Nahost-Reise: Und dann fragt Baerbock wieder nach den Scannern

Annalena Baerbock marschiert zwischen Betonmauern. „Können wir mal da rüber?“, sagt die deutsche Außenministerin am Grenzübergang Kerem Shalom zwischen Israel und Gaza und läuft dabei schon in Richtung des Palästinensergebietes auf einen Zaun zu. „Das ist jetzt aber echt ein bisschen nah dran“, raunt ein israelischer Sicherheitsbeamter dem anderen zu. Der verdreht die Augen und antwortet: „Diesmal sagst Du ihr das aber.“

Baerbock will sich selbst ein Bild machen von der schwierigen Lieferung von Hilfsgütern in den Gaza-Streifen. Und nach israelischen Angaben ist sie die erste Politikerin hier, die mit Journalisten kommt. Baerbock weiß, dass die humanitäre Lage in Gaza zurzeit die Debatten um den Konflikt in der Welt bestimmt. Und bei ihrer Reise nach Ägypten, in die Palästinensergebiete und nach Israel hat sie es auch zu ihrem Thema gemacht.

Immer wieder fragt Baerbock in Kerem Shalom nach Scannern, also nach den Anlagen, mit denen die Sicherheitsüberprüfung der Lkw-Lieferungen in den Gaza-Streifen durchgeführt wird. Sie sind ein Nadelöhr bei der Versorgung der Bevölkerung im umkämpften Küstenstreifen, deren Lage dramatisch ist. Im Norden des Gaza-Streifens sollen schon mehr als 160.000 Menschen Hunger leiden, das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen befürchtet ab Mai eine allgemeine Hungersnot, wenn sich nichts ändert.

Nach UN-Schätzungen bräuchten die Menschen in Gaza etwa 500 Lastwagen-Ladungen mit Nahrung und Medikamenten, bestenfalls 200 sind es pro Tag. Die Schuld dafür schieben sich Israelis, Ägypter und Hilfsorganisationen gegenseitig zu. Und Baerbock scheint wissen zu wollen, ob Israel die Lieferungen so schnell und so zahlreich überprüft, wie möglich. Sie will wissen, wie viele Scanner in Betrieb sind. Sie will wissen, ob es nicht mehr sein könnten. Sie will wissen, wie viele Trucks hier überprüft werden.

„Eine Großoffensive auf Rafah darf es nicht geben“

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat Israel eindringlich zu einem Verzicht auf die geplante Bodenoffensive gegen die islamistische Hamas in Rafah im südlichen Gaza-Streifen aufgerufen. „Eine Großoffensive auf Rafah darf es nicht geben“, warnte die Grünen-Politikerin in Kairo.

„Wir schaffen hier einer Zehn-Stunden-Schicht sogar mehr als 1000 Laster“, antwortet ihr Ami Schaked, ein untersetzter Mann Ende 50 mit langem grauem Pferdeschwanz, der die Anlage im Auftrag des Verteidigungsministeriums leitet. „Aber wenn so viele Fahrzeuge auf einmal kommen, stauen sich auf der palästinensischen Seite. Das bringt doch nichts.“ Baerbock ist keine Detektivin. Sie kann hier keine Beweise sichern. Aber sie kann vermitteln, dass die Welt sehr genau beobachtet, wie Israel die Menschen in Gaza behandelt – selbst die engsten Verbündeten. Schließlich geht es in dieser Krise auch um Deutschlands Rolle in der Welt.

Baerbocks Gespräch mit ihrem israelischen Amtskollegen Israel Katz ein paar Stunden vor dem Besuch an der Grenze dürfte nicht einfach gewesen sein. Zu der Resolution des UN-Sicherheitsrats vom Vorabend hatten sich Israel und Deutschland gegensätzlich positioniert, die Bundesregierung in Person von Baerbock sogar auf israelischem Boden. „Ich bin erleichtert über die Verabschiedung der Resolution, weil es auf jeden Tag ankommt, sowohl für die Menschen in Gaza als auch für die seit fünf Monaten in der Gefangenschaft der Hamas befindlichen Geiseln“, so hatte es Baerbock kurz nach ihrer Ankunft in Jerusalem vor den mitgereisten Journalisten gesagt, als die Nachricht vom Votum in New York gemeldet wurde.

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UN-Resolution für Feuerpause

Katz, den Baerbock am Dienstagmorgen treffen sollte, sagte hingegen dem israelischen Armeeradio, die Resolution habe die Hamas ermutigt. Sie habe signalisiert, dass internationaler Druck zu einem Ende des Gaza-Kriegs führen werde, ohne dass die Terrororganisation irgendwelche Zugeständnisse machen müsse.

Katz dürfte auch nicht entgangen sein, dass die Besucherin aus Deutschland schon auf dem Weg nach Jerusalem bei ihren Stationen in Kairo und der palästinensischen Hauptstadt Ramallah immer wieder mehr humanitäre Hilfe für die Bewohner von Gaza gefordert hatte und eine Öffnung aller Grenzübergänge in den Küstenstreifen.

Derzeit lässt Israel außer über Kerem Shalom lediglich über den Kontrollpunkt in Rafah an der ägyptischen Grenze größere Lieferungen in den Gaza-Streifen zu. „Die Menschen in Gaza brauchen dringend jeden Liter Wasser. Und die Familien in Israel brauchen dringend ihre geliebten Familienangehörigen zurück“, sagte Baerbock nach ihrem Treffen mit Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas in Ramallah, wo sie die Resolution des UN-Sicherheitsrats erneut begrüßte.

Für Baerbock geht es bei dem Zugang für Hilfslieferungen offenbar nicht nur um die akuten Bedürfnisse der Menschen in Gaza und um das Leben der Geiseln, sondern um die Möglichkeit einer Lösung des Nahost-Konflikts überhaupt. „Egal, ob eine junge Mutter in Gaza, die nicht weiß, wie sie ihr Kind ernähren soll, oder ein Olivenbauer im Westjordanland, der mir berichtet hat, dass die israelischen Siedlungen seine Lebensgrundlage zerstören. Sie alle brauchen die Perspektive auf eine bessere, auf eine gewaltfreie Zukunft in ihrem eigenen Staat, in ihrem eigenen Staat ohne Hamas“, sagte Baerbock in Ramallah weiter und sie fügte hinzu: „Die Weichen dafür müssen jetzt gestellt werden und es müssen dabei alle ihrer Verantwortung gerecht werden.“

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This handout picture released by the Israeli army on February 29, 2024 shows an Israeli army soldier firing a weapon in an unspecified location in the Gaza Strip amid ongoing battles between Israel and the Palestinian militant group Hamas. (Photo by Israeli Army / AFP) / === RESTRICTED TO EDITORIAL USE - MANDATORY CREDIT "AFP PHOTO / Handout / Israeli Army' - NO MARKETING NO ADVERTISING CAMPAIGNS - DISTRIBUTED AS A SERVICE TO CLIENTS==

Überall in der deutschen Diplomatie ist die Sorge spürbar, dass die Regierung von Benjamin Netanjahu mit ihrem Agieren in Gaza bewusst oder fahrlässig alle Brücken zu den Palästinensern und der arabischen Welt verbrennt, die nötig wären, um einen der ältesten Konflikte der Nachkriegszeit beizulegen. In Gesprächen mit eher westlich orientierten arabischen Staaten, die sonst eine pragmatischere Haltung gegenüber Israel einnehmen, scheint es in letzter Zeit Fortschritte bei der Frage eines Nachkriegsszenarios in Gaza zu geben.

Anders als zu Beginn des Konflikts scheinen die Araber nicht mehr ganz abgeneigt, eine friedensbewahrende Rolle in Gaza zu spielen, solange sie nicht die alleinige Sicherheitsverantwortung tragen. Schließlich hieße das auch, den Staat Israel zu schützen, was etwa Saudi-Arabien, das keine offiziellen Beziehungen zum jüdischen Staat unterhält, kaum akzeptieren würde. Aber jede arabische Präsenz in Gaza wäre auch ein Fortschritt für Israel. Eine arabische Schutztruppe nach dem Kriegsende war eine Möglichkeit, die israelische Regierungsvertreter zu Beginn der Invasion selbst ins Spiel gebracht hatten.

Doch aus Perspektive der Araber ebenso wie der westlichen Verbündeten Israels müsste zu einem solchen Einsatz mindestens ein Fahrplan zu einer Zwei-Staaten-Lösung zwischen Israelis und Palästinensern gehören. Sonst würden sich arabische und westliche Truppensteller in Gaza zu Geiseln einer auf dauerhaften Konflikt angelegten israelischen Politik machen. Aber genau die Möglichkeit eines solchen Rahmens, so fürchtet man im Westen, könnte Israel mit der hohen Zahl ziviler Toter und den erheblichen Beschränkungen für humanitäre Hilfe in Gaza zunichtemachen.

Junge Araber fordern Härte gegenüber Jerusalem

Die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar könnten viel politisches Kapital in der muslimischen Welt verspielen, wenn sie im Falle offenkundiger israelischer Gräuel an einer Einigung mit Jerusalem mitwirkten; Staaten wie Saudi-Arabien und Ägypten haben große Bevölkerungen mit einem hohen Anteil junger Menschen, die Härte gegenüber Jerusalem fordern.

Beide Länder hatten in der Vergangenheit Probleme mit militanten islamistischen Bewegungen. Deren Werbung beruhte stets auf dem Angebot an die Jugend, etwas gegen die angebliche Heuchelei ihrer prowestlichen Regierungen unternehmen zu können. Je schlimmer der Eindruck von Israels Krieg in Gaza wird, desto mehr steigt die Gefahr für jede arabische Regierung, die mit Jerusalem zusammenarbeitet. Aber auch für den Westen steht in Gaza viel auf dem Spiel – besonders für die USA und für Deutschland.

Für US-Präsident Joe Biden werden seine Verbundenheit mit Israel sowie die amerikanischen Munitionslieferungen an Jerusalem zum Problem im Kampf um die Wiederwahl. Das dürfte der Grund für die immer lauter werdenden Forderungen Washingtons nach einer Waffenruhe sein und dafür, dass die USA die Sicherheitsrats-Resolution vom Montag nicht per Veto stoppten, sondern sich enthielten. Aber auch Deutschland hat einiges zu verlieren.

Zu den weniger bemerkten Leistungen der Ampelregierung gehört, dass sie zumindest Ansätze von etwas schuf, das Experten seit Langem fordern – einer eigenen umfassenden Nahostpolitik, die sich nicht nur im Schlepptau der Amerikaner bewegt und über eine Haltung im Israel-Palästinenser-Konflikt hinausgeht.

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Außenministerin Baerbock in Israel

Baerbock selbst war es, die im vergangenen Jahr das Abkommen über einen strategischen Dialog mit Katar unterzeichnete. Im Jahr zuvor traf Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi Bundeskanzler Olaf Scholz Berlin. Die Reisen arabischer Außenminister nach Deutschland und deutscher Minister in die Region haben zugenommen. All das hat auch damit zu tun, dass die Bundesregierung im Zuge des Ukraine-Krieges und des russischen Öl-Boykotts gemerkt hat, dass sie strategische Partner im energiereichen Nahen Osten braucht.

Aber das EU-Migrationsabkommen mit Ägypten zeigt, dass nicht allein ums Öl geht. Deutsche Innenpolitik ist auch eine Funktion von Migration und Migration hängt auch mit den Krisen der Region zusammen. In Berlin hat man begonnen zu verstehen, dass Nahostpolitik Pflicht ist.

Doch wenn man heute mit arabischen Top-Diplomaten über die Haltung Deutschlands spricht, stößt man auf Entgeisterung und Enttäuschung – wegen der deutschen Haltung zu Gaza. Länger als alle anderen europäischen Staaten hat Berlin von Forderungen nach einem sofortigen, langfristigen Waffenstillstand abgesehen und stattdessen kurze Feuerpausen vorgeschlagen und Israels Recht auf Selbstverteidigung betont.

„Die Deutschen haben in den letzten Monaten viel von dem Ansehen verloren, das sie sich in Jahren erarbeitet haben“, sagt ein arabischer Diplomat. Doch zuletzt hat auch Deutschland auf einen sofortigen Waffenstillstand gedrängt und Baerbocks ausdrückliche Erleichterung über die Resolution des UN-Sicherheitsrats unterstreicht den neuen Ton Berlins gegenüber der Regierung Netanjahu. Dabei koordiniert sie sich mit Partnern. Von ihrer Nahostreise aus telefoniert Baerbock mit ihren Amtskollegen in den USA, in Katar und Jordanien.

„Ein Appell, nicht in Rafah reinzugehen ohne Evakuierungsplan“

In Jerusalem treffen sich Bundesaußenministerin Baerbock und ihrem israelischen Kollegen Katz. WELT-Reporterin Christine Kensche berichtet aus Tel Aviv, worum es bei den Gesprächen geht.

Quelle: WELT TV/ Felicia Pochhammer, Thomas Klug

Als die Außenministerin am Ende ihrer Reise in Tel Aviv vor die Presse tritt, betont sie zunächst, dass sie als Freundin Israels spreche und in tiefer Verbundenheit mit dem jüdischen Staat. Doch sie sagt auch, dass sie deshalb Israel dauerhaften Frieden wünsche, „und Frieden gibt es nur, wenn alle in Frieden leben“. Dann spricht sie wieder über Scanner. Aber sie fragt nicht, sie bietet Antworten an.

„Die Diskussion darüber, wo genau jetzt das Nadelöhr liegt und wer daran schuld ist, können wir uns angesichts des Leids in Gaza nicht weiter leisten.“ Es müsse schnell etwas geschehen. Die mehrfachen Kontrollen und schleppende Verteilung im Küstenstreifen müssten ein Ende haben. Deswegen biete Deutschland seine Hilfe an, um Hilfslieferungen in großem Maßstab schnell in den Gaza-Streifen zu bringen. Jordanien habe für die Versorgung seiner eigenen Feldlazarette in Gaza ein Modell entwickelt, mit dem „die Trucks einfach durchfahren können“, sagt Baerbock. Berlin wolle helfen, es auszuweiten, um den Bedarf in Gaza zu decken.

„Wenn es mehr Scanner braucht, die können wir und unsere niederländischen Freunde bereitstellen. Wenn es mehr finanzielle Mittel braucht, um die Hilfslieferungen zu bezahlen, die können wir bereitstellen, denn wir sind schon einer der größten Geber bei der humanitären Hilfe für Gaza. Wenn es Inspektoren aus Europa braucht, um die Trucks schneller abzufertigen und die Sicherheit zu gewährleisten, die können wir bereitstellen.“ In den nächsten Tagen werde ein konkreter Vorschlag Berlins folgen.

Baerbock versucht das, was man tut, wenn man das Gefühl hat, ein Freund handele grundfalsch: Sie macht konstruktive Vorschläge für Alternativen. Aber anders als im Privatleben können solche Vorschläge auch öffentlichen Druck erzeugen. Ob die Regierung Netanjahu diese Form der freundlichen Zurede als Hilfe empfindet oder als Angriff, wird auch darüber Auskunft geben, wie sehr Jerusalem im Kampf gegen die existenzielle Bedrohung der Hamas noch auf seine Verbündeten hört. Und auch darüber, ob die knappe Hilfe für Gaza ein technisches Problem ist oder ein Mittel der Kriegsführung, wie die Gegner Israels behaupten.

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