinheiten vor dem Deutschen Quadball Turnier – so heißt der Sport neuerdings. Für die Münchener Wolpertinger geht es um die Titelverteidigung, dafür trainieren sie zweimal die Woche. Was mal ein Hobby für “Harry Potter”-Nerds war, ist jetzt ein Sport, der endlich ernst genommen werden will.

Sieben Spielerinnen und Spieler pro Team begegnen sich auf einem Platz, halb so groß wie ein Fußballfeld. Der Sport ist eine Mischung aus Handball, Völkerball und Rugby, harter Körpereinsatz gehört also dazu.

Nächster Spielzug. Lamparter fängt den Ball. Ihr Stirnband kennzeichnet sie als Jägerin, Stürmerin quasi, denn nur die Jäger dürfen Tore schießen. Es ist ihre liebste Position: “Da kann man sich voll auspowern.” Sie muss den Ball durch einen der drei gegnerischen Ringe werfen – das gibt zehn Punkte. Sie rennt los, wird aber von einem Treiber abgeworfen und ist damit zweitweise aus dem Spiel. Abwerfen, mehrere Bälle, mehrere Tore? Macht das noch Spaß, wenn man nicht mehr alles im Blick hat?

Sechs Tore, vier Bälle.

(Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Lamparter mag es, dass so viel auf dem Spielfeld los ist. Bei vier Bällen komme man öfter zum Zug, deswegen spiele sie auch nicht mehr Fußball, sagt die 30-Jährige.

Bei einem Turnier würde in der 18. Spielminute der Schnatz aufs Feld kommen – eine neutrale Person mit einer Socke im Hosenbund. Wer diese ergattert, beendet das Spiel. Anders als im Harry Potter Universum können sie allerdings nicht fliegen. Die “Besen” bastelt sich das Team mit Rohren aus dem Baumarkt selbst.

Seit acht Jahren hilft Lamparter dabei, aus Quidditch einen professionellen Sport zu machen. Doch wie kann ein nerdiger Nischensport für Freizeit-Athleten ein solcher bleiben, wenn er immer mehr ambitionierte Sportler anzieht?

Co-Trainer Chris Forner teilt die Mannschaft in Dreiergruppen auf. Sie üben heute “Hoop Defense”, eine sehr defensive Art der Verteidigung: Eine Person bewacht den Ring, die zweite versucht, sie wegzuschieben, damit die dritte ein Tor machen kann. Immer wieder knicken dabei die Ringe durch harte Würfe oder Tackles um.

Lamparter überlegt lange, bevor sie etwas sagt. Neben dem Spielfeld. Sie malt gerne, am liebsten kleine bunte Bilder. Auf dem Spielfeld aber brüllt sie und entblößt dabei einen großen blauen Mundschutz: “Auf geht’s!” Sie habe sich parallel zum Sport entwickelt, sagt sie, sei selbstbewusster geworden. Heute trainiert sie die Münchner Kinder-Mannschaft, verteilt als Schiedsrichterin gelbe Karten und moderiert als Vertrauensmanagerin Konflikte im Team. Es ist ein bisschen so, wie Harry Potter selbst, der mit Quidditch zum ersten Mal etwas findet, was er so richtig gut kann.

Quidditch in München: Quidditch-Training der Münchener Wolpertinger.

Quidditch-Training der Münchener Wolpertinger.

(Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Zwar würde Quidditch immer noch belächelt – ein Kollege etwa habe mal gesagt, er komme vorbei, um zuzuschauen “wie wir Verrückten auf unseren Besen Sport machen”. Das nehme sie mit Humor, sagt Lamparter. Doch in den letzten Jahren wurden aus vier Teams in Deutschland mehr als vierzig. Dass der Sport immer populärer wird, hat seinen Preis. Wer spielt, wer nicht? In Teamversammlungen wird inzwischen hitzig über Rollenverteilungen und Trainerkonstellationen diskutiert. Was kann bleiben von der Magie von einst?

Angefangen hat alles 2015 im Englischen Garten. Die Torringe bastelten sie sich in der Studentenstadt selbst, bewahrten die Bälle ganz Harry-Potter-like in einer Kiste unter der Treppe auf. Einen Verein zu finden, wo sie trainieren können, sei nicht einfach gewesen: “Viele haben gesagt, sie haben keinen Bock auf Quidditch”, sagt Lamparter. Heute liegen in einem großen silbernen Wagen Leibchen und Plastikstäbe, die Spielerinnen und Spieler tragen Trikots und haben einen Trainer mit Trillerpfeife. Im Verein sind mittlerweile 43 aktive Spieler und 18 Kinder registriert. Darüber könnte man sich freuen, wenn man den Sport liebt. Aber Lamparter sagt: “Wir wachsen unkontrolliert weiter.” Kiana Kaveh, die Teammanagerin meint: “Tatjana hat entscheidend dazu beigetragen, dass unser Team da ist, wo es heute steht.”

Insgeheim wünscht sich Lamparter manchmal zurück in den Park. Da war das Spielfeld zum Beispiel noch oval, super unpraktisch abzustecken, aber “es fühlte sich nicht so normal an, das mochte ich”, sagt Lamparter. Mittlerweile wird der Spagat zwischen den Hobby-Spielern und den ambitionierten Sportlern, die abends Football-Spiele analysieren und Pokale gewinnen wollen, immer komplizierter. So ist das, wenn sich eine Sportart etabliert: Ziemlich bald wächst das Leistungsgefälle. Und man muss sich zwischen Leistungs- und Breitensport entscheiden. Oder beides anbieten.

Co-Trainer Chris Forner spielt für die deutsche Nationalmannschaft, ist jüngst Vize-Weltmeister geworden. Für ihn sei es schön, dass sein Hobby leistungsorientierter wird, sagt er. Tatjana Lamparter dagegen geht es vordergründig um den Spaß. Deswegen spielt sie bei den “Zwolpertingern” – seit etwa einem Jahr sind sie in zwei Mannschaften aufgeteilt. “Wir spielen schon kompetitiv, aber nicht um jeden Preis”, sagt Lamparter. Manche finden hier, dass das ganze etwas von einem Hühnerhaufen hat. “Aber wir haben unseren Spaß.” Dass es zwei Teams gibt, findet sie schade, aber notwendig. Bei so vielen Mitgliedern würde man ja nie aufs Feld kommen, wenn nur sieben Leute spielen. Sie arbeiten daran, dass sie trotzdem einen gemeinsamen Teamgeist haben, sagt Lamparter.

“Die meisten sind schon Nerds.”

Es riecht an diesem Donnerstag nach Schweiß, die Gesichter sind rot. Trinkpause. Tatjana Lamparter wischt sich die Haare aus der Stirn. Mit Quidditch hat sie angefangen, weil sie Harry Potter Fan ist. Es sei das erste Buch gewesen, das ihr Vater ihr vorgelesen habe. Zwar gebe es manche im Team, die das überhaupt nicht interessiere, “aber die meisten sind schon Nerds”. Viele im Team studieren Naturwissenschaften, Lamparter promoviert in didaktischer Physik. Nur eine Person in der Mannschaft hat keinen akademischen Hintergrund. Das Training findet größtenteils auf Englisch statt, es sind viele Erasmus-Studierende dabei. Lamparter sagt, sie würden niemanden ausschließen. Sie ziehen aber offenbar ein bestimmtes Klientel an.

Die Quidditch Community kann man als “woke” bezeichnen. Sie will ein Safe Space, also ein Schutzraum für LGBTQ* Angehörige sein und offen für alle Geschlechter. Sie distanziert sich von der Harry Potter Autorin Joanne K. Rowling wegen deren transfeindlichen Aussagen. Gleichzeitig sprechen selbst die Frauen von sich beim Sport in der männlichen Form, gendern tun die wenigsten. Frauen und Männer stehen beim Quidditch gemeinsam auf dem Platz. Einen körperlichen Nachteil haben Frauen nicht, findet Lamparter. Wer klein und schmächtig ist, sei dafür wendiger.

In der letzten halben Stunde des Trainings gibt es ein Übungsspiel. Lamparter streichelt Bruno, einen braunen Labrador, der immer wieder über das Spielfeld flitzt. Dann klatscht sie eine Mitspielerin ab und rennt los. Sie bewegt sich sicher mit der Stange zwischen den Beinen, die darf nicht herunterfallen. Sie greift an, ihr steht ein gegnerischer Treiber gegenüber, doch sie hechtet an ihm vorbei und trifft das Tor. “Schön!” ruft Forner. “But try not to take the riskiest option”, nicht so sehr auf Risiko spielen. Forner sagt, sie spiele am besten, wenn sie sich aggressiv zeige, den Kontakt zu anderen Spielerinnen und Spielern sucht.

“Ich glaube, wir haben gewonnen, ich zähle nicht mit.”

Das Heimturnier am Wochenende ist vorerst ihr letztes in Deutschland. Wenn sie ihre Doktorarbeit fertig hat, will sie ins Ausland: “Es wird sehr traurig, die Wolpertinger zu verlassen.” Ihr enger Freundeskreis besteht fast nur noch aus Teammitgliedern.

Das Spiel ist vorbei. “Ich glaube, wir haben gewonnen, ich zähle nicht mit”, sagt Lamparter. Auslaufen, dann setzen sie sich zu einer Abschlussrunde zusammen. Jeder sagt reihum, was eine andere Person im Training gut gemacht hat. Lamparter nickt oft, stimmt anderen in ihrem Lob zu. Sie selbst hebt die Kommunikation im Team hervor, die sei heute gut gewesen.

Quidditch in München: Der Kreis bewegt sich wie ein eigenständiges Wesen, wippt erst langsam, beginnt dann zu springen.

Der Kreis bewegt sich wie ein eigenständiges Wesen, wippt erst langsam, beginnt dann zu springen.

(Foto: Mark Siaulys Pfeiffer/Mark Siaulys Pfeiffer)

Bevor Lamparter duschen geht und Quark isst, für die Proteine, stimmt sie einen Sprechgesang an: Sie tigert durch den Kreis, den ihre Mannschaft um sie gebildet hat. Man sieht sie kaum, viele ihrer Mitspielerinnen und Mitspieler überragen sie. 25 Körper halten sich an Hüften und Schultern fest. Der Kreis bewegt sich wie ein eigenständiges Wesen, wippt erst langsam, beginnt dann zu springen. “Seid ihr bereit?” bricht es aus Tatjana Lamparter heraus. “Ja!” brüllt der Kreis. Lamparter holt weit mit den Armen aus: “We are” – “One”https://www.sueddeutsche.de/muenchen/.”Stand” – “together”. Ihre Stimme ist hoch, trotzdem laut und aggressiv. “Wolper, Wolper, Wolper” – “tinger, tinger, tinger”, mit jedem Ausruf springt sie nach vorne, tief in die Knie, ihre Stimme bricht ein bisschen.

Am Samstag, 29. und Sonntag, 30. Juli kämpfen 509 Spielerinnen und Spieler aus 30 deutsche Teams auf dem Gelände des PSV München um den Deutschen Quadball Pokal. Zwischen 15-16 Uhr (Samstag) und 15.30 – 16.30 Uhr (Sonntag) gibt es Probeeinheiten für Kinder und Erwachsene. Der Eintritt ist frei.

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