Josquin Desprez: Der geniale Renaissancekomponist – Kultur


Er gehört zu den geheimen Genies. Zu jenen Großmeistern, die einst von ihren Zeitgenossen vergöttert wurden und heute nur wenigen bekannt sind. Es geht um den Renaissance-Komponisten Josquin Desprez, damals ehrfurchtsvoll nur mit Vornamen genannt, wie ein König. Er starb vor 500 Jahren, am 27. August 1521, sein Grab in der Kirche von Condé-sur-l’Escaut, seiner letzten Wirkungsstätte, wurde in den französischen Revolutionswirren verwüstet und unauffindbar. Seine Werke werden von Kennern bis heute gerühmt, sind in üblichen Konzerten aber kaum je zu hören. Wie kommt es, dass uns die Namen seiner Zeitgenossen Botticelli, da Vinci, Lippi, Bronzino, Tizian, Perugino, Michelangelo geläufig sind und von den großen Musikern aus der Renaissance-Zeit gerade mal Palestrina und Orlando di Lasso im allgemeinen Gedächtnis überlebt haben? Wo sind Binchois, Ockeghem, Dufay, Obrecht, Janequin und all die anderen abgeblieben – und wo ist Josquin?

Wenn man sich die Aufnahme seiner “Missa Pange Lingua” mit dem Choir of Westminster Cathedral anhört, oder eine der inzwischen zahlreichen Aufnahmen mit Josquin-Werken, dann kann man dieses große Vergessen nur mit einem Mangel an Wissen erklären. Aber natürlich gibt es erschwerende Faktoren für eine Wiederbelebung dieses Genies: Der Großteil seiner Werke sind Messen und Motetten, und der Kompositionsstil, der so genannte Kontrapunkt, ist beinahe nur noch Kirchenmusikern geläufig. Den gleichen Stil, den man in vielen Werken von Johann Sebastian Bach noch bewundert, findet man bei seinen Vorgängern, die ihn zur Blüte trieben, veraltet und ein wenig langweilig, zu religiös, zu pathetisch. Und rhythmisch passiert ja praktisch gar nichts, harmonisch wenig. Nichts Verrücktes jedenfalls. Auch dies ist ein Ausschlusskriterium, denn wir bestaunen nicht mehr die Perfektion, das gelungene Kunstwerk, das sich gegen engmaschige Regeln zu nahezu freier Größe entfaltet, sondern das Außergewöhnliche.

Manchmal treibt das Missverständnis wunderbare Blüten

Ein weiterer Grund dürfte in der Aufführungspraxis liegen – leider vermutet man dann zu oft die Unfähigkeit des Ausdrucks beim Komponisten und viel zu selten bei den spröden Musikdarstellern, die dessen Andenken nachhaltig schänden. Man kann das nicht auf einzelne Musiker fixieren, und manchmal treibt das grundsätzliche Missverständnis über die Musik von Josquin auch wunderbare Blüten. Zum Beispiel bei der legendären Komponistin, Dirigentin, Pianistin und Musiktheoretikerin Nadia Boulanger, einer der Pionierinnen bei der Wiederentdeckung von Josquin in den 1950-er Jahren: Sie singt in einer Aufnahme als einsamer Diskant, begleitet von Männerstimmen, die wie eingefroren klingen, ein offenbar hochromantisches Liebeslied. Hingebungsvoll und mit viel Schmelz. Es ist aber ein Renaissance-Stück von Josquin, und man vermisst dann doch eine ganze Dimension in dieser freundlichen Darbietung. Vieles vom Gesamtwerk wurde erst in den 1960-er Jahren wirklich entdeckt und aufgenommen, darunter von Konrad Ruhland und seiner Capella Antiqua München, später auch vom Hilliard Ensemble, den Tallis Scholars, dem Taverner Choir and Consort und anderen. Das Label Warner Classics hat dazu eine verdienstvolle historische Edition mit vielen Ersteinspielungen aufgelegt (“Josquin and the Franco-Flemish School”, 34 CDs).

Ein weiterer Grund für das Vergessen ist die löchrige Lebensgeschichte Josquins. Man weiß wenig, es gibt keine Anekdoten, keine tragischen Ereignisse. Aufgewachsen in einem Kaff in Nordfrankreich, es folgen die Studier- und Karrierestationen Paris, Cambrai, Aix en Provence, Mailand, als päpstlicher Sänger Rom, schließlich als Vogt in Condé-sur-l’Escaut. Viele seiner Werke sind kaum zu datieren, bei vielen ist die Urheberschaft ungesichert. Allzu fleißig war er auch nicht. Zwölf bis achtzehn Messen, Motetten, Chansons, Madrigale. Gegen Palestrina und Lasso, die jeweils mehrere hundert Stücke in den genannten Gattungen schrieben, ist das nichts. Josquin hatte es offenbar nicht nötig. Sein Onkel hatte ihm ein Vermögen vererbt, und er war einfach so überragend gut als Komponist, dass wenige Stücke genügten, in aller Welt bewundert zu werden. Als der Musikberater des Herzogs von Ferrara dringend Heinrich Isaac empfahl, weil der so freundlich mit den Musikern sei und auch nur 120 Gulden koste, während der schwierige Josquin 200 verlange, entschied sich der Herzog für Josquin Desprez.

Oft sangen damals die Fürsten selber mit

Dieser Komponist stand einfach über den meisten seiner Zeitgenossen. Er hatte die strengen Kompositionsregeln der Zeit so perfekt verinnerlicht, dass er nicht mehr nach dem Prinzip Fehlervermeidung arbeiten musste, sondern echte kreative Kraft entfaltete und am Ende freier agieren konnte als die anderen, Spielraum hatte für eigene Gedanken, für Spielereien, Rätsel, frivole Subtexte.. Vieles hört man nicht gleich oder gar nicht und findet es nur, wenn man in die Noten schaut. Der Zeitgenosse Pfarrer Mathesius liefert dazu das passende Luther-Zitat: “Josquin ist der noten meister, die habens machen müssen, wie er wollt; die anderen Sangmeister müssens machen, wie es die noten haben wöllen.” Zu seinem Begräbnis wünschte sich Martin Luther eine Trauermotette von Josquin. Wer einmal so eine Motette oder eine Litanei von Josquin gehört hat, etwa mit dem Ensemble Cinquecento, kann das verstehen.

Die “Missa Pange lingua” von Josquin Desprez in einem handschriftlichen Chorbuch, das vor 1525 für Friedrich den Weisen kopiert wurde. Es liegt heute in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena.

(Foto: Fine Art Images/picture alliance)

Aber wie kam es, dass Italien von Sängern und Komponisten von der nördlichen Atlantikküste überrannt wurde? Josquin war ja bei weitem nicht der einzige aus dem franko-flämischen Gebiet, der nach Süden zog. Dort war eine Generation gebildeter junger Fürsten angetreten, bei denen die Verbindung von Geld und Geschmack in steigendem Maße kulturell fruchtbar wurde. Und zwar nicht nur in rauschenden und repräsentativen Festen und der dazu gehörigen aufwändigen Musik, sondern auch in der Wertschätzung der Musik selber und ihrer Schöpfer. Sänger, Komponisten, Kapellmeister – oft in einer Person, waren Stars, um deren Gunst Fürsten und Päpste buhlten. Wer es sich irgend leisten konnte, hielt sich eine Musikkapelle, dazu Pauker und Trompeter im militärischen Dienst und Sänger im Kirchendienst. Zu festlichen Anlässen brachte man alle zusammen und konnte mit einer ansehnlichen Musikertruppe aufwarten.

Bisweilen spielten oder sangen die Fürsten, wie der von Ferrara, sogar selber mit. Musikkundig zu sein, galt als Zeichen höchster Kultiviertheit. Das war ja selbst in Preußen, Bayern und anderswo noch bis weit ins 19. Jahrhundert königliche Praxis. Und wenn einem für die Musik die Ausdauer oder Intelligenz fehlte, konnte man immer noch schauspielern. In dieser Mischung entstand um 1600 in Florenz die moderne Form der Oper.

Druckverbot für geheime Musik

Zum guten Geschmack und Selbstverständnis gehörte es aber in der Renaissance nicht nur, nach außen zu protzen, sondern auch über private, persönliche Kunstwerke zu verfügen. Die musica reservata oder musica segreta bekam nicht jeder zu Gesicht. Was die Gruppe des Concerto delle Dame in Ferrara aufführte, blieb geheim. Oft handelte es sich dabei auch um Spottlieder und frivole Texte. Auch das in der Privatkapelle des Papstes Gesungene verließ den Raum nicht, ebensowenig die später so berühmten Bußpsalmen des Münchner Großmeisters Orlando di Lasso. Herzog Albrecht V. hatte ein Druckverbot verhängt und hütete die von Hans Mielich zur Prachthandschrift ausgemalten Stimmsätze wie einen Goldschatz.

Warum aber fanden die Instrumentalisten aus Deutschland, vor allem aber die Sängerkomponisten aus dem franko-flämischen Raum in Italien solchen Anklang? Weil sie ganz offensichtlich besser qualifiziert waren. Wo der Tuchhandel blühte, sagen einige Forscher, waren auch die Kirchengemeinden finanziell gut ausgestattet und konnten den musikalischen Nachwuchs bestens ausbilden. Am Ende wurde eine ganze Stilrichtung daraus, die Epoche der Niederländer, die franko-flämische Schule, die vor allem in Italien blühte. Selbst der Wahlmünchner Orlando di Lasso, neben Palestrina der berühmteste Musiker seiner Zeit, hatte sich, nachdem er zweimal wegen seiner “hellen, lieblichen Stimm” entführt worden war, schließlich als Singknabe an den Hof von Ferrante I. Gonzaga verpflichten lassen, war mit diesem umhergereist, bevor er sich später für die bayerische Residenzstadt als Lebens- und Wirkungsmittelpunkt entschied.

Der Beruf das Musikers war vielleicht auch deshalb so hoch angesehen, weil er nicht nur eine Wissenschaft repräsentierte, die der Mathematik gleichgestellt war, sondern weil er eine Vollkommenheit verkörperte, die selbst den bildenden Künstlern weitgehend versagt blieb. Der Musiker beherrschte Dichtung und Darstellung, die Redekunst ebenso wie die geheimnisvolle Welt der göttlichen Harmonien, die sich im Großen in den Gesetzmäßigkeiten der Bewegung der Himmelskörper zeigte und en detail in der geregelten Bewegung der Stimmen, die sich immer wieder zu wohlklingenden Klangballungen verdichteten. Dass der reine Gesang dabei die höchste Form der Musik sei, war noch bis in den Barock unbestritten. Die größten Komponisten der Zeit begannen als Sängerknaben und blieben oft genug ein Leben lang Profisänger. Das passt zum Selbstverständnis der Renaissance, in der der Mensch im Mittelpunkt steht, als individuelles Abbild und Ausdruck des Göttlichen.

Ersatz für die originale Tradition gibt es nicht

Das Individuelle könnte ein Anknüpfungspunkt an die Gegenwart sein. Allerdings, und das hört man den meisten Aufnahmen überdeutlich an: Man unterschätzt im Zeitalter der Selbstverwirklichung seltsamerweise die kreative Herausforderung der praktischen Ausführung. Vielleicht bremst dabei die philologisch geprägte Aufführungstradition alter Musik den Musiker aus, ihre längst institutionalisierte Akademisierung. Was anfangs bitter nötig war, nämlich eine genaue Erschließung der Quellen und Erforschung der historischen Praxis, mündet bisweilen in eine Erstarrung des Musikalischen. Nicht mehr aus Ehrfurcht vor den großen Meistern, sondern in der Angst, nicht historisch korrekt genug zu sein. Erst in jüngster Zeit trauen sich einige Ensembles, allen voran die belgische Gruppe Graindelavoix, die schriftlichen Überlieferungen durch rein musikalische Traditionen zu verlebendigen, etwa durch Adaption alter Gesangstechniken des Mittelmeerraums. Die individuelle Stimme bewegt sich hier freier, scheinbar undisziplinierter, emotionaler.

Es geht nicht so sehr um Faktoren wie Klangfarbe oder Volumen, sondern um maximalen und auch variablen, rein musikalischen und auch textinhaltlich relevanten Ausdruck und ungehemmte Klangintensität. Um das Öffnen der Stimme, den Mut zu weit gefassten, in heutigen Ohren manchmal etwas vulgär klingenden Vokalen, um alles, womit sich Erwachsene schwertun. Der Versuch, die originalen Diskantstimmen zu imitieren, macht die Sache eher schlimmer. Wo sich Frauenstimmen zu diesem Zweck gerade in der Höhe schlank flötende Zurückhaltung auferlegen, weitet sich der Stimmklang des Westminster Choir in heller, freudestrahlender Mittellage – da geht ein großes Tor auf, da öffnet sich der Himmel: Genau dies ist die Intention dieser Musik.

Deshalb ist die Überlegung, ob man Josquin mit Frauenstimmen besetzen kann, eine eher traurige. Es gibt ohnehin nur noch wenige fähige Kathedralchöre, und die verbliebenen werden als reine Männerveranstaltungen von manchen als Anachronismus betrachtet, den es zu tilgen gilt. Ersetzen kann man diese unvergleichliche Klangkultur aber nicht. Und auch die Kompromisslösung eines gemischten Chores muss sich an dem Anspruch messen, das historische Werk in der Gegenwart so groß werden zu lassen, wie es zu Zeiten seiner Entstehung war. Dann – das zeigt der Westminster Cathedral Choir eindrucksvoll – entfaltet die Musik ihre göttliche Macht.

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