Kein Gas aus Nord Stream 1 – das sagt die Presse

Nord Stream 1 ist dicht. Seit Montag kommt aus der russischen Gaspipeline wegen Wartungsarbeiten kein Gas mehr an in Deutschland. Die Angst geht um, ob Putin den Gashahn je wieder aufdreht. So urteilt die Presse.

Trotz der aktuell herrschenden hohen Temperaturen läuft es Deutschland und Europa derzeit kalt den Rücken runter. Am ersten Tag der Wartungsarbeiten der Gaspipeline Nord Stream 1 und der damit auf Null gedrosselten Erdgaszufuhr aus Russland mehrt sich die Furcht, dass Putin den Gashahn womöglich nicht wieder anstellt. Deutschland zittert vor einem kalten Winter. Und das nicht zu Unrecht, wie die deutsche und internationale Presse urteilt.

“Münchner Merkur”: Bei allem Verständnis für Selenskyjs Wunsch nach maximaler Härte gegen Moskau: Auch dem Kriegsopfer Ukraine ist am Ende nicht geholfen, wenn sein Unterstützer Deutschland sich selbst ins Knie schießt. Bilder von frierenden deutschen Rentnern, die im Winter in Turnhallen untergebracht werden, würden nur Putin helfen. Doch so weit wird es mit etwas Glück nicht kommen. Moskau hat auch jetzt noch ein gewisses Interesse daran, sich als Gas-Lieferant nicht vollends unmöglich zu machen. Dreht der Kreml nach den etwa zehntägigen Wartungsarbeiten an der Pipeline Nord Stream I den Europäern den Gashahn wirklich dauerhaft zu, verliert er sein wichtigstes Druckmittel. Und seinen Spaß hatte Putin mit seinem Katz-und-Maus-Spiel schon jetzt. Schön wäre es, wenn die Ampel daraus jetzt auch die richtigen Schlüsse zöge. Deutschlands Lage ist so prekär, dass es im Winter auf keine seiner wenigen verlässlichen Energiequellen verzichten kann, auch nicht auf die drei letzten Atommeiler.

“Nürnberger Nachrichten”: Es war richtig – auch das muss jetzt endlich mal gesagt werden –, dass Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Regierung nicht schon vor Monaten die Gasimporte aus Russland stoppten. Das hatten damals einige Menschen gefordert – in der Hoffnung, den Diktator so zum Einlenken zu bewegen. Nicht auszudenken, wie wir heute zittern müssten, wenn in den vergangenen Wochen nicht wenigstens die Gasspeicher weiter gefüllt worden wären und die Industrie nicht an Notfallplänen hätte arbeiten können. Das drohende Energiechaos wäre noch größer – und damit auch die Gefahr der sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen in Deutschland.

“Rhein-Zeitung”: Putin gilt als Spieler, der mit einem schlechten Blatt gern sehr hoch pokert. Tatsächlich nutzt der russische Präsident derzeit seine Optionen geschickt, um den Westen zu verunsichern. Das ist das Hauptziel seiner aggressiven Konfrontationspolitik. Zehn Tage starrt der Westen und insbesondere Deutschland nun auf die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 wie das Kaninchen auf die Schlange. Wird Putin nach der Wartung die Gaslieferung wieder hochfahren? Es gefällt dem Kremlherrscher wohl, den Westen im Unklaren zu lassen und die vom Gas abhängige Industrie und die Verbraucher maximal zittern zu lassen – sein infames Spiel.

“Frankfurter Allgemeine Zeitung”: Für ein Land wie Deutschland ist die Ohnmacht schlicht inakzeptabel , mit der sein Wirtschaftsminister und der für das Energienetz zuständige Behördenleiter grundlegende Fragen nach der Zukunft beantworten müssen. “Wir wissen es nicht”, sagten Robert Habeck und Bundesnetzagentur-Direktor Müller am Montag auf die Frage, ob im Herbst genug russisches Gas nach Deutschland strömt. Ob die Gasspeicher, woher auch immer, bis dahin gefüllt sind, um das Land ohne große Verwerfungen über den Winter zu bringen – sie wissen wohl auch das nicht. In kurzer Zeit stürzte damit ein deutsches Kartenhaus ein. Drei per Gesetz geschützte eherne Prinzipien gerieten außer Acht: Wirtschaftlichkeit, Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit. (…)

“Nordbayerischer Kurier” In der Corona-Pandemie hat der deutsche Staat gigantische Summen mobilisieren müssen, um einen Kollaps der Volkswirtschaft und des Gemeinwesens zu verhindern. Es ist denkbar, dass er unter anderen Vorzeichen bald wieder vor dieser Aufgabe steht. Putin kann Deutschland erpressen. So weit hätte es niemals kommen dürfen. Wenn die Krise eines Tages vorbei ist, wird es eine schonungslose Analyse der Energiepolitik der vergangenen 20 Jahre geben müssen: Das Parlament muss der Frage nachgehen, wie und warum wechselnde Regierungen Deutschland ohne Not in eine Abhängigkeit von Russland gebracht und die Energiewende nur halbherzig vorangetrieben haben.

“Die Glocke”: Für Machthaber Putin ergeben sich eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit den energiehungrigen Abnehmerstaaten ein übles Spiel zu treiben. (…) Die deutsche Politik ist gefordert, unabhängig von dem russischen Pokerspiel alle erdenklichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um so gut es geht durch den Winter zu kommen. (…) Dabei darf es keine Tabus, keine Denkverbote geben. Das kategorische Nein der Grünen zu einem Weiterbetrieb der letzten drei noch laufenden Kernkraftwerke über den Dezember hinaus gehört dazu. Immer wieder werden zudem die Sparaufrufe von Vizekanzler Robert Habeck ins Lächerliche gezogen, der beim Duschen und Heizen sparen will. Selbst Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Appelle vor einigen Tagen abgetan. Das war unklug. Denn gerade Scholz ist jetzt gefragt, den Notstand deutlich zu machen. Er sollte die klare Botschaft senden: “Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung. Die Lage ist ernst.”

“Mitteldeutsche Zeitung”: Wladimir Putin, der gern andere unter Druck setzt, wird jetzt seinerseits getestet. Nach den Wartungsarbeiten an der Pipeline Nord Stream 1 muss der russische Staatspräsident entscheiden: Will er die in 60 Jahren gewachsenen Verbindungen zu Deutschland wirklich kappen? Natürlich hat er dazu die Macht. Doch Nachteile drohen dann nicht nur den Deutschen. Ein Ende der deutsch-russischen Gasgeschäfte brächte Wohlstandsverluste für beide Seiten. In Deutschland träfe das Minus eine Gesellschaft, die im Durchschnitt ein sehr hohes Niveau erreicht hat. Wie aber würde die ärmeren Russen mit Wohlstandsverlusten umgehen?

“Volksstimme”: Wärmeinsel – wie angenehm das klingt. Es suggeriert Fürsorge und Behaglichkeit. Wenn da nicht der historische Kontext wäre. In sogenannten Wärmestuben fanden die Deutschen in den Hungerwintern nach dem Zweiten Weltkrieg Zuflucht. Brennstoffe für die Wohnung wurden damals wie Goldstaub gehandelt. Das könnte heute bald ähnlich sein. Doch wer über die Einrichtung von Wärmeinseln redet, lenkt die durch den Ukraine-Krieg bedingte Energiedebatte in eine abenteuerliche Richtung. Es ist überflüssige Panikmache mit den entsprechenden psychologischen Folgen. Angst und Unsicherheit schaukeln sich hoch. Deutschland befindet sich aber nicht im Krieg. Die Bundesregierung muss die Folgen der eigenen Sanktionspolitik gegenüber Russland ausgleichen und dem Land eine ausreichende Energieversorgung über den Winter sichern. Vielleicht auf Sparflamme, aber ohne Wärmeräume und ein Volk am Bettelstab.

“Allgemeine Zeitung”: Es ist gut, dass Kanada trotz der Russland-Sanktionen eine Ausnahmegenehmigung für die Ausfuhr der dort gewarteten Gasturbine für Nord Stream 1 erteilt hat. Das zeigt zwar die Widersprüchlichkeit der Sanktionen, aber damit wird Moskau immerhin kein Vorwand für die Stilllegung der Pipeline geliefert. So oder so darf sich Deutschland nicht auf Spekulationen einlassen, sondern muss sich auf den schlimmsten Fall vorbereiten.

“Pforzheimer Zeitung”: Wladimir Putin gilt als Spieler, der mit einem schlechten Blatt gern sehr hoch pokert. Die Verunsicherung des Westens ist derzeit das Hauptziel seiner Konfrontationspolitik. Zehn Tage starren Deutschland und seine Verbündeten nun auf die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 wie das Kaninchen auf die Schlange. Das ist sein infames Spiel. Der Westen sollte sich darauf nicht einlassen, sondern, wie Wirtschaftsminister Habeck es sagt, für das Beste arbeiten und sich auf das Schlimmste einstellen. Putins Kalkül, beim Westen auf Ermüdung zu setzen, könnte sich als Fata Morgana erweisen. Der Krieg in der Ukraine verlangt zwar den Demokratien sehr viel ab. Am Ende sind die Menschen aber bereit, dafür auch etwas einzusetzen.

“Neue Osnabrücker Zeitung”: Die möglichen Szenarien sind zweifellos bedrohlich. Aber muss man deshalb gleich den Teufel an die Wand malen? Stellt Russland die Lieferungen ein und wird das Gas noch knapper, müssen zwei Dinge klar sein. Erstens: Die Versorgung von Haushalten, Kliniken, Kitas und Schulen hat absoluten Vorrang. Und zweitens: Wer aufgrund explodierender Preise seine Energierechnungen nicht mehr bezahlen kann, der muss vor einer Gas- oder Stromabschaltung geschützt sein – und auch davor, seine Wohnung zu verlieren. Menschen im Dunkeln und Kalten sitzen zu lassen wäre ein Offenbarungseid. Und es wäre ein weiterer Triumph für Wladimir Putin, der Energie als Waffe und Erpressungsmittel einsetzt. Diesen Triumph sollten wir ihm nicht gewähren.

“Leipziger Volkszeitung”: In der krausen Welt der Realpolitik findet sich jetzt auch Robert Habeck wieder. Dass der Wirtschaftsminister eine in Kanada gewartete Siemens-Turbine an Gazprom liefern lässt, ist ein Verstoß gegen die EU-Sanktionen. Man kann das als Tiefpunkt westlicher Regierungspolitik sehen, als Szene einer erbärmlichen Selbstentwürdigung. Dennoch lässt sich das Manöver rechtfertigen. Berlin nimmt Moskau das Argument weg, man könne wegen der sanktionsbedingt fehlenden Turbine “leider” kein Gas mehr liefern.

“Märkische Oderzeitung”: Eine Möglichkeit wird von der Bundesregierung aber ignoriert. Dabei könnte diese langfristig eine stabile Gasversorgung gewährleisten. Das böse Wort, um das die Ampel einen weiten Bogen macht, heißt Fracking. In den USA, deren Gas Deutschland einkauft, wird diese Methode der Förderung von Erdgas seit Jahren genutzt. Auch in Niedersachsen, NRW oder Baden-Württemberg gibt es Gasvorkommen. Doch bisher war Fracking verpönt. Die Gefahren wurden als hoch eingeschätzt. Denn Fracking kann das klimaschädliche Methan freisetzen und die benötigten Chemikalien können das Grundwasser kontaminieren. Schon vor einem Jahr hat eine von der damaligen Bundesregierung in Auftrag gegebene Expertenkommission die Probleme näher untersucht. Die Ergebnisse: Ein Risiko für die Umwelt bleibt. Allerdings hat sich die Technologie so weiterentwickelt, dass die Gefahren bei Sorgfalt auf ein Minimum reduzierbar sind. Es liegt also am politischen Willen, ein Ja zum Fracking zu geben.

Stimmen aus dem Ausland zum kurzeitigen Aus von Nord Stream 1

“The Times”: Verbrauchergruppen haben davor gewarnt, dass ein Viertel der Bevölkerung in die Energiearmut abrutschen könnte, weil sie es sich nicht mehr leisten können, ihre Häuser zu heizen oder mit Strom zu versorgen. Politiker haben bereits die Möglichkeit erörtert, beheizte Stadthallen zur Verfügung zu stellen, damit sich notleidende Einwohner im Winter warm halten können. All das sind gute Nachrichten für die rechtspopulistische AfD, die versucht, ihre schwächelnden Wahlchancen zu verbessern, indem sie die Krise für sich nutzt.”

“De Standaard”: Es dämmert Deutschland, dass die Gaszufuhr aus Russland sehr schnell zu einem Problem werden kann. Die Einstimmung der der Bevölkerung auf drastische Maßnahmen zur Bewältigung eines eisigen Winters ist – ungeachtet der bevorstehenden Hitzewelle im Sommer – bereits in vollem Gange. Dabei gibt es keine Tabus. (…)

“Wall Street Journal”: Die große Lehre aus der diesjährigen Energiekrise ist, dass die Anfälligkeiten Europas eine bewusste Entscheidung waren und keine unausweichliche Fügung. Anstatt aus diesem Fehler zu lernen, haben die deutschen Politiker beschlossen, ihn zu wiederholen.”

“Dagens Nyheter”: In Deutschland bereitet man sich auf einen harten Winter vor. Nicht weil es draußen ungewöhnlich kalt werden wird, sondern weil es notwendig werden kann, die Thermostate ordentlich herunterzudrehen. Fast die Hälfte der Haushalte im Land wird mit Erdgas beheizt, und in Städten wie Hamburg warnen Politiker davor, dass warmes Wasser vielleicht nur zu bestimmten Tageszeiten zur Verfügung stehen wird. Den deutschen Gasknall wird man auch in Schweden spüren.

“El Periódico”: Wir alle wissen, dass es kurzfristig keine idealen Lösungen gibt, nachdem die jahrzehntelange Abhängigkeit von russischem Gas einige EU-Länder in eine äußerst prekäre Lage gebracht hat. Mittel- und langfristig liegt die Lösung in der Diversifizierung und in der Beschleunigung der Energiewende. Kurzfristig ist der Handlungsspielraum kleiner, aber er ist vorhanden. Es sind allerdings Entschlossenheit, Fantasie und auch Solidarität nötig.”

“La Repubblica”: “Zu oft findet man für die europäische Behäbigkeit eine Art der Rechtfertigung: Die Union ist so, eins nach dem anderen. Aber dabei handelt es sich um Worte, die das europäische Projekt in Wirklichkeit erniedrigen statt es zu verteidigen. Und genau das passiert gerade beim Energienotstand oder besser gesagt beim Gasnotstand. Die EU erscheint wie gelähmt, versunken in einen vor allem von Mitgliedsstaaten überschwemmten Sumpf. Sicherlich von Deutschland, und vielen der sogenannten Frugalen. So kehrt man im Angesicht einer außergewöhnlichen Phase zu den üblichen Instrumenten und Antworten zurück. Besonnenheit wird zu Untätigkeit, Geduld wird zur Unvernunft. Ergebnis: Die europäische Größe wird reduziert und ihr Potenzial ignoriert. Doch Europa sollte jetzt – wie bei Corona nach einer anfänglichen Pattsituation – eine außergewöhnliche Reaktion zeigen. Eine, die über nationale Kurzatmigkeit hinausgeht. Aber das passiert nicht – zumindest im Moment.”

“Lidove noviny”: “Kiew drängt die EU-Staaten mit großer Entschlossenheit dazu, sich ganz von russischer Energie zu lösen. Ja, aus Sicht der Ukraine wäre das eine starke Geste der Unterstützung. Doch aus Sicht der Europäer ist es ein riskanter Schritt hin zu einem Winter ohne Heizung. Ist Solidarität einen solchen Preis wert? Das ist die Kehrseite der Medaille, wenn man die Ukrainer in ihrem Kampf ermutigt.”

kng
DPA
AFP

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