Jewgeni Prigoschin: Wie der Wagner-Chef seine Macht verliert

Noch vor wenigen Monaten hielten manche Jewgeni Prigoschin für einen möglichen Nachfolger Wladimir Putins. Doch der Weg auf den Thron war für den Chef der Wagner-Söldner zu viel. Das Spiel mit den großen Jungs hat er verloren – zumindest für den Augenblick. 

Vier vermummte Gestalten, Gewehre in den Händen, Schutzwesten am Leib. “Euch grüßt die Artillerie-Abteilung der Söldnertruppe Wagner”, sagt einer der Männer seinen einstudierten Text in die Kamera auf. “Jeden Tag erfüllen wir schwierige Aufgaben und decken unsere Sturmtruppen. In diesem Augenblick sind wir vollkommen von der Versorgung mit Munition abgeschnitten.”

“Wir wenden uns an unsere Freunde und Kollegen im Verteidigungsministerium. Wir sind sicher, dass es diese Munition irgendwo gibt. Wir brauchen sie dringend”, appelliert der Mann in Camouflage. “Wir werden zutiefst dankbar sein, wenn ihr uns helft und diese Munition liefert. Viele Leuten werden dann überleben, sie werden weiter erfolgreich an Kampfhandlungen teilnehmen können. Das wird sich auf den gesamten Verlauf des Kriegs auswirken.” Die Botschaft: Hilfe, es fehlt an Munition für Haubitzen, für Panzer, für Panzerabwehr-Maschinen, für Granatwerfer.

Auf eine Reaktion hoffen die Wagner-Söldner aber vergeblich. Denn die gekappte Munitionsversorgung ist keinem unglücklichen Zufall geschuldet. Alle Zeichen deuten drauf hin: Die Musikanten, wie die Männer der Wagner-Truppe neuerdings bezeichnet werden, sollen ausbluten. Es ist das russische Verteidigungsministerium selbst, das auf diese Art und Weise einen bestimmten Mann ins Visier nimmt: Jewgeni Prigoschin.

Die Methoden von Jewgeni Prigoschin

Der berüchtigte Chef der Wagner-Truppe weiß um die Waffen, die auf ihn gerichtet sind. Mit einer Taktik, die sich im vergangenen Sommer für ihn bewährt hat, versucht er sie abzuwehren. Der Auftritt der vier vermummten Gestalten gehört zu einer ganzen Reihe von neuen Inszenierungen aus der Feder des Söldner-Chefs. Das Motiv ist stets dasselbe: Seine Kämpfer klagen über das Verteidigungsministerium und erheben Vorwürfe gegen die Kommandeure der russischen Streitkräfte. Prigoschin selbst gab unumwunden dem Ministerium von Sergej Schoigu die Schuld an dem andauernden Desaster bei Bachmut. 

“Wir bewegen uns nicht so schnell vorwärts, wie wir es gern hätten”, klagte Prigoschin vor der Kulisse eines noch im Sommer abgeschossenen Flugzeugs des Typs SU-24. “Wenn nicht unsere monströse Kriegs-Bürokratie wäre, hätten wir Bachmut bereits vor dem Neujahr eingenommen”, behauptete der Wagner-Chef. 

Doch es ist sein eigenes Scheitern, das Prigoschin mit dem Unvermögen anderer zu vertuschen versucht. Seit Monaten reibt er seine Truppe vor Bachmut auf. Welle um Welle lässt er die Häftlinge, die er aus den russischen Gefängnissen anwarb, in vergeblichen Sturmangriffen sterben. Sie dienen den regulären Armeetruppen als menschliche Schutzschilde – oder menschliche Köder, die ukrainische Soldaten dazu verleiten sollen, ihre Stellung zu verraten.

Wladimir Putin verteilt Ressourcen neu

Für einige Monate stieg Prigoschin dank dieser Methoden zu einem der schillerndsten Stars des Kriegs in der russischen Propaganda-Landschaft auf. Für eine kurze Zeit sah es tatsächlich so aus, als ob der Mann, der jahrelang lediglich als Putins Koch bekannt war, fast göttliche Macht in die Hände gedrückt bekam. Er konnte darüber entscheiden, wer begnadigt wird, wer am Leben bleibt und wer stirbt. Vor laufender Kamera ließ er Hinrichtungen vollstrecken. Die mächtigste Waffe in seinem Arsenal: die rekrutierten Häftlinge. 

Doch nun wurde ihm diese Waffe genommen. Anfang des Monats gestand Prigoschin ein: “Es wurde die Entscheidung getroffen, dass die Häftlinge demnächst in militärische Einheiten eingegliedert werden. In welche, kann ich nicht sagen. Das liegt außerhalb meiner Kompetenzen”, verkündete er in einer für ihn untypischen kleinlauten Art.

Prigoschin verliert also sein entscheidendstes Kapital. Und es gibt nur einen einzigen Menschen, der diese Entscheidung treffen konnte: Wladimir Putin. In dem System, das er aufgebaut hat, sind Häftlinge eine Ressource – sie liefern nicht nur menschlichen Nachschub für die Front, sondern auch ihrem Befehlshaber politisches Gewicht. Nun verteilt Putin diese Ressource neu. 

Prigoschin verliert Monopol

“Putin hatte Prigoschin den Zugriff auf die menschliche Ressource gewährt, die sich in Russland in den letzten 20 Jahren angesammelt hat”, sagt der Politologe Michail Komin. “Nun wurde diese Entscheidung revidiert.” Anderen Kräften, vor allem dem Verteidigungsministerium, sei es gelungen, sein Monopol auf diese Ressource zu brechen, erklärte der Experte in einem Gespräch mit dem unabhängigen Sender Dozhd

Im Sommer, als die regulären Streitkräfte Russlands in der Ukraine in eine katastrophale Sackgasse gerieten, erweisen sich die Häftlinge für Prigoschin als eine wahre Goldgrube. Er konnte Putin das liefern, was er am dringendsten brauchte: Nachschub aus Fleisch und Blut. 

“Prigoschin ist nicht aufgestiegen, weil Putin auf ihn gesetzt hat, um Generäle zu untergraben, die angeblich zu viel an Gewicht gewonnen haben”, schrieb die Kreml-Spezialistin Tatiana Stanowaja in einem Beitrag für die Carnegie Endowment for International Peace. Denn niemand habe an Gewicht gewonnen. “Es war schlicht notwendig, mit allen Mitteln die katastrophale Situation an der Front zu korrigieren. In der Weltanschauung Putins sollen solche Kräfte wie Söldnertruppen dazu beitragen, den Staat zu stärken. Und ihn nicht zu untergraben.”

Mobilisierung verteilt die Karten neu 

Doch nun hat Putin eine andere Lösung für seinen Personalmangel gefunden: die Mobilisierung. Der Kreml-Chef setzt nun wieder auf bewährte Systemmitglieder, auf Generäle der russischen Streitkräfte. Und die stehen mit Prigoschin auf Kriegsfuß. 

“Nachdem Prigoschin im Krieg in der Ukraine eine gewisse Autonomie erlangt hat, geriet er sofort in Konflikt mit der Militärführung, mit Walerij Gerassimow und Sergej Schoigu”, merkte die Politologin Stanowaja an. “Nach mehreren Monaten voller demütigender Angriffe gelang es ihnen, den Präsidenten davon zu überzeugen, dass die Unabhängigkeit der Wagner-Truppe das russische Militär behindere.”

Als Reaktion beförderte Putin Gerassimow an die Spitze der russischen Streitkräfte. “Mit diesem Schritt habe Putin demonstriert, wie schnell er die Macht neu ausbalancieren kann. Wobei er sowohl die Meinung Prigoschins als auch die jener Militär-Blogger und ihres Millionenpublikums ignorierte, die Loblieder auf den Wagner-Chef gesungen haben.

Das Spiel der großen Jungs

“Prigoschin gehörte nie zum engen Kreis Putins”, sagt auch der Militärexperte und Politologe Michael Naki. “Mit medienwirksamen Mitteln wollte er beweisen, dass er bei den großen Jungs mitspielen kann; dass er mit politischen Figuren aus dem Kreis Putins konkurrieren kann.” Doch dieses Spiel habe der Wagner-Chef verloren. Sobald er keine Erfolge vorweisen konnte, habe sich seine Position rasant verschlechtert. 

Prigoschin leistete sich zudem einen Kardinalfehler: Er strebte nach mehr, als Putin ihm zugestanden hatte. “Für den Präsidenten ist eine Söldnertruppe eine Art Equipment, das jeder Regierung mit geopolitischen Ambitionen eigen ist. Aber sie muss ohne Initiative handeln, ausschließlich im Rahmen staatlicher Interessen”, erklärt Kreml-Expertin Stanowaja. Keine unnötige Öffentlichkeit, totale Unterordnung, keine eigene politischen Agenda – in dieser Form seien Söldnertruppen gefragt.

Doch Prigoschin sei weit über den ihm zugewiesenen Verantwortungsbereich hinausgegangen. “Aus dem Geschäftsmann ist nicht nur eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens geworden – er entwickelt sich zu einem vollwertigen Politiker mit eigenen, sehr revolutionären Ansichten.”

Prigoschin versagt 

Mit seinem Gebaren habe sich Prigoschin viele Feinde gemacht. “Das Verteidigungsministerium und den Generalstab, den FSB und das Justizministerium, die Großunternehmen und Gouverneure, ganz zu schweigen von der Präsidialverwaltung und dem Außenministerium”, zählt Stanowja auf. “Für die Geheimdienste stellt Prigoschin eine wachsende Bedrohung dar: Seine bewaffnete Söldnertruppe, vollgestopft mit Kriminellen, von denen viele entgegen dem Wunsch des FSB freigelassen worden sind, bereitet ihnen echte Kopfschmerzen.”

Und nun liefert der Mann, der sich nach Ansicht der Funktionäre lieber nie aus der Rolle des Kochs hinausgewagt hätte, den Anlass, ihn an den Abgrund zu drängen. Ausgerechnet bei der Aufgabe, die ihn so lange über Wasser gehalten hat, versagt Prigoschin seit einigen Wochen: der Anwerbung von Häftlingen.

Es ist ein gravierendes Problem, das sich vor dem Mann, der einst selbst neun Jahre in sowjetischen Gefängnissen verbrachte, aufgetan hat: Die Insassen der russischen Gefängnisse weigern sich, seiner Truppe beizutreten – auch wenn ihnen eine Amnestie in Aussicht gestellt wird. “Im Dezember hat Prigoschin eine katastrophale Niederlage erlitten”, sagte Olga Romanowa, Leiterin der Rechtsschutzorganisation “Russland hinter Gittern”. “Die Anwerbung sei zum Erliegen gekommen”, erklärte sie in einem Interview mit Dozhd. 

Mit Putin engsten Freunden verscherzt 

Romanowa sieht diese Entwicklung vor allem als Folge der Methoden, die Prigoschin zur Errichtung einer eisernen Diktatur innerhalb der Truppe angewendet hat. Allen voran mit Hinrichtungen. Mit dieser radikalen Taktik habe Prigoschin vor allem Fluchtversuche verhindern wollen. “Fluchtversuche in beide Richtungen. Einerseits in die ukrainische Gefangenschaft, andererseits zurück nach Russland mit den Waffen in ihren Händen”, erklärte sie dem Online-Portal “Wot Tak”, einem Projekt des einzigen unabhängigen belarussischen TV-Sender Belsat, der aus Warschau sendet.. “Mit außergerichtlichen Hinrichtungen hat er tatsächlich die Flucht gestoppt, aber er hat ebenso die Anwerbungen gestoppt.”

“Prigoschin hat sehr viele Fehler gemacht. Jetzt ist er in Ungnade gefallen”, konstatiert Romanowa. “Der Kreis um Putin schäumt vor Wut, vor allem die mächtigen Kowaltschuk-Brüder.” Aus ihrer Sicht untergrabe er die Staatsmacht. 

Die Brüder Kowaltschuk halfen einst Prigoschin dabei, Beziehungen zur Präsidialverwaltung aufzubauen. Sie galten lange Zeit als informelle Kuratoren des Wagner-Chefs. Dank ihrer Unterstützung hatte der 61-Jährige die Möglichkeit, Putin Informationen über seine Initiativen zu übermitteln. Doch nun kriselt es zwischen Prigoschin und den Brüdern, die zu den engsten Freunden des Präsidenten zählen.

“Ihre Agenden gehen allmählich auseinander. Für die Brüder wird es immer schwieriger, sich für ihr Mündel einzusetzen, das die politische Klasse mit einem Vorschlaghammer bedroht”, beobachtet auch Stanowaja.

Medien sollen Prigoschin nicht mehr erwähnen 

Nun also übernimmt das Verteidigungsministerium das Anwerben von Häftlingen für Putins Krieg. Und Prigoschin wird an die Kandare genommen. In der vergangenen Woche verbreitete der Telegram-Kanal, der in Verbindung mit der Wagner-Truppe steht, ein Dokument, welches den Anschein einer staatlichen Anweisung für die Presse macht.

Den russischen Staatsmedien wird geraten, Prigoschin oder Wagner nicht mehr namentlich zu erwähnen und stattdessen allgemeine Beschreibungen zu nutzen. “Prigoschins Stern verblasst. Er hat es mit seiner Kritik am Militär und anderen Eliten zu weit getrieben”, twitterte der Chef der US-Denkfabrik Silverado Policy Accelerator, Dmitri Alperowitsch. “Jetzt werden ihm die Flügel gestutzt.”

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