Micky Beisenherz über den Abschied von seiner Großmutter – Kultur

“Fanta”. Der letzte Wunsch. Am Krankenbett. Im Juli. Zumindest war es der letzte Wunsch, den ich Omma Lore, 97, erfüllen konnte, ihr, die mir 45 Jahre lang sagenhaft viele Wünsche erfüllt hatte, die meinem Bruder und mir all die Jahre immer eher eine Mutter war als eine Großmutter.

Omma Lore.

“Junge, haste noch Arbeit?” Völlig unvermittelt kommt mir dieser Satz manchmal in den Sinn. Diese Frage, einst mit echter Besorgnis gestellt, später mehr und mehr running gag zwischen ihr und mir. Als sie merkte, dass das mit dem Freiberuflertum also ganz okay aufzugehen schien.

“Omma” – im Ruhrgebiet, dem schönsten Landstrich Deutschlands mit den tollsten Leuten, treten Konsonanten gerne im Doppel auf. Vermutlich, um das Drumherum schneller “wech” zu haben. Pragmatismus und eine ungeheure Schaffenskraft haben das Ruhrgebiet geprägt, und Omma war klar von hier.

Wenn ich jetzt vor Heiligabend in ihrem Schlafzimmer wach werde, im ersten Obergeschoss meines Elternhauses, ist alles unverändert. Die pastellfarbenen Kostüme im Schrank. Die Taschentücher in den Schubladen, so sorgfältig gefaltet wie alles, was sie bis zum Ende manisch weggefaltet hat. Obwohl längst im Rollstuhl und körperlich kaum noch in der Lage, sortierte sie alles, was sie in die Finger kriegte. Handtücher, Papas Unterhosen, und wenn sie meinen offenen Trolley im Gästezimmer erwischte, wurde der reingestopfte Inhalt: rausgeholt, gefaltet, gestapelt.

Jeden Moment, denke ich gerade, kommt sie um die Ecke und freut sich wie bekloppt. “Junge! Wenn du kommst, das ist für mich immer ein Highlight!”

Die deutsche Sprache war ihre Freundin: “Ich werd dir gleich eine eliminieren!”

Das gute Eschenbach-Porzellan, das gehört jetzt der griechischen Reinemachfrau, die im Laufe der vielen Jahre zur Freundin geworden war. Das gute Geschirr, Toast mit Butter, Filterkaffee mit Kondensmilch aus dem Tetrapak. Daneben die Tablettenbox, so voll mit Pillen, die hätte als Requisite für drei Staffeln “Breaking Bad” gereicht. Unverrückbar die tonnenschweren cremefarbenen Velourssessel im Wohnzimmer, im Kreis um den Tisch angeordnet. Hier oben war das Zentrum des Vier-Generationen-Hauses. Hier kamen alle zusammen. Mama, Papa, mein Bruder, meine Schwägerin, die Kinder. Und eben die Gastgeberin der ersten Etage: Omma. Im Sesselkreis diskutierten wir die weltpolitische Lage, schauten strippenden Bürokaufmännern in schwarzen Kniestrümpfen bei “Tutti Frutti” zu oder erzählten uns zum hundertsten Mal die Geschichte, wie Omma mich aus ihrer Etage ausgesperrt hatte, weil ich als Teenager in ihrer blitzsauberen Küche versucht hatte, Koreanisch zu kochen.

Zahllose Abende haben wir damals in unseren weiten, tiefen Hosen vorm Verlassen des Hauses Richtung Club zusammen mit “der Gräfin” (O-Ton Onkel Franz) auf ihrer Etage gesessen und uns mit Vodka-O eingetrunken. Meine Freunde Aziz, Tömmes und Myung-Hyun, dessen Mama koreanische Frühlingsrollen gemacht hatte im Austausch gegen eine Ladung von Ommas brutal ungesunder Lasagne. Wandel durch Handel. Omma war auch die Oma meiner Freunde. Stets bereit, die deutsche Sprache mit neuen Impulsen zu würzen: “Ich werd dir gleich eine eliminieren!” Eine kleine weißhaarige Frau mit dünnen Beinchen in Romika-Schlappen.

Sie war die letzte. Alle Freunde und Freundinnen längst verstorben. Oppa schon seit dreißig Jahren tot. Danach gab es keinen Mann mehr in ihrem Leben. Niemand hätte ihn ersetzen können, über den die Altgesellen des Handwerksbetriebes, dessen Begründer und “Meister” er war, geredet haben, als sei er der leibhaftige Odysseus.

Angeboten hatte sich einige: “Omma, der Jupp Herting meinte, jetzt da seine Frau nicht mehr lebt, da könntest du doch mit ihm….” – “Der Jupp! Dem würd ich wat geben. Und zwar mit dem Basketballknüppel.” Die Neologismen, die sie in 97 Jahren erschaffen hat, sind zahllos, immer wieder ploppt über die Jahre und Tage ein neuer auf.

Wir können ihre Einsamkeit etwas abpuffern und doch: So ist das also, wenn alle, die du mal kanntest, tot sind. Sie sagt: “Weißt du, manchmal habe ich solches Heimweh.” Sie denkt jeden Tag an ihren toten Mann. Dann an ihren Sohn – meinen Onkel Günther -, der mit gerade mal vierzig gestorben ist und ebenfalls mit uns unter einem Dach gelebt hatte.

Frikadellen, Kohlrouladen, und auch für Fusion ist sie offen: Bami Goreng. Mit Salami

Alles ist leichter, wenn du Aufgaben hast. Sie ist die Erste, die morgens wach ist. Kaffee machen, meinen Bruder für die Arbeit wecken, mich für die frühen Einsätze beim Zivildienst, wo ich all die vielen betreue, die einsam und verwahrlost in ihren Wohnungen verkümmern. Angehörige gibt es meistens – aber wo sind die alle? Omma hat es besser.

Was kann sie kochen. Frikadellen mit Bohnen, Kohlrouladen, aber auch für Fusion ist sie offen: Bami Goreng. Mit Salami. Musste weg. “Mmhmm, Omma! Das ist ja lecker! Was ist das denn?” – “Ich hab die Paprika mit reingemacht. Die war schon halb schlecht.”

Zu Weihnachten freut sie sich am meisten über einen Karton voller Cremes und Seifen. Nicht nur wegen des herrlichen Wohlgeruchs. Auch lässt sich das alles so schön akkurat zu den weggefalteten Taschentüchern ins Schränkchen sortieren, sodass alles noch ordentlicher aussieht als vorher schon. Als sie mal die Sexheftchen meines Bruders in den quadratischen Badezimmerregalen hinter den Handtüchern findet, sind ihr die Hefte völlig egal, die werden einfach zur Seite gelegt – was sie auf die Palme bringt: dass die Handtücher davor nicht richtig gefaltet in den Schränken liegen.

Zentrum des Vier-Generationen-Hauses: die tonnenschweren cremefarbenen Velourssessel im Wohnzimmer.

(Foto: privat)

25 Jahre ist der weiße Klinkerbau in Henrichenburg mein (Groß-)Elternhaus. Omma immer nur ein, zwei Schritte entfernt. Irgendwo zwischen Küche und Waschküche wuselt sie rum und ist wirklich immer dabei und bekommt immer alles mit. Einmal sitzen sie, meine Mama und ich bei ihr im Sesselkreis. Aus der Etage meines Bruders dringen verdächtige Geräusche. Auffällig lautes weibliches Stöhnen.

Peinliche Stille bei uns in den Veloursmöbeln.

Das Stöhnen gewinnt an Dramatik.

Peinliche Stille weiter bei uns.

Dann seufzt Omma: “Mein Gott, wat ein Gejaller! Die spielt dem doch wat vor!”

Sie ist schlicht nicht – nie! – zu bescheißen. Sie ist unbescheißbar, dabei stets freundlich und rücksichtsvoll. Bei den Pflegerinnen, die in den letzten Jahren zu ihr nach Hause kommen und sie morgens versorgen, um sauber und ordentlich in den Tag zu finden, ist sie die Beliebteste. “Wenn bei der Pflegerin das Wasser mal zu heiß ist, ja, mein Gott, wat die um die Ohren haben! Hauptsache, die Pelle bleibt dran!” Sie hat eine Gelassenheit, die man in der Fensterrentnerrepublik Deutschland auch bei Jüngeren vergebens sucht. “Spaß muss sein”, sagt sie, “sonst kommt keiner auffe Beerdigung.”

Fernsehen gucken? “Ganz ehrlich, Junge, so ist das scheiße. Ich sitz da wie ‘ne Eule.”

Mein Freund Harry behauptet noch heute, der 90. Geburtstag meiner Oma, vor sieben Jahren, sei die beste Party seines Lebens gewesen. Ein sonniger Tag im Juni. Mama hat die Küche im Erdgeschoss geräumt, um Platz zu machen für die Band meines Freundes Till. Die Türen weit auf zur Terrasse. Stones, ZZ Top, The Police. Im Garten rund hundert Leute zwischen 6 und, tja: 90. Familie, Freunde, alte Weggefährtinnen, die Gesellen aus dem elterlichen Handwerksbetrieb. Dazwischen, zu “Gimme All Your Lovin'”: Omma, die Königin, Prösterchen mit Ramazotti.

Verliefe das Leben nach Drehbuch, so wäre nach diesem Triumph Schluss gewesen. Glücklich ins Bett gehen und einfach nicht mehr aufwachen. Leider ist das, was folgt, eine beschissene Zumutung. Oberschenkelhalsbruch. Alles wieder lernen, hier ein Fuß hin, da einen Fuß hin. Erst der Rollator. Dann der Rollstuhl.

So richtig kommt sie nicht mehr auf die wackeligen Beine. Die schönen Samstage, wenn sie mit meiner Mama und Tante Helga als schickes Trio durch die Innenstädte flanierte – alle in Creme, weiß, hellgrau gewandet wie feine Argentinierinnen – und an deren Ende sie stets vorm Eiscafé saß, die alte Kroko-Handtasche auf dem Schoß, diese Samstage sind nun zu anstrengend. Aber nur vor dem Fernseher hocken, das kann sie nicht. “Ganz ehrlich, Junge, so ist das scheiße. Ich sitz da wie ‘ne Eule.”

Immer wieder macht sie sich also auf die fast tauben Füße. Produktivität = Identität. Vom Rumsitzen wird nix sauber. Hier was putzen. Da was falten. Rein in die Waschtrommel, raus aus der Waschtrommel. Rein in den Trockner, raus aus dem Trockner, weiterfalten. Meine Mama macht es wahnsinnig, dass ihre Mama oben im ersten Stock nicht stillhalten kann. Wieso liest sie nicht mal was oder guckt fern? Weiter. Immer weiter.

Der Satz: “Omma ist wieder gefallen.” Immer wieder Brüche. “Ach, ich bin zufrieden.” Wie eine Kirmes, deren Lichter noch blinken, während schon an den Traversen geschraubt wird.

Als ich ihr erzähle, dass ich mitten in der Nacht (21 Uhr) noch nach Dortmund will, guckt sie sorgenvoll: “Junge, jetzt noch? Nach Dortmund? Nimm Pfeffer mit!” Ich erkläre ihr, dass man Pfeffer heute, so man Angst haben sollte, als Spray in Gefahrenzonen wie Dortmund mitnimmt, nicht mehr als Pfefferstreuer. Gelächter. “Wehe, das steht morgen wieder im Internet!” Ihre Hände. Wie alte Wurzeln. Die Handgelenke. Gebrochen. Wieder zusammengewachsen. Schief, doch voller Kraft.

Der letzte Sturz ist der eine zu viel.

Sie will mal wieder aus dem Rollstuhl raus, um irgendwas zu erledigen. Sie fällt aufs Gesicht. Mein Neffe findet sie, der in dem Zimmer wohnt, in dem ich damals wohnte. Meine Mama und meine Schwägerin übernehmen die Erstversorgung, bis der Notarzt kommt. Man muss sagen: Die Familie hält bis zum Schluss zusammen.

“Fanta!”

Wer noch einen Beleg dafür braucht, dass sich am Ende eines Lebens auch geschmacklich ein Kreis schließt, bitte sehr. Meine kleine Tochter, ihre Urenkelin, hätte sich nichts anderes gewünscht. Ich gehe über den Krankenhausflur, runter ins Erdgeschoss zum Getränkeautomaten, um Omma eine Fanta zu ziehen. Das viele stille Wasser aus dem Plastikschnabeltässchen ist so ereignisarm wie alles im Hospital. Tröstlich und vielversprechend, dass ihr der Sinn danach steht, Limonade zu trinken, etwa nicht? Sie trinkt eifrig, während ich darauf achte, dass sie sich nicht verschluckt. So wie sie überhaupt wirkt, als könne jede unachtsame Bewegung ihr den Rest geben.

Auf der Beerdigung wird mein Vater von einer Wespe gestochen. Meine Mutter ist genervt

Fragil liegt sie dort, die Arme bandagiert, die Hände geschwollen, das Gesicht mit Pflastern beklebt. Was, wenn das Gefühl nicht mehr zurückkehrt in die Hände? Ich streiche ihr über die immer rosigen, jetzt fahlen Wangen. Diese weiche Haut. Tausende Male hab ich diese Frau gedrückt und geküsst. Trotz der starken Schmerzmittel ist sie wach genug, um ein paar Gedanken auszutauschen. Wie schön es miteinander war, oder?

“Ich bin dankbar. Ihr wart immer lieb.”

Sie möchte nicht mehr.

Eine Sprachnachricht mit kindlichen Genesungswünschen von meiner Tochter. Da hellt sich ihr Gesicht auf. Sie braucht einen Moment, um zu verstehen, dass das hier kein Telefonat ist, sie antwortet also der Sprachnachricht meiner Tochter: “Das ist lieb, meine Kleine. Ich bin in Güte eingebettet.”

Ich bin in Güte eingebettet?

Einen derart sakralen Ton kenne ich nicht von ihr.

Ja, mit 90 hätte Schluss sein sollen. Dann aber hätte meine Tochter nicht ihre Uroma kennengelernt. Diese kostbaren sieben Jahre hätte es nicht gegeben. Es war also unter anderem auch gut. Noch ein Schluck Fanta. Das Pergament der Unterarme mit Salbe einreiben. Schlafen? Schlafen. Ein Kuss.

“Ich hab dich lieb, Omma.”

“Bis bald, Junge.”

Am 18. Juli abends der Anruf meines Bruders: “Omma hat es geschafft.”

Die Beerdigung. Beim Weg raus aus der Kirche erschrecke ich über mein eigenes plötzliches Schluchzen. Meine Tochter, die unbedingt dabei sein wollte, versucht, mich ein wenig abzulenken, in dem sie fröhlich über die Beschaffenheit der löchrigen Plastiktüte fabuliert, in der die bemalte Muschel war, die sie Omma Lore aufs Grab legen wird.

Geschlossen marschiert die Trauergemeinde die paar Meter von der Kirche zum Friedhof. Alle sind gekommen. So viele Menschen in Schwarz, mit zusammengekniffenen Augen sieht es aus wie beim Nick-Cave-Konzert. Verheulte Gesichter hinter dunklen Sonnenbrillen. Mein Vater wird von einer Wespe in die Hand gestochen. Meine genervte Mutter: “So was macht der immer.”

Erst im dritten Versuch lässt sich die Urne in die Erde senken. Der Pfarrer spricht kurz, dann muss er weiter zum nächsten Termin. Einschulungsgottesdienst. “Ein Ende. Ein Anfang.” Und so weiter.

Der Garten. Die Sonne an einem Tag im August. Die Alten. Die Jungen. Die Kinder. Geschichten. Aperol und Abschied.

“Auf Omma!”

Da hinten auf der Terrasse, zwischen all den Menschen auf gelbweißen Polstern, sitzt sie da nicht? Nein, da sitzt sie nicht.

Das erste Weihnachten ohne sie. Alles ist vollkommen unsortiert.

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