Interview mit Jonas Lüscher – Kultur

Das sind im Grunde genommen zwei Thesen, die gar nicht so viel miteinander zu tun haben. Das Gefühl, vor einem Scherbenhaufen zu stehen, angesichts des Diskurses nach dem 7. Oktober, kenne ich, aber in historischer Perspektive stimmt die Analyse nicht. Teile der Linken haben schon immer verstörende Sympathien gepflegt. Denken Sie nur an die Sympathien für Mao. Oder die Begeisterung für den kambodschanischen Diktator Pol Pot und seine Rote Khmer. Und denken Sie vor allem an die europäischen Linksterroristen, die sich von der PLO haben ausbilden lassen und gemeinsam Sache gemacht haben, bis hin zur Entführung einer Air-France-Maschine im Jahr 1976, bei der deutsche, linke Terroristen jüdische Geiseln selektierten.

Das ist alles grauenhaft.

Ja, das ist unbegreiflich. Aber der linke Antisemitismus ist kein neues Problem. Es ist vielmehr so, dass es eben nie eine einheitliche Linke gab. Während Linke in Berlin 1969 einen, zum Glück misslungenen, Bombenanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum bei einer Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht verübten, startete der erste linke Bundeskanzler Willy Brandt seine Versöhnungspolitik und kniete 1970 in Warschau vor dem Mahnmal für den Ghetto-Aufstand. Während die einen ihrem Judenhass in Wort und Tat freien Lauf ließen, waren die anderen damit beschäftigt, den Sozialstaat zu reformieren.

Und das ist heute noch so?

Ja, auch heute ist die Bandbreite linken Denkens und linker Ideologien, gerade in der Nahostfrage, sehr breit. Von der antiimperialistischen Linken, die teils offen antisemitisch ist, bis hin zu einer Denkrichtung, die sich selbst als Antideutsche bezeichnet und die eine unverbrüchliche Treue zu Israel und ein dezidierter Philosemitismus auszeichnet. Und dann die maßgeblichen linken Parteien in Deutschland, die sich Merkels Rede vom Existenzrecht Israels als deutsche Staatsräson zu eigen gemacht und in einem gemeinsamen Bundestagsbeschluss die BDS-Bewegung als antisemitisch verurteilt haben. Gerade der deutsche Diskurs ist unendlich verworren, aber wie sollte das, nach dem monströsen Verbrechen des Holocaust, auch anders sein.

Die Nahost-Politik spielte in den letzten Jahren für die Linke fast keine Rolle mehr. Stattdessen wurde mit rechts viel über Identitätspolitik, Cancel-Culture, kulturelle Aneignung und geschlechtergerechte Sprache gestritten. Liegt darin der Grund für das linke Schweigen?

Der Nahostkonflikt ist nicht nur im linken Diskurs in den Hintergrund geraten. Wir haben doch alle irgendwie akzeptiert, dass die Zweistaatenlösung vom Tisch ist. Die Annäherung Israels an Saudi­ Arabien hat viele gefreut, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Motiven. Vom Schicksal der Palästinenser hat man nur noch wenig gehört. Israel stand mit seinen innenpolitischen Problemen im Fokus. Überhaupt geriet der Konflikt angesichts größerer und näherer Konflikte, etwa des Ukraine-Kriegs, in den Hintergrund. Das hat dazu geführt, dass wir Linken für ein paar Jahre wenig über den Antisemitismus in unseren Reihen nachdenken mussten. Der 7. Oktober hat das verändert.

Hat es Sie nicht überrascht und empört, dass einige Linken sich nun so offen antisemitisch äussern, wenn etwa Berliner Studenten mit Parolen wie “Free Palestine from German Guilt” das Existenzrecht Israels infrage stellen?

Empören tut es mich natürlich. Und die Schlichtheit und die schiere Dummheit einiger Parolen beängstigen mich. Aber wie gesagt, ganz überraschend kommt es leider nicht. Der Antisemitismus als dezidierter Judenhass existiert leider in allen politischen Strömungen. Vergessen wir auch nicht die eingeübten antisemitischen Ressentiments und Klischees, von denen wir alle nicht ganz frei sind. Antisemitische Stereotype wie der reiche Jude, der mächtige Jude oder der geizige Jude sind tief in unserer Kultur verankert. Ich erinnere mich, in meiner Kindheit einen “Tim und Struppi”-Band gelesen zu haben, in dem die Expedition von Tim und Captain Haddock von einem jüdischen Bankier sabotiert wird, dessen Physiognomie ganz klar antisemitischen Stereotypen entspricht. Eine solche Prägung gibt es auch bei rassistischen Vorurteilen. Die Frage ist aber immer, ob wir unsere eigenen Ressentiments als solche erkennen, sie reflektieren und eine Distanz dazu schaffen können.

Der Linken wird nun der Vorwurf gemacht, zu wenig gegen Antisemitismus in den eigenen Reihen zu tun. Außerdem würden sie von den Muslimen nicht fordern, sich ebenfalls gegen Antisemitismus starkzumachen.

Da greift doch wieder der Begriff “der Linken” zu kurz. Mir scheint, dass die linken Parteien und Politiker in Deutschland und – soweit ich das beurteilen kann – auch in der Schweiz sehr dezidiert und einstimmig die Hamas verdammen, den Antisemitismus verurteilen und ihre Solidarität mit Israel erklärt haben. Das ist leider nicht überall so. Jean-Luc Mélenchon und seine linke Bewegung “La France Insoumise” oder Teile der Labour-Partei, die sich noch ihrem letzten Vorsitzenden Jeremy Corbyn verbunden fühlen, haben mit Sicherheit ein Antisemitismusproblem. Und was heißt in diesem Zusammenhang die eigenen Reihen? Ich glaube nicht, dass die Berliner Studierenden, die “Free Palestine from the River to the Sea” schreien, das Gefühl haben, sie stünden mit der SPD und den Grünen in einer Reihe oder dass sie Olaf Scholz und Robert Habeck als moralische Autoritäten sehen, deren Ermahnung sie besonders beeindrucken würde.

Dennoch: Von rechts sind heute stärkere Stimmen zu hören, während es an den Universitäten und an den Kunsthochschulen von links teilweise zu grotesken Auswüchsen und zu massiven Übergriffen kommt, jüngst etwa an der FU Berlin, sodass jüdische Studierende sich dort nicht mehr sicher fühlen können.

Jüdinnen und Juden fühlen sich in Europa schon lange nicht mehr sicher. In Deutschland steht vor jeder Synagoge die Polizei Wache. Nur hätte ich irgendwie gehofft, dass Universitäten und Kunsthochschulen Orte der Toleranz und des Respekts sind. Dem ist offensichtlich nicht so. Aber wir müssen auch schauen, dass das Problem nicht aufgebauscht wird. Sie sprachen gerade von massiven Übergriffen. Sind jüdische Studierende an der FU körperlich angegriffen, gar verletzt worden? Oder ist von einer bedrohlichen Stimmung die Rede? Das ist unerträglich genug. Aber auf der Seite der Rechten – die es als Einheit genauso wenig gibt wie die Linke – wird das Problem des linken und vor allem auch das Problem des muslimischen Antisemitismus schamlos politisiert. Antisemitismus ist, das zeigen die Zahlen sehr deutlich, maßgeblich ein rechtes Problem. Selbstverständlich ist es richtig und wichtig, den Antisemitismus aus allen Milieus zu beleuchten, aber die Art und Weise, wie die gegenwärtige Lage zur Stimmungsmache gegen Muslime und zur Durchsetzung noch härterer Asylregeln von rechts benutzt wird, widert mich an.

Die Präsidentinnen der University of Pennsylvania, des MIT und der Harvard University mussten vor dem Bildungsausschuss des republikanisch dominierten Kongresses erscheinen. Berechtigte Kritik oder Schauprozess?

Vermutlich beides zugleich. Es waren in der Berichterstattung Sätze zu lesen, die mich schwer irritiert haben. Wenn auf die Frage, ob der Aufruf zum Völkermord an den Juden gegen die Universitätsregeln verstoße, die mittlerweile zurückgetretene Präsidentin der University of Pennsylvania antwortet, das sei eine kontextbezogene Entscheidung, wundere ich mich natürlich. Andererseits sind die US-Diskussionen zur freien Meinungsäußerung für mich manchmal sowieso schwer zu verstehen, obwohl ich da gelebt und studiert habe. Die Tatsache, dass diese Frage aber ausgerechnet von Elise Stefanik gestellt wurde, die eine der glühendsten Anhängerinnen Trumps ist und die Rechtmäßigkeit der Wahl Bidens anzweifelt, lässt natürlich den Verdacht aufkommen, es gehe den Republikanern vor allem darum, die von ihnen als Hort der Linken und Woken verachteten Universitäten zu beschädigen. Darauf weist ja auch Stefaniks Tweet hin, den sie nach dem Rücktritt der Präsidentin der University of Pennsylvania publiziert hat: “One down. Two to go.”

Ärgert es Sie, dass sich Linke nun rechtfertigen beziehungsweise gegen linke Antisemiten abgrenzen müssen?

Dort wo es ein allzu offensichtliches politisches Manöver ist, um die Linke insgesamt zu diskreditieren, schon. Ich halte es für reichlich geschmacklos, das Massaker der Hamas für eigene, eigentlich innenpolitische Zwecke zu missbrauchen. Andererseits ist es auch wichtig, dass wir eben gerade gezwungen sind, über linken Antisemitismus nachzudenken, weshalb er in der Linken existiert und ob wir selbst vielleicht auch nicht ganz frei davon sind. Ich versuche einen Angriff auf meine eigene politische Position auch immer als Gelegenheit zur skeptischen Hinterfragung und zur Justierung zu verstehen.

An der Universität Basel wurde in den Urban Studies eine Dissertation angenommen, in der die Propagandalüge wiedergegeben wird, wonach Israel Wildschweine aussetzen würde, um die Ernten der Palästinenser zu zerstören.

Da ist der Fall doch klar: Wer eine Propagandalüge in einer wissenschaftlichen Arbeit als Tatsache ausgibt, verlässt den Bereich des Wissenschaftlichen und betreibt nun eben Propaganda. Und übrigens, wer sich Propagandalügen bedient, betreibt auch schlechten Aktivismus. Und das ist ja gerade in diesem Fall besonders dumm, denn es gäbe ja hinsichtlich der israelischen Siedlungspolitik genug Tatsachen, die sich mit Fug und Recht anklagen lassen. Man schadet damit also der Sache selbst, dabei hat ja ein Aktivismus, der auf die katastrophale Lage der palästinensischen Zivilbevölkerung hinweist, absolut seine Berechtigung.

Müsste es in der Wissenschaft nicht eine Distanz zum Aktivismus geben – auch und gerade weil Leitfiguren der linken Theorie von Michel Foucault bis Judith Butler ganz klar immer beides waren: Aktivisten und Wissenschaftlerinnen?

Und gleichzeitig wirft man den Uni-Angestellten der Geistes- und Sozialwissenschaften vor, sie säßen im Elfenbeinturm und ihre Forschung sei irrelevant. Also nein. Wissenschaft darf und soll sich einmischen. Wissenschaft darf nur eines nicht: schlecht sein. Wenn sie mit postkolonialer Theorie das Massaker an Zivilisten, die hundertfachen grässlichsten sexuellen Verbrechen und die Entführung von Kleinkindern rechtfertigen, betreiben sie mit ziemlicher Sicherheit schlechte Wissenschaft und missbrauchen eine an und für sich wichtige Theorie. Das gibt nämlich die postkoloniale Theorie nicht her, dafür hilft sie uns durchaus bestimmte Aspekte unserer Welt zu verstehen.

Man kann also zugleich Wissenschaftler und Aktivist sein?

Es ist meiner Meinung nach möglich, wenn auch nicht ganz einfach, morgens Wissenschaftler, nachmittags Aktivist und abends Schriftsteller zu sein. Das ist etwas, was ich in meiner Poetikvorlesung “Ins Erzählen flüchten” herausgearbeitet habe. Man muss sich aber sehr bewusst sein, in welcher Rolle man sich gerade bewegt. Und die verschiedenen Rollen verlangen nach ganz unterschiedlichen Sprachen. Das verlangt nach einer gewissen intellektuellen Redlichkeit.

Zuletzt sind Schlüsselfiguren der Linken in die Kritik geraten – etwa Greta Thunberg, die sich auf einer Demonstration an einem Sprechgesang beteiligte, der die “Zerschlagung des Zionismus” forderte. Oder Judith Butler, die in einem Interview erwog, die Hamas als “bewaffneten Widerstandskampf” zu bezeichnen.

Greta Thunberg ist natürlich eine herbe Enttäuschung. Zumal ihre Haltung im Nahostkonflikt nun dazu benutzt wird, die Klimabewegung und deren Anliegen zu diskreditieren. Auch hier wieder: Jeder versucht gerade aus der Tragödie im Nahen Osten – die mit so unsäglich viel Leid auf beiden Seiten verbunden ist – politisches Kapital zu schlagen. Diese junge Frau hat so außerordentlich viel verändert und so viel geschafft und gleichzeitig wurde sie zu dieser globalen Ikone und zu einem unfassbaren Feindbild. Die Last auf diesen Schultern, die Fallhöhe… Und wir vergessen dabei, dass sie eine zwanzigjährige, also noch sehr junge Frau ist, die darüber hinaus auch noch mit den Herausforderungen eines Asperger-Syndroms zurechtkommen muss – natürlich macht sie Fehler, natürlich irrt sie sich, aber müssen das Zwanzigjährige in einem gewissen Rahmen nicht auch dürfen?

Sie würden in der Debatte also für mehr Großzügigkeit plädieren?

Ja, etwas mehr Großzügigkeit wäre manchmal wünschenswert. Und vor allem weniger Unbarmherzigkeit – auf allen Seiten. Das gilt auch für unseren Umgang mit Intellektuellen wie Judith Butler, Masha Gessen oder Susan Neiman, die dafür kritisiert wird, dass sie die deutsche Erinnerungspolitik in Teilen für kontraproduktiv hält. Ich bin vielleicht nicht mit allem einverstanden, was sie im Einzelfall schreiben, finde gewisse Dinge sogar falsch, aber zugleich halte ich das für kluge Menschen, deren Beiträge ich nicht einfach in Bausch und Bogen verwerfen möchte. Damit machen wir es uns zu einfach und berauben uns wichtiger Impulse. Aber wir führen sie ja auch, diese Debatten, trotz des ganzen Geredes von Canceln und Silencing. In einigen Feuilletons sind die Beiträge seit dem 7. Oktober erfreulich vielfältig, klug und besonnen. Man muss halt ordentliche Zeitungen lesen und nicht das Gefühl haben, es reiche, sich den Empörungswind auf Social Media durch den Schädel rauschen zu lassen.

In den sozialen Netzwerken wird die Gehässigkeit immer grösser – verstärkt durch Algorithmen, aber auch befeuert von linkem und rechtem Aktivismus. Welchen Beitrag kann da die Linke leisten, um der Verbitterung entgegenzuwirken?

Ha, damit wären wir wieder beim Anfang und Lukas Bärfuss’ doppelter These beziehungsweise deren zweitem Teil, dass die Linke nämlich ganz grundsätzlich vor einem Scherbenhaufen steht. Da muss ich ihm natürlich, angesichts der Erfolge der Rechtspopulisten allerorten, recht geben. Aber was die Linke dagegen tun muss, das ist eine gigantische Frage. Ich kann vielleicht eine ganz verkürzte Idee davon geben, in welche Richtung das gehen müsste. Ich lese gerade das hervorragende Buch der französischen Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury über das Ressentiment als Problem für die Demokratie. Sie beschreibt das Ressentiment als ein ständiges Wiederkäuen des Gefühls, Ungerechtigkeit zu erleben, das aber nicht zur Handlung oder Aktion führt, sondern nur zur Bitterkeit und zur Abwertung des Gegenübers.

Das Schüren von Ressentiments verhindert, dass politisch gehandelt wird?

Ja, die Bitterkeit verhindert, eine Distanz zum eigenen Ressentiment einzunehmen, es zu reflektieren und zurück ins Handeln zu finden; stattdessen eben ewiges Wiederkäuen. Unsere kapitalistische Wettbewerbsgesellschaft befördert das Ressentiment. Die Demokratie verspricht Gleichheit, aber der Kapitalismus verhindert die Einlösung dieses Versprechens. Gleichzeitig befördert der allgegenwärtige ökonomische Wettbewerbsgedanke das Gefühl des ewigen Nicht-Genügens. Die aktuelle Weltlage, und da spielt die Klimakrise eine zentrale Rolle, hat auch das Versprechen kassiert, es würde besser, zumindest für die eigenen Kinder.

Was müsste die Linke Ihrer Meinung also tun?

Auch wenn man es nicht gerne hören wird: Sie muss den Kapitalismus zumindest in seiner gegenwärtigen Form infrage stellen und angreifen. Schauen wir uns doch die Vermögensverteilung an, die unfassbare Steuerungerechtigkeit, das Aufgehen der Einkommensschere; es herrscht Klassenkampf. Es kämpft ihn gegenwärtig allerdings, und zwar mit allen Waffen und aller Gewalt, nur eine Seite: die der Vermögenden. Wir sollten diesen Kampf aufnehmen.

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