Kommt jetzt doch die EU-Lieferkettenrichtlinie? Das sagt die FDP dazu – und das die Wirtschaft

Anfang des Jahres hat sich die FDP gegen das europäische Lieferkettenregelung ausgesprochen und damit auch in der Koalition für Unmut gesorgt. Nun könnte die Richtlinie bald wieder zur Abstimmung in Brüssel kommen. Ein Streitgespräch zwischen Carl-Julius Cronenberg, mittelstandspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, und Anna Rüchardt, Bereichsleiterin beim Bekleidungsunternehmen Hakro.

Von Jan Rübel

Herr Cronenberg, das Nein der FDP zum ausgehandelten Entwurf einer europäischen Lieferkettenregelung kam Anfang dieses Jahres überraschend. Warum wurde Ihre Partei nicht früher laut?
Carl-Julius Cronenberg: Die Koalitionsvereinbarung ist eindeutig. Im Koalitionsvertrag steht: “Wir begleiten konstruktiv eine wirksame europäische Lieferkettenrichtlinie, die den Mittelstand nicht überfordert.” Die Bedingung, den Mittelstand nicht zu überfordern, wurde in der gemeinsamen Protokollerklärung der Bundesregierung vom November 2022 konkretisiert. Dort steht eindeutig, dass es ohne Safe-Harbour Regelung keine deutsche Zustimmung geben wird; damit ist gemeint, dass sich Unternehmen vor Haftung für Gesetzesvergehen schützen können, die durch Dritte, beispielsweise indirekte Partner, entstehen.

Anna Rüchardt: Wir waren davon ausgegangen, dass die Lieferkettenrichtlinie ausgehandelt war und es nun nur noch um die formelle Freigabe ging.

Cronenberg: Das kann ich so nicht bestätigen. Die Trilogeinigung führt nicht automatisch zu einer Zustimmung der Mitgliedstaaten. Das erkennt man schon daran, dass Deutschland keineswegs mit seiner Enthaltung alleine steht. Sieben oder acht Staaten haben auch gesagt: Nein, so können wir dem nicht zustimmen.

Anna Rüchardt ist Nachhaltigkeitschefin beim Bekleidungsunternehmen Hakro

 

© Hakro

Nun heißt es auch, dass Ihr Parteichef Christian Lindner Briefe an andere Regierungen geschrieben haben soll, und unter den Skeptikern sind Staaten wie Zypern oder Luxemburg. Also nicht gerade riesige Agrarwirtschaften….
Cronenberg: Es wäre mir neu, dass sich die Positionierung der nationalen Regierungen von Briefen beeinflussen lässt, die aus Deutschland kommen.

Rüchardt: Es ist aber schon so, dass Deutschland damit kein starkes Zeichen in Europa setzt – vor allem, wenn so spät nochmal eingeschritten wird. Diese Wahrnehmung habe ich aus der Sicht der Wirtschaft ganz klar.

Cronenberg: Sagen Sie nicht, dass Sie die ganze Wirtschaft vertreten. Alle Umfragen aus den Verbänden zeigen ein anderes Bild. Die deutsche Enthaltung ist folgerichtig, wenn man die Protokollerklärung ein Jahr zuvor ernst nimmt. Warum sollte man annehmen, dass wir davon abweichen?

Rüchardt: Ich vertrete natürlich nicht die gesamte Wirtschaft, sondern ein mittelständisches, familiengeführtes Unternehmen. Aus unserer Sicht hat die ausgehandelte Richtlinie schon sehr viele Bedenken aus dem Mittelstand aufgegriffen, zum Beispiel, dass kleinere und mittelständische Unternehmen nur bestimmte Ressourcen zur Überprüfung haben.

Carl-Julius Cronenberg ist mittelstandspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens Julius Cronenberg Sophienhammer     

Kann man denn sagen, dass die deutsche Wirtschaft geteilt ist?
Cronenberg: Nein. Es gibt eine kleine Minderheit von Unternehmen, die dem vorliegenden Ergebnis gerne zugestimmt hätten. Aber eine Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie hat ergeben, dass 80 bis 90 Prozent der Unternehmen eine solche Verschärfung gegenüber dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz abgelehnt hätten.

Rüchardt: Diese Zahlen würde ich mit Vorsicht genießen. Ich habe auch andere Umfrageergebnisse gelesen. Es kommt immer darauf an, wer gefragt wurde, welche Unternehmensgröße in welcher Branche. Es gibt durchaus mittelständische Unternehmen, die europaweit längst praktizieren, was die Richtlinie fordert. Und das nicht aus einer reinen Selbstmotivation heraus, sondern auch, weil es wirtschaftlich Sinn macht und wir damit eine Resilienz in Lieferketten schaffen, die uns ganz klar wirtschaftlich hilft.

Cronenberg: Das sehe ich genauso: Weil es Sinn macht. Und weil es schon so viele erfolgreiche Unternehmen gibt, die solche Standards oder Sorgfaltspflichten anwenden, braucht es kein Gesetz.

Rüchardt: Das stimmt nicht. Denn die entsprechenden Arbeits- und Sozialstandards sowie die Umweltstandards in den Lieferketten sind nach wie vor nicht flächendeckend umgesetzt. In Deutschland haben wir ja unser Gesetz: Und es bewirkt, dass unsere Bemühungen um unsere Sorgfaltspflichten durch unsere Kunden mehr Zugkraft bekommen. 

Cronenberg: Ich interpretiere die Erfahrungen mit dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz ein wenig anders. Es ist ja erst seit bald 14 Monaten in Kraft. Und wir wissen noch nicht, was es überhaupt bewirkt hat – außer dass eine überragende Mehrzahl von Unternehmen sagt, es beschere ihnen zusätzliche Bürokratie. Und darüber könnte man sich dann streiten, wenn klar wäre, dass sich die Menschenrechtslage in den Regionen verbessert. Dafür gibt es aber noch keine Evidenz. Daher halte ich es für falsch, ohne Schlussfolgerungen aus dem Wirken des deutschen Gesetzes eine EU-Richtlinie durchzusetzen.

Als indes in Deutschland darüber diskutiert wurde, ob ein nationales Gesetz beschlossen wird, hieß es von Kritikern: Warum jetzt ein nationales Gesetz? Lasst uns das doch europäisch regeln.
Cronenberg: Wir von der FDP waren damals tatsächlich dafür, von vornherein einen europäischen Weg zu gehen. Aber die damalige Bundesregierung wollte es anders. Man sollte sich jetzt sehr genau angucken, was das deutsche Gesetz an Verbesserungen gebracht hat. Was sicher ist: Zum Beispiel hat sich Strabag, ein großer Straßenbau- und Tiefbaukonzern, aus Afrika komplett zurückgezogen, weil er nicht das Risiko eingehen will, von öffentlichen Ausschreibungen in Deutschland ausgeschlossen zu werden.

Rüchardt: Es braucht schon eine umfangreiche Analyse der menschenrechtlichen und auch ökologischen Risiken. Das ist aber im genuinen Interesse eines jeden modern wirtschaftenden Unternehmens. Wenn ich mein eigenes Geschäftsmodell, meine in vielen Sektoren sehr komplexen Lieferketten nicht durchdringe und meine eigenen Risiken nicht im Blick habe, dann kann ich gar nicht zukunftsgerichtet wirtschaften. Und nur das ist verlangt von dieser Gesetzgebung. Wenn ich es nicht schaffe, gemeinsam mit meinen Produktionspartnern, in meinen Lieferketten, an der Weiterentwicklung und an der schrittweisen Umsetzung von fairen Arbeitsstandards und guten ökologischen Produktionsbedingungen zu arbeiten, dann erst ziehe ich mich von diesem Partner zurück.

Das Lieferkettengesetz wurde in Deutschland beschlossen wurde, weil man vorher den Unternehmen einen längeren Zeitraum zur Verfügung gestellt hatte, selber freiwillig auf die Lieferketten zu schauen. Das Ergebnis war, dass die allermeisten Unternehmen gar nichts gemacht haben. Braucht es nicht doch einen staatlichen Schubser?
Rüchardt: Die Frage nach der Verantwortung ist nun wirklich keine neue. Wer ist denn in der Verantwortung, für nachhaltige Transformation zu sorgen? Ist das der Gesetzgeber? Ist das der Markt? Oder sind das die Unternehmen? Es sind alle drei. Nachhaltige Transformationen bekommen wir nur gemeinsam hin, und dafür brauchen wir Leitplanken. Der Markt hat gezeigt, dass es nicht allein über die Freiwilligkeit funktioniert. 

Cronenberg: Diese Umfrage war ein “Fake”. Das war nicht ernsthaft gemeint, ein Katalog von 35 Fragen – und eine einzige falsche Antwort im Sinne der Fragesteller führte dazu, dass das Unternehmen nicht als sorgfältig im Umgang mit den Risikoüberprüfungen gewertet wurde. Das wäre so, als wenn man das Abitur nur bekommt, wenn man in allen Abiturprüfungen mit eins plus abschneidet. 

SPD- Bundesarbeitsminister Hubertus Heil argumentiert allerdings mit dieser Umfrage. 
Cronenberg: Das Lieferkettengesetz und der Impuls dazu gingen mehr vom damaligen Bundesentwicklungsminister von der CSU aus. Heutzutage will die Union im Bundestag nichts mehr davon wissen. Es stimmt, dass der Arbeitsminister diese Umfragen zitiert. Mit “Fake” meine ich, dass die Umfrage unfair war. Ich bin selbst Gesellschafter eines Familienunternehmens. Auch wir schauen unseren Lieferanten sehr genau auf die Finger. Aber wir haben das nie dokumentiert. Und wenn wir gefragt worden wären und hätten völlig ehrlich in gutem Glauben diesen Fragebogen ausgefüllt, dann wären wir hinterher wie jemand dagestanden, der seinen Pflichten nicht nachkommt.

Wie vorhersehbar und wie vermeidbar sind denn Menschenrechtsverletzungen? 
Rüchardt: Wir analysieren menschenrechtliche und ökologische Risiken seit vielen Jahren. Das hilft uns nicht zuletzt auch, zu verstehen, wie unser eigenes Einkaufsverhalten negative Effekte in den Lieferketten bedingt. Hier können wir als erstes ansetzen. Denn es gilt: Wenn wir gute Arbeitsbedingungen in Lieferketten stärken, dann fördern wir auch eine geringere Fluktuation bei den Arbeiterinnen und Arbeitern in einem Produktionsstandort. Das wiederum fördert die Kontinuität unserer Produktionsqualität, also wirklich unserer Produkte.

Lieferkettengesetz – das Projekt

Cronenberg: Ich bin Gesellschafter in zehnter Generation in der Beschlagindustrie, und wir wirtschaften seit über 300 Jahren sehr nachhaltig und sehr erfolgreich. Ich wäre nicht froh, wenn die Grundlagen und Erfolgsrezepte für nachhaltiges Wirtschaften per Gesetz allen meinen Mitbewerbern beigebracht würde, ich möchte meine Wettbewerbsvorteile schon gerne für mich selber haben. 

Rüchardt: Ihrer Äußerung, dass Nachhaltigkeit ein Alleinstellungsmerkmal sein sollte, kann ich beim besten Willen nicht zustimmen. Sobald wir in die Zukunft denken, muss Nachhaltigkeit etwas sein, wo wir Kräfte bündeln, weil wir diese Transformation nur gemeinsam gestemmt bekommen. Gerade aus Sicht eines mittelständischen Unternehmens geht es ja auch um ganz konkrete Dinge wie: Dass wir uns Kosten teilen, zum Beispiel in gemeinsam geteilten Lieferketten. Die entstehen, wenn wir Arbeitsstandards gemeinsam verbessern.

Herr Cronenberg, was müsste denn aus Ihrer Sicht raus, um einer Regelung zuzustimmen? 
Cronenberg: Was ich persönlich sehr kritisch sehe, ist die Haftung auch im Downstreambereich – also an mindestens den ersten Kunden, den ich habe. Nehmen wir mal das Beispiel eines Baumaschinenherstellers: Der verkauft nicht unbedingt an Bauunternehmen, sondern eher an Großhändler oder Importeure. Sitzen die etwa im Mittleren Osten, verkaufen die unter Umständen an Unternehmen weiter, die in Katar Arbeiter beschäftigen, die unter allen Mindeststandards vergütet oder behandelt werden. Dann ist der Baumaschinenhersteller schnell in der Haftung und bezahlt ein Bußgeld in einer Mindesthöhe von fünf Prozent des Umsatzes. Das ist prohibitiv für viele mittelständische Unternehmen. Die Durchschnittsrendite im deutschen Mittelstand liegt deutlich unter fünf Prozent, eher bei der Hälfte. Auch der Klimaplan mit Vergütungsvorschriften für Geschäftsführung und Aufsichtsrat – das überfordert die größeren Mittelständler und greift in die Vertragsfreiheit ein. Beim Thema Klimaplan gibt es ein Beschwerderecht für Nichtregierungsorganisationen (NGO), die nicht betroffen sind; das ist überschießend.

Rüchardt: Mir fehlt in Ihrer Auflistung noch ein essenzielles Fragezeichen: Wofür hafte ich denn? Ich hafte für das Wegschauen bei Verletzungen von Menschenrechten oder ökologischen Missständen. Und das ist mehr als gerechtfertigt. Dieses Wegschauen hat sich bisher wirtschaftlich gelohnt. Auch Ihr Beispiel ist so nicht richtig. Laut der angestrebten europäischen Richtlinie besteht lediglich dann eine Haftung auch Downstream, wenn Missstände einen Zusammenhang mit dem Produkt selbst haben – etwa durch dessen Gebrauch oder auch dessen Entsorgung am Lebensende. Was das Beschwerderecht für NGOs beim Thema Klimaplan anbelangt, will ich betonen, dass Klima nun mal leider ein globales Problem ist. Es gibt also nichts und niemanden, der davon nicht betroffen ist. 

In der verhandelten Richtlinie ging es um eine Bemühenspflicht. Bloß: Ab wann hat man sich als Unternehmen genügend bemüht, um dann nicht in Haftung genommen zu werden? Tut sich da ein Graubereich auf?
Rüchardt: Ich denke, das wird sich in der Umsetzung zeigen. Es geht hier allerdings immer, und so steht es auch im Text des Gesetzesentwurfs, um die Angemessenheit, die Zumutbarkeit und durchaus auch mit dem Gedanken an kleine und mittelständische Unternehmen und deren verfügbare Ressourcen.

Cronenberg: Ich bin ganz sicher, dass Sie nicht der Auffassung sind, dass alle Unternehmen, die gegen die Richtlinie sind, aus welchen Motiven auch immer, ihren Unternehmenserfolg auf der Ausbeutung von Menschen oder gar Kindern begründen. Das wäre eine sehr weitgehende Unterstellung. Nochmal zur Haftung: Sie haben vollkommen recht – so, wie das angelegt ist, werden die Unternehmen am Ende des Tages nicht haften müssen, es sei denn, sie haben wirklich grob fahrlässig gehandelt. Das Problem ist aber: Wir können jetzt schon beobachten, wie NGOs Unternehmen angreifen und vielleicht auch vor Gericht ziehen. Natürlich werden die Unternehmen im Zweifelsfall freigesprochen, aber den Skandal macht man nicht mehr rückgängig.

Rüchardt: Genau dieses reputative Risiko, das Sie ansprechen, ist für mich der ganz klare Beleg dafür, warum es so wichtig ist, unsere menschenrechtlichen und ökologischen Risiken umfassend im Blick zu behalten. Was mich interessieren würde, Herr Cronenberg: Haben Sie einen Gegenvorschlag für eine verbesserte Beachtung von Menschenrechten und Umweltstandards? 

Cronenberg: Erstmal meine ich das sehr ernst mit unserem deutschen Lieferkettengesetz. Wir sind Teil der Bundesregierung, und sie hat nichts unternommen, um das System nicht in Kraft zu setzen.

Es soll also nicht aufgeschnürt werden?
Cronenberg: Nein.

Aber es gab solche FDP Stimmen, nicht wahr?
Cronenberg: Ich spreche für mich. Es gab Stimmen, die ein Aussetzen vorschlugen, bis die europäische Richtlinie in Kraft ist. Denen schließe ich mich im Moment aber nicht an, weil ich keine Richtlinie sehe, die man in Kraft setzen sollte. Wie geht es also besser? Erstens sollten wir das deutsche Gesetz noch mal zwei, drei Jahre anwenden und genau gucken, wo es etwas gebracht hat und wo nicht. Wo sind Risikosektoren und wo sind Risikoregionen? Für die EU-Richtlinie sollten wir jetzt die Europawahlen abwarten. Dann kommt die neue Kommission, und im Herbst schauen wir uns das ganze Dossier noch mal gründlich neu an. Ich lehne an der europäischen Richtlinie auch nicht pauschal alles ab. 

Und wann sollten wir ein geschnürtes Paket haben, ungefähr in vier Jahren?
Cronenberg: Ja, zum Beispiel.

Rüchardt: Und erst dann legen wir flächendeckend los mit unseren unternehmerischen Sorgfaltspflichten, in vier Jahren?

Cronenberg: Ich möchte an dieser Stelle der noch einmal betonen: Die Kriminalisierung des mittelständischen Familienunternehmers in Deutschland kotzt mich an. Die sind mehr als anständig. Und egal ob ich in Afrika bin oder in Indien – überall sagen die: “Warum kommen nicht mehr deutsche Unternehmen? Wir wissen, eure Unternehmen bringen gute Arbeitsbedingungen mit, bringen Ausbildung mit.” Da würden Cluster von kleinen Zulieferern um die Fabriken herum entstehen, das bringt echten Fortschritt.

Rüchardt: In unseren globalisierten Lieferketten haben viele Unternehmen – insbesondere kleine und mittelständische – allein schon über Ihre entsprechend kleinere Nachfragemenge auch die Herausforderung eines geringen Hebels in einzelnen Produktionsstätten und -Ländern. Und genau das ist doch das Kern-Ansinnen der Lieferkettenrichtlinie: die Bemühungen vieler einzelner Unternehmen europaweit zu skalieren und damit mehr positive Wirkung bei der Einhaltung der Menschenrechte und dem Schutz der Umwelt zu erzielen. Eine gesetzliche Regelung schafft dafür innerhalb der EU mehr Zugkraft und darüber hinaus eine Chancengleichheit am Markt.

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