Jasmin Böhm fuhr mit ihrem Sohn Tausende Kilometer Rad durch Europa

In drei Jahren legten Jasmin Böhm und ihr Sohn Emil 1200 Kilometer auf dem Rad zurück, besuchten 19 Länder und übernachteten mal am Meer, mal unter Nordlichtern. Ein Gespräch über innige Momente in der Natur, Vertrauen ins Leben und eine intensive Mutter-Kind-Beziehung.

“Ich fühle mich so ausgeliefert. Wie gelähmt”, schreibt Jasmin Böhm am Anfang ihres Buches “Hallo Glück, dich gibt’s ja doch”. In dem Moment liegt die alleinerziehende Mutter in ihrer Badewanne daheim in Offenbach und ist von Sorgen und Zweifeln überwältigt. Sie müht sich täglich mit drei Jobs ab, das Geld reicht trotzdem nicht und sie hat kaum Zeit für ihren damals zweijährigen Sohn Emil. Von einem Tag auf den anderen beschließt sie, aus der Tretmühle auszubrechen und sich einen großen Traum zu erfüllen: Mit ihrem Sohn gemeinsam auf Reisen zu gehen – auf dem Fahrrad. Wenig später brechen die beiden zu ihrer ersten Tour nach Südspanien auf.

In ihrem Buch schreibt sie, wie die Reise ihr Leben und die Beziehung zu Emil verändert hat. Durch Gespräche mit ihrem Sohn, Zeit zu zweit in der Natur und manchmal auch durch unvorhergesehene Ereignisse, die sich zu einem langsameren Tempo zwangen, wurde ihr klar: “Es geht um Emil und mich und darum, dass wir beide glücklich sind.” Nach der Tour machte sie sich sogleich an weitere Reisepläne. Inzwischen verfolgen Tausende Menschen bei Instagram die Abenteuer von Mutter und Sohn. Die zweite Radtour führte die beiden nach Istanbul, die dritte Reise, von der sie kürzlich zurückgekehrt sind, ging ans Nordkap. Als ich sie zum Gespräch anrufe, ist die 33-Jährige gerade in Finnland. Sie nimmt nach dem ersten Klingeln ab. Im Hintergrund ist Kinderlachen zu hören. Bei einem lockeren Vorgespräch steigen wir sehr schnell aufs “Du” um.

Hallo Jasmin, wo seid ihr gerade?
In Helsinki. Das Nordkap war unser Endziel. Jetzt sind wir auf dem Rückweg übers Baltikum zurück in Richtung Deutschland. Wir fahren wieder mit dem Fahrrad, stückweise auch mit Zug und Bus.

Es war keine einfache Tour, die ihr euch vorgenommen habt – trotzdem habt ihr es gemeistert. Wie war die letzte Etappe? Und wie war der Moment des Ankommens?
Das Nordkap ist unberechenbar. Dort herrschen extreme Wetterbedingungen und man weiß nie, was einen erwartet. Wir hatten leider einen sehr windigen Tag. Das war nicht so cool. Dadurch, dass der Weg grenzwertig war, waren wir am Ende einfach nur erleichtert. Das Ankommen ist sowieso nebensächlich. Es ist krass, da zu sein, aber die Reise geht weiter, indem wir zurückgehen. Von daher ändert sich in dem Moment nichts. Ich war froh, dass wir es geschafft haben. Aber an sich ist der Weg das Ziel.

Jasmin Böhm posiert mit ihrem Sohn Emil vor ihren Rädern

Indem sie ihre Reisen aufschreibt und bei Instagram teilt, will Jasmin anderen Eltern Mut machen: “Ich will zeigen, dass man auch als Alleinerziehende noch Abenteuer erleben kann.”

© Jasmin Böhm

Was war der schönste Moment auf der aktuellen Tour?
Es sind entweder Begegnungen mit Menschen, die mich extrem glücklich machen oder die Natur. Wenn wir zusammen in der Natur sind und eine Innigkeit verspüren, obwohl da nichts Besonderes passiert. Zum Beispiel ein simpler Sonnenuntergang. Wenn man dabei mit seinem Kind umherfährt oder zu zweit am Strand sitzt – das sind die Momente der Innigkeit, die man umso mehr genießt.

Ihr seid bereits zum dritten Mal auf eine große Fahrradreise aufgebrochen. Spanien, Türkei, jetzt Norwegen. Ihr seid quasi Profis. Habt ihr eine feste Routine auf den Touren? Wie sieht euer Tagesablauf aus?
Die Routine verändert sich von Jahr zu Jahr, weil Emil immer älter wird. Als wir das erste Mal los sind, war er zwei, jetzt ist er gerade fünf geworden. Am Anfang waren die Etappen kürzer und wir haben mehr Pause gemacht. Jetzt fährt er selbst mit. Wir fahren deshalb viel längere Strecken und er muss auch nicht mehr an jedem Spielplatz anhalten. Die jeweiligen Etappen plane ich am Abend vorher. Wie viel man planen muss, hängt vom Land ab. In Spanien gab es zum Beispiel nicht so viele Radwege, da musste ich umso mehr planen, weil ich nicht auf den Schnellstraßen fahren wollte. Aber hier zum Beispiel konnte man einem Fern-Radweg folgen. Zum Navigieren benutze ich Komot und – wenn ich mir die Straßenführung anschauen will – Google Maps. Sollte es Gegenden geben, wo ich mir unsicher bin, gehe ich in Fahrradläden oder frage die Leute vor Ort.

In deinem Buch schreibst du über die erste Reise und wie es dazu kam. Wie sah dein Leben vorher aus?
Ich hatte vorher drei Jobs, habe an meiner Doktorarbeit geschrieben, war alleinerziehend und hatte wenig Zeit für Emil, der von morgens bis nachmittags im Kindergarten war und dann von der Oma abgeholt wurde. Es ging nur ums Überleben. Mir war schon damals bewusst, dass das nicht der Sinn des Lebens sein konnte. Irgendwann war es so schlimm, dass ich alle Jobs gekündigt habe. Das war zwar beängstigend wegen der finanziellen Lage, aber ich dachte mir, dass nichts schlimmer sein könnte, als so weiterzumachen und die besten Jahre meines Kindes zu verpassen.

Warum hast du dich ausgerechnet für Fahrradreisen entschieden?
Mir ging es vor allem um Entschleunigung. Am liebsten hätte ich eine Fernwanderung gemacht, konnte mir das aber mit einem zweijährigen Kind nicht vorstellen. Dann kam ich aufs Fahrradfahren. Vor der ersten großen Reise sind wir drei Wochen durch Deutschland gefahren. Das hat super geklappt. Als dann die erste Tour im Ausland genauso gut geklappt hat, war klar, dass wir bald wieder aufbrechen würden.

Wie hast du Emil im Vorfeld auf die Reise vorbereitet?
Ich habe ihm erzählt, dass wir wieder auf Fahrradtour gehen. Er wusste das noch vom Vorjahr. Auch wenn er da erst anderthalb war, konnte er sich daran erinnern und hat im Kindergarten immer davon erzählt. Ich habe ihm gesagt, wohin wir fahren und es ihm auf der Karte gezeigt, aber für Kinder ist das immer relativ. Es war eine viel längere Tour. Die Deutschland-Tour ging dreieinhalb Wochen, die Tour nach Spanien drei Monate. Ich habe immer gedacht, wir fahren einfach mal und wenn er es nicht mag, drehen wir wieder rum, steigen in den Zug und fahren zurück.

Wie hast du dich gefühlt am ersten Tag der Reise?
Ich habe mich wahnsinnig gefreut. Das ist auf jeder Tour bisher immer so ein magisches Gefühl gewesen, wenn man aus der Haustür rausgeht und losfährt. Deswegen fahren wir auch immer von zuhause los. Dieses Gefühl, durch die Straßen, durch die man täglich geht, mit dem Fahrrad durchzufahren und auf ein Abenteuer aufzubrechen, ist so gigantisch. Man fährt an dem Supermarkt vorbei, wo man jeden Tag einkauft, aber in dem Moment ist es plötzlich schon das Abenteuer. Das ist eine riesengroße Freude.

Was ist die wichtigste Lektion, die du von der ersten Reise mitgenommen hast?
Das Vertrauen zu haben, dass alles gut wird. Dass man nicht so viel Angst haben sollte, sondern dass sich alles schon zum Positiven wendet. Es hat mich in dem bestätigt, was ich vorher gehofft hatte. Wenn man diesen Schritt macht und losgeht, wird sich schon alles ergeben. Vielleicht nicht so, wie man es sich vorgestellt hat – vielleicht sogar besser.

Gab es etwas, das Emil dich gelehrt hat?
Auf jeden Fall. Vor allem das langsam sein. Als wir losgefahren sind, habe ich ständig auf Kilometer und Geschwindigkeit geachtet. Es geht aber nicht um Leistung, sondern um uns. Das habe ich irgendwann verinnerlicht und wir sind völlig losgelöst und entschleunigt gereist. Dadurch konnte ich die Natur viel intensiver wahrnehmen, auch Kleinigkeiten. Einen Käfer oder eine Libelle. Dadurch, dass man nicht auf Schnellstraßen rumrast, sondern öfter mal Umwege nehmen muss, habe ich wunderschöne Landschaften gesehen, die sonst verborgen geblieben wären. Wir waren viel länger unterwegs als andere, dafür haben wir aber viel mehr gesehen. Darüber war ich sehr dankbar.

Die größte Herausforderung an den Fahrradreisen sei das schwere Gepäck. “Es ist körperlich sehr anstrengend”, sagt Jasmin Böhm. Allerdings werde man bei dem täglichen Pensum auch sehr schnell fit.

© Jasmin Böhm

Wann und warum hat Emil dich am meisten überrascht?
Als ich in Frankreich einen Bänderriss hatte und er mit seinen zweieinhalb Jahren mir schon so sehr geholfen hat, das war krass. Und allgemein war und bin ich immer wieder erstaunt, wie entspannt er alles mitmacht. Egal wo wir sind, in welchem Land, welche Kultur dort herrscht und welche Sprache die Menschen sprechen – wie offen er auf die Leute zugeht und wie selbstverständlich es für ihn ist, dass wir mit dem Fahrrad so weit fahren.

Wie hat sich die Beziehung zu Emil in den vergangenen Jahren entwickelt?
Es ist viel intensiver. Je mehr Zeit man mit seinem Kind verbringt, umso mehr lernt man sich kennen. Man streitet sich dadurch auch weniger, weil man auf Reisen viel besser lernt, miteinander umzugehen als zuhause im Alltagsstress. Wenn wir unterwegs sind, losgelöst von alldem, können wir viel mehr aufeinander und auf die gegenseitigen Bedürfnisse eingehen. So lernen wir uns auf jeder Reise immer mehr kennen: Was sind unsere Ängste? Was sind unsere Grenzen? Auf dieser Tour noch mehr, weil er jetzt schon ein richtiger Reisepartner ist, der auch mit Fahrrad fährt. Er wird auch in jede Entscheidung einbezogen. Ohne ihn wären wir zum Beispiel nicht ans Nordkap gefahren. Ich wäre umgedreht, Emil wollte weiterfahren.

Und was hat sich bei dir – vor allem mental – verändert?
Als Autorin arbeite ich jetzt selbstständig. Ich kann mir alle Zeit der Welt für mein Kind nehmen – das ist der größte Unterschied. Dadurch geht es mir viel besser. Ich kann weiterhin reisen und fühle mich viel freier. Der finanzielle Druck ist zwar weiterhin gegeben. Das Reisen können wir uns trotzdem leisten, weil wir sehr minimalistisch unterwegs sind. Ich mache mir aber allgemein weniger Gedanken um das Geld. Das habe ich vorher nicht gedacht. Ich hatte viele Ängste und habe mir eher die negativen Dinge ausgemalt, die eintreten könnten.

Was glaubst du, kann Emil von den Reisen mitnehmen? Was kann er lernen, was andere Kinder in seinem Alter nicht lernen?
Ich glaube, dass alles möglich ist. Dass wir alles schaffen können, was wir uns vornehmen. Dass man Durchhaltevermögen entwickelt. Und vor allem die Länder, die Natur, die Tiere ganz anders kennenlernt. Wenn man das zuhause in einem Buch anschauen würde, könnte man es vielleicht auswendig lernen. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man in einem Land war, es gesehen hat und weiß: In Norwegen gibt es Wale, da gibt es Adler, da gibt es Rentiere – die sind aber erst ganz oben im Norden. Man lernt so viel über die Welt. Und was ich auch immer wieder sehe: Dass er sich mit anderen Sachen zu beschäftigen weiß, statt Fernsehen zu schauen oder an elektronischen Geräten zu hängen. Er sucht sich in der Natur was zum Spielen oder taucht in seine Fantasie-Welten ab.

Wie sieht es mit anderen Kindern aus? Glaubst du, Emil fehlt manchmal der Kontakt zu Gleichaltrigen? 
Nein, überhaupt nicht. Wir lernen viele Kinder unterwegs kennen und haben schon häufig mehrere Tage bis Wochen bei verschiedenen Familien übernachtet, woraus sich richtige Freundschaften ergaben. Er lernt schnell und ohne Scheu, Kontakt mit anderen aufzunehmen – trotz Sprachbarrieren. Manchmal ist es so viel, dass wir beide froh sind, nur zu zweit zu sein. Ich denke, nicht jedes Kind braucht täglich 25 Kinder auf kleinem Raum. 

“Hallo Glück, dich gibt’s ja doch!” von Jasmin Böhm erschien 2022 im Kailash Verlag in München und kostet 18 Euro.

© Kailash Verlag

Wo geht eure nächste Reise hin?
Emil ist aus dem Kindergarten abgemeldet. Deshalb sind wir Mal nur zwei Wochen zuhause und brechen dann wieder auf. Wir wollen eigentlich komplett durchreisen, bis er in die Schule kommt. Aber dann erstmal ohne Fahrrad. Wir wollen eine Kanu-Tour machen im Herbst. Und dann wollen wir vielleicht nach Marokko oder Asien. Ich würde gerne mit Emil nach Vietnam, Kambodscha – und Indien will ich ihm auf jeden Fall zeigen, das ist eines meiner Lieblingsländer. Das wollen wir in diesem Winter in Angriff nehmen. Nächsten Sommer würden wir gerne nochmal eine Fahrradtour machen, vielleicht in Kanada. In Europa habe ich die Fahrradtouren für uns abgehakt. Wir waren schon im Süden, Osten, Norden. Da gibt es nicht mehr so weite Strecken, die wir fahren könnten.

Und danach?
Ich denke nicht, dass Emil in Deutschland in die Schule geht. Ich denke eher, dass wir in Portugal, Frankreich oder Spanien wohnen werden. Irgendwo, wo es uns dauerhaft gefällt, wo der Kontrast von Natur und Stadt nicht immer so groß ist. Das haben wir auch auf dieser Tour wieder gemerkt: Wir müssen auf jeden Fall in der Natur wohnen.

Wie glaubst du, wird der Übergang zur Schule gelingen, wo es sehr feste Strukturen und Abläufe gibt, wenn er sich so sehr an das Leben auf Reisen gewöhnt hat?
Unser Leben auf der Fahrradtour hat ebenso feste Strukturen und Abläufe. Er muss da definitiv mehr leisten und konzentriert sein, als es die Grundschule von ihm abverlangen wird. Ich denke, er hat viele Vorteile, auch was sein Wissen anbelangt. Ich habe selbst vorher an einer Grundschule gearbeitet und sehe keinerlei Probleme für ihn, sich dort zu einzugewöhnen. Die erste Klasse ist für alle ein Neustart mit neuen Freunden und einer neuen Umgebung. Und ich werde eine Schulform und Schulort wählen, die seinem Wesen entsprechen. 


source site-8