Nio ET5 Touring im Test: Es wird trotz toller Elektroautos schwer

Nio strauchelt. Die Absatzzahlen des chinesischen Autoherstellers sind hierzulande nicht gut, der Aktienkurs seit Monaten auf dramatischer Talfahrt. An den Elektroautos kann es aber kaum liegen, wie der Test zeigt.

Nio ist ein junges Unternehmen. Das chinesische Start-up wurde 2014 gegründet und schafft es trotzdem, sich deutlich von der Masse chinesischer Autohersteller abzuheben. Denn Nio versucht, woran selbst Renault bereits gescheitert ist: Alternativen zum Aufenthalt an der Ladestation. Ganz nebenbei baut Nio dabei grundsolide Autos, mit denen sich die Marke mit breiter Brust auf dem Markt positioniert. Vielleicht ist sie aber zu breit.

Zunächst das Auto: Im stern-Test ergab sich die Möglichkeit, den Nio ET5 Touring, einen elektrischen Kombi mit großem Akku, für zwei Wochen zu testen. Der ET5 ist eines von fünf Fahrzeugen aus dem aktuellen Angebot des Herstellers, die sich optisch sehr ähneln. Denn Nio hat eine eigene Designsprache entwickelt, die, mit kleineren Ausnahmen, sehr gefällig ist. Das gilt insbesondere auch für den Kombi, dessen Karosserieform in Deutschland ausgesprochen beliebt und als Elektroauto noch relativ selten anzutreffen ist.

Außen wie innen ein schönes Elektroauto

Der Nio ist wirklich schön. Die etwas gekniffenen Scheinwerfer, die lange, spitz zulaufende Motorhaube und das stromlinienförmige Design zieht die Blicke auf sich – und erntet viel Lob. Auch das Heck des Kombis ist wirklich sehr gelungen. Und eigentlich so schön, dass man sich auch nur der Optik halber für dieses Modell entscheiden könnte. Wüsste man es nicht besser, es könnte ein Shooting Brake, also ein Coupé mit Steilheck, sein.

Die Eindrücke setzen sich im Innenraum fort. Der Nio ET5 Touring ist mit einem durchweg hochwertigen Interieur ausgestattet, dessen Verarbeitung keine Wünsche offen lässt. Der Materialmix ist bereits in dieser “Mittelklasse”, wo Nio das Auto selbst einstuft, ebenbürtig mit einem 3er BMW oder einer Mercedes C-Klasse, eigentlich sogar mit den Modellen darüber.

Die zahlreichen Komfortfunktionen unterstreichen das. Egal ob Beduftung, Sitzkühlung oder -heizung, beheiztes Lenkrad, Surround-Anlage, Ambientebeleuchtung, riesiges Panorama-Glasdach oder sogar eine Massagefunktion für Fahrer und Beifahrer – auf Wunsch oder gar serienmäßig hat der ET5 all das an Bord.

Als kleiner USP (Unique Selling Point), wie man einzigartige Verkaufsargumente gerne nennt, ist zudem Nomi an Bord. Das ist die Sprachassistenz von Nio, die optional als kleine, stets gut gelaunte Roboterkugel auf dem Armaturenbrett thront und mit lustigen Gesten, aber auch praktischen Funktionen unterstützt und aufheitert.

Hoher Verbrauch, aber dennoch ausreichend Reichweite

Bei allem Luxus hat Nio aber auch die Fahreigenschaften nicht vergessen: 490 PS treiben das Auto nach vorne, in 4 Sekunden sprintet der 2,2-Tonnen-Kombi auf 100 km/h. Standardmäßig wird das Auto dabei von einer 75-Kilowattstunden-Batterie betrieben, gegen einen Aufpreis von 9000 Euro gibt’s den Wagen auch mit 100 kWh. Bei der Standard-Range kommt der Wagen nach WLTP-Norm auf 435 Kilometer Reichweite, mit dem großen Akku sind es 560. Man muss den Akku übrigens nicht kaufen – Nio bietet das Herzstück des Fahrzeugs auch in einem Mietmodell an, dazu später mehr.

Nio ET5 Touring Test Elektroauto

Knappe 4,80 Meter Länge sind doch viel – dank der vielen Kameras lässt sich das Auto aber kinderleicht manövrieren.

© Christian Hensen / stern

Die Reichweitenangaben des Herstellers sind, wie bei anderen auch, recht optimistisch. Im Test stand dem Fahrzeug ein 100-kWh-Akku zur Verfügung und die Reichweite lag etwa bei 450 Kilometern. Das liegt am vergleichsweise hohen Verbrauch. Im Drittelmix aus Stadt-, Landstraßen- und Autobahnfahrten kam der Wagen auf etwa 24 Kilowattstunden auf 100 Kilometer. Fährt man nur Autobahn mit bummeligen 130 km/h, ist nach etwas mehr als 300 Kilometern Schluss. Die Herstellerangabe erreicht man wohl nur unter realitätsfernen Bedingungen ohne jeglichen Fahrkomfort. Sprintet man mit den maximal möglichen 200 km/h davon, kann man dem Akku beim Entleeren zuschauen.

Als Kombi bietet der Nio natürlich relativ viel Platz. Die gedrungene Form limitiert das Volumen zwar etwas, aber auf 450 Liter kommt der Kofferraum trotzdem. Klappt man die Rückbank um, sind es 1247 Liter. Einmal meckern muss aber sein: Wer versucht, die mitgelieferte Tasche mit allen Kabeln am Stück im doppelten Boden des Kofferraums zu versenken, wird scheitern. Das Kabel passt nur dann, wenn man es nackt und möglichst breit auslegt. Ob man es nicht einfach in den Frunk, also den vorderen Stauraum packen sollte? Geht nicht, den gibt’s nicht.

Nachteiliger ist das abfallende Heck auch in puncto Übersicht. Man sieht beim ET5 Touring mit einem Schulterblick nicht allzuviel. Ohne die vielen Kameras wäre man beim Einparken wohl recht verloren. Die Kameras thronen übrigens sehr prominent auf dem Wagen – mancher mag den Aufbau gar „Hörner“ nennen. Muss man mögen. Der Nio ET5 Touring hat außerdem eine sehr erfreuliche Anhängelast von 750 Kilogramm ungebremst und 1,4 Tonnen gebremst. Was das mit dem Verbrauch macht, kann man sich denken. Aber die elektrisch ausfahrbare (!) Anhängerkupplung macht den Nio zu einem brauchbaren und durchweg komfortablen Lastenesel.

Nio ET5 Touring Test Elektroauto

Stattdessen muss man beim Nio sämtliche Kabel im doppelten Boden des Kofferraums verstauen und verschenkt damit nützlichen Stauraum. Kleiner Fauxpas des Herstellers: Räumt man alle Kabel in die dafür vorgesehene Tasche, ist sie zu hoch, um dort Platz zu finden.

© Christian Hensen / stern

Was die Fahrt selbst betrifft, bleiben keine Wünsche offen. Leistung, Lenkung und Fahrwerk sind ausgesprochen gefällig abgestimmt, mit einer Neigung zum bequemen Cruisen. Aber sportlich kann der Nio durchaus auch, hier fielen im Test keine Mäkel auf. 

Software mit kleinen Fehlerchen

Natürlich spielt bei einem solchen Auto die Software eine Hauptrolle. Das hauseigene Betriebssystem Banyan kann sich sehen lassen, Navigation, Bedienung und Menüs können anfangs zwar etwas verschachtelt wirken, sind nach kurzem Lernprozess aber weitgehend verinnerlicht. Nomi ist dabei nur eingeschränkt eine Hilfe – bis auf einige Standardkommandos reagiert sie extrem oft mit frappierender Ahnungslosigkeit auf Befehle. Eine Unterhaltung oder kontextbasierte Eingaben sind nicht möglich.

Was fehlt, ist eine Anbindung zu Apple- oder Android-Smartphones. Mehr als eine Bluetooth-Verbindung für Telefonate, die in vielen Fällen durch ihre mangelhafte Sprachqualität am anderen Ende aufgefallen sind, lässt sich kaum einrichten. Carplay oder Android Auto gibt es nicht, lediglich Spotify gibt es als Fahrzeug-App, was die Bedienung erleichtert. 

Der Mangel an Möglichkeiten, eigene Navigationslösungen, etwa Waze oder Apple Maps zu benutzen, hat zur Folge, dass man auf das Onboard-Navi angewiesen ist, was bei Elektroautos aufgrund der Ladeplanung ohnehin sinnvoll ist. Aber: Während alle Handy-Apps im Test den Wegfall einer Sperrung auf der chaotischen A7 nahe Hamburg bereits einberechnet hatten, ging der Nio bis zum Ende der vermeintlich gesperrten Strecke davon aus, dass man dort unmöglich entlang könne. Der Umweg hätte laut Fahrzeug etwa eine Stunde gekostet – keine gute Leistung, wenn man nicht bereit ist, Alternativen zuzulassen. Hier muss nachgebessert werden.

Das Cockpit im Nio ET5 Touring ist sehr übersichtlich. Das kleine Display beim Lenkrad gibt alle wichtigen Informationen zur Fahrt, in der Mitte steuert man das Auto. Alternativ kann man mit Nomi sprechen, der kleinen Robo-Kugel auf dem Armaturenbrett.

© Christian Hensen / stern

Die Assistenzsysteme des Fahrzeugs beschränken sich auf der Autobahn auf einen Abstandstempomaten oder den Piloten, der in der Lage ist, die Spur nach Betätigung des Blinkers eigenständig zu wechseln. Das funktioniert dank der 33 eingebauten Sensoren gut, dem Wagen entgeht nichts, was man bestens auf dem Display am Lenkrad nachvollziehen kann. Es wäre denkbar, dass sich Nio mit diesem Kamera- und Sensorarsenal bereits heute auf teilautonomes Fahren vorbereitet hat – die Hardware wäre da. Fehlen Software und gesetzliche Rahmenbedingungen.

Über die Bedienung der Assistenten lässt sich streiten. Auf dem Lenkrad finden sich nur zwei recht identische Universal-Tastenfelder, die je nach Situation unterschiedliche Funktionen auslösen. Wie bei den verschachtelten Displaymenüs auch: Hat man es einmal verstanden, geht es leicht von der Hand. Zum Glück gibt es für Scheibenwischer, Licht und Blinker noch die klassischen Hebel.

Wenig überraschend nutzt der Wagen die vielen Augen auch, um die Karosserie vor Schäden durch Unfälle oder Parkpatzer zu beschützen. Nahezu jedes Manöver wird zentimetergenau überwacht, was aber aufgrund der schlechten Sicht nach hinten dringend nötig ist.

Wie üblich gibt es für den Nio ET5 Touring auch eine App, in der man diverse Informationen zum Fahrzeug erhält und eine Handvoll Funktionen auslösen kann. Dem zugeschaltet ist eine Community und eine Art soziales Netzwerk – das mag befremdlich wirken, ist in China aber durchaus beliebt. Im Test lief die App sehr zuverlässig und meldete sich sogar einmal damit, dass noch ein Fenster offen sei – praktischerweise ließ sich das aus der Ferne schließen. 

An der Ladesäule macht der Nio ET5 eine mittelmäßige Figur. Das gilt besonders für das Laden an einer AC-Säule. Bei einem 100-Kilowattstunden-Akku ist das „tanken“ mit 11 kW wirklich lahm. Viel besser sieht das an einer Gleichstrom-Säule aus. Hier verspricht Nio bis zu 180 Kilowatt Ladeleistung. Im Test brachte es der Nio aber nur auf 123 Kilowatt in der Spitze, was darauf schließen lässt, dass in der Wechselstation zuvor ein älteres Batteriemodell eingesteckt wurde. Die schnellen Akkus gibt es noch nicht allzu lange. Das Aufladen von acht auf 80 Prozent nahm 38 Minuten in Anspruch. Mit neuerem Akku wären es unter 30.

Äußerst unpraktisch ist die Position des Ladeanschlusses. Es kristallisiert sich allmählich heraus, dass eine Ladeklappe hinten links, also auf der Fahrerseite, die wohl schlechteste Wahl ist. An der Straße steht man in Fahrtrichtung auf der Fahrbahn, manche Schnelllader sind am besten durch Vorwärtsparken zu erreichen (McDonald’s!) – in beiden Fällen stört die Position.

Nio kann, was niemand sonst bietet

Man muss aber gar nicht erst das Kabel bemühen – zumindest, wenn man in Mittel-, West- oder Süddeutschland wohnt. Denn mit aktuell elf Wechselstationen, Nio Power Swap Station genannt, ist es möglich, die Ladezeit von 0 auf 100 Prozent auf etwa fünf Minuten zu verkürzen. Man fährt lediglich an einen der Standorte, meldet den Wechsel an und das Auto fährt vollautomatisch in die garagenartige Station, es rumpelt kurz und wenig später geht es mit voller Power weiter. 

Im Test gelang das quasi auf Anhieb, auch wenn mangels Beschilderung erst beim zweiten Anlauf klar wurde, was zu tun ist. Eigentlich führt einen das Auto mit zahlreichen Ansagen durch den Wechselvorgang, aber ehrlicherweise kann das alles etwas überfordern. Die Wechselstationen haben außerdem feste Öffnungszeiten – ein Wechsel bei Nacht ist nicht möglich, in Deutschland ist ab 19 Uhr dicht. Das liegt daran, dass stets ein Mitarbeiter vor Ort ist, um Kunden zu helfen, die Probleme mit dem Wechsel haben. Im Test waren englische Sprachkenntnisse von Nöten, was besonders bei älteren Kunden problematisch sein kann.

Aktuell gibt es in Deutschland elf solcher Akku-Wechselstationen. Sofern man nicht anstehen muss und genug Batterien auf Lager sind, dauert der Tausch hier nur fünf Minuten. 

© Christian Hensen / stern

Das große Ziel der Autohersteller, „laden wie tanken“, ist hier also schon heute Realität. Aber es hat einen Preis und funktioniert nur unter bestimmten Umständen. Außerdem klafft aktuell ab Hannover und Schipkau ein gigantisches norddeutsches Loch im Netz. Wirklich alltagstauglich wird dieses Alleinstellungsmerkmal also erst in Zukunft, sollte Nio das Netz weiter ausbauen.

Danach sieht es aktuell zwar aus, aber der Bau der Stationen ist sicherlich nicht billig und gleichzeitig verkürzen sich die Ladezeiten immer mehr. Porsche ist bereits heute bei 18 Minuten für das Fenster 10 bis 80 Prozent. Da man an einer Power Swap Station auch mal warten muss, wäre der Tausch bei einer Schlange von drei Autos mit der höchstmöglichen Ladeleistung schon nicht mehr sinnvoll. Selbst bei 180 Kilowatt, Nios aktueller Topleistung, lohnt der Tausch nur dann, wenn der Umweg zur Station inklusive Tausch die halbe Stunde nicht überschreitet. Wie oft das vorkommt, muss jeder selbst errechnen.

Ein weiteres Problem von Nio und besagtem Alleinstellungsmerkmal ist die Einschränkung für Käufer. Sofern man sich entscheidet, das Auto vollständig zu bezahlen, also auch den Akku zu übernehmen, schließt Nio das Fahrzeug vom Akkutausch aus. Nur wer die Batterie trotz Fahrzeugkauf mietet (169 Euro monatlich für 75 kWh, 289 Euro monatlich für 100 kWh), bekommt Zugang. Dafür ist der Tausch jeden Monat zwei Mal kostenlos, danach wird pro Wechsel und Kilowattstunde berechnet.

Fazit Nio ET5 Touring: Sehr, sehr selbstbewusst

Eingangs war die Rede davon, dass es nicht an den Autos liegen kann, dass Nio kaum nennenswerte Stückzahlen absetzt und wirtschaftlich strauchelt. Das bestätigt der Test gleich mehrfach. Der Nio ET5 Touring ist ein durch und durch tolles Auto mit vielen Vorzügen und recht wenigen Schwächen, die größtenteils durch ein Update behoben werden könnten.

Aber ein Blick auf die Preise verrät, woran es scheitern könnte. Für den ET5 Touring mit der absoluten Basisausstattung (die bereits recht üppig ausfällt), werden derzeit ohne Batterie 47.500 Euro fällig. Drückt man ein paar Knöpfe im Konfigurator, um beispielsweise das Testfahrzeug nachzubauen, schießt der Preis auf 75.500 Euro mit gekauften Akku oder 54.500 Euro ohne Batterie, dafür mit 289 Euro monatlicher Mietbelastung. 

Das ist, mit Verlaub, sehr teuer, auch wenn sich der ET5 Touring problemlos mit einem 5er BMW messen kann und eigentlich oberhalb seiner Klasse spielt. Für einen eher unbekannten Hersteller, der sich neben etablierte Premium-Hersteller stellt, ist der Verkauf sicherlich kein leichtes Spiel – zumal das Händler- und Werkstattnetzwerk aktuell sehr dünn ist. Immerhin: Auch hier läuft der Ausbau.

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