Hendrik Wüst und Boris Rhein: Zwei Skywalker in Friedrich-Merz-Land

Die CDU-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst und Boris Rhein sind gemeinsam von Hessen nach NRW gewandert. Ihr Ziel lag im Wahlkreis von Friedrich Merz – das traf sich ganz hervorragend.

Wer Bescheidenheit sucht, sollte vielleicht nicht unbedingt nach Willing ins Upland fahren. Hier, auf der hessischen Seite des Sauerlands, pflegen sie ihre Superlative. Die Skisprungschanze zum Beispiel, die größte Großschanze der Welt, Schanzenrekord: 153 Meter. Früher stürzten sich Martin Schmitt und Sven Hannawald von ihr hinab in einen Kessel kreischender Teenager. Janne Ahonen und Noriaki Kasai haben hier mehrfach gewonnen.

Ein Tal der lebenden Legenden. Und nicht der schlechteste Ort, wenn man Inspiration sucht, selbst einmal den großen Sprung zu wagen.  

Hendrik Wüst, 48, CDU, lässt den Schanzenturm an diesem Montagmittag links liegen. Die Willinger wollen dem Ministerpräsidenten von NRW lieber ihre neueste Attraktion zeigen: den Skywalk, eine Hängebrücke, die sich einmal quer über das Tal spannt. 665 Meter lang, 120 Tonnen schwer, bis zu 100 Meter hoch. Es ist, darunter machen sie es hier nicht, die längste freischwebende Hängebrücke der Welt.

“Lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen”, ruft ein Skywalk-Mitarbeiter Wüst noch zu, als der den Weg betritt. Kein großer Sprung, aber immerhin ein kurzer Gang übers Offene.  

Erst zögerlich, dann trittfest, läuft er bis zur Mitte der Brücke. Von dort schaut man nach Norden auf dicht bewaldete Hügel. Gleich dahinter liegt Brilon, wo der Überlieferung nach ein jugendlicher Friedrich Merz mit seinem frisierten Weltkriegsmotorrad einst der Staatsgewalt davon geheizt sein soll. Merz wohnt heute ein bisschen weiter Richtung Horizont. Dort liegt auch Paderborn, nur etwas östlicher, Heimat des neuen CDU-Generalsekretärs Carsten Linnemann

Wenn man so will, haben die Willinger hier einen Ausguck ins Stammland der CDU gespannt. Und genau dort steht nun Hendrik Wüst, mit wackligen Beinen auf schwankendem Boden, mitten im Regen. Aber die Aussichten könnten kaum besser sein.

Das Nachspiel eines Sommerinterviews

Wüst war gerade im Urlaub. In der Zwischenzeit hat CDU-Chef Merz die eigene Partei maximal verunsichert. Im ZDF-Sommerinterview vorvergangenen Sonntag konnte man ihn so verstehen, als lockere er das Kooperationsverbot mit der AfD in der Kommunalpolitik. Der Widerspruch in der CDU kam prompt. Und er kam laut. Weshalb Merz sichtlich bemüht war, noch einmal klipp und klar zu stellen, dass er von dem, was er nicht gesagt zu haben glaubt, auch nichts zurückzunehmen hat.

Ein paar Tage füllte der Führungsstreit in der Union das Sommerloch. Wie viel davon bleibt? Noch nicht abzusehen.

Man hätte gerne gewusst, wie der Mann zu all dem steht, der sich zuletzt als liberale Alternative zu Merz anbot. Der betonte, seine Aufgaben lägen “aktuell” in Düsseldorf. Der nicht bestreitet, dass er Kanzler könnte, wenn die Partei ihn riefe.

Man hätte es gerne gewusst. Aber, wie gesagt, Wüst war im Urlaub. Er habe ihn genossen, sagt er.

Hendrik Wüst (r., CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Boris Rhein (CDU), Ministerpräsident in Hessen

Hendrik Wüst (r., CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Boris Rhein (CDU), Ministerpräsident in Hessen, gehen über die Hängebrücke Skywalk in Willingen

© Oliver Berg / DPA

Hendrik Wüst gibt sich betont “sturmerprobt”

Jetzt kommt Wüst von der Mitte der Hängebrücke zurück, an seiner Seite schon die ganze Zeit ein Mann, der es in diesem Teil der Bundesrepublik inzwischen zu einer gewissen Bekanntheit gebracht hat. Boris Rhein, 51, CDU, seit Mai 2022 hessischer Ministerpräsident.

Wüst und Rhein haben diesen Termin vor Wochen vereinbart. Sie wollen gemeinsam sechs Kilometer von Hessen nach Nordrhein-Westfalen wandern. Und über die Dinge sprechen, die ihre Länder in dieser Grenzregion verbinden. Über Tourismus und Landwirtschaft, über den Wald und den Wintersport. Von Merz, Partei und K-Frage steht jedenfalls nichts in der Pressemitteilung.

Hendrik und Boris Skywalker, Wanderschuhe, beige Hose, sind optisch gut aufeinander abgestimmt. Ein kurzer Stopp für die Fotografen, dann geht es runter von der Brücke. Das Medieninteresse ist groß, etwa 50 Journalisten, es wäre durchaus eines Kanzlerbesuchs in der Provinz würdig.

Erstes Abtasten.

“Wir haben keine Höhenangst, wir sind sturmerprobt”, sagt Wüst.

Ob das ein gutes Training für Politiker sei, will ein Reporter wissen.

“Auf schwankendem Untergrund? Immer!”, sagt Rhein.

Und der Blick in den Abgrund?

“Es ist eine gute Erfahrung, um den Horizont zu weiten”, sagt Wüst.

Rhein steckt mitten im Vorwahlkampf, Anfang Oktober wird in Hessen gewählt. Der Termin sollte seiner Agenda helfen: der Tourismus, der Wald, der Sport. Dann ging Merz ins ZDF. Und jetzt interessiert die meisten hier eigentlich nur das: Was sagt Wüst denn nun zum Fauxpas seines Parteichefs? Und überhaupt, springt er oder springt er nicht?

Rhein muss aufpassen, am Fuße der Großschanze neben Wüst nicht zum Vorspringer zu schrumpfen.

Zwei Männer, die im Regen über Bäume sprechen

Der Weg nach NRW führt in den matschigen Wald und immer nasser durch den Regen. Von zwei mitwandernden Förstern lernen Wüst und Rhein, dass das hier ein “Optimalstandort” für den hessischen Wald sei. Weil aber die Klimakrise nur suboptimale Standorte kennt, leiden die Bäume auch auf 800 Meter Höhe. Wüst und Rhein können jetzt ihr nützliches Ministerpräsidentenwissen unter Beweis stellen, Kategorie Forstwirtschaft.

“Die Buche ist der meiste Baum im hessischen Wald”, sagt Rhein. “Und in NRW?”

“Jetzt auch”, sagt der Förster.

“Aber die Fichte kommt halt immer erstmal wieder raus”, sagt Wüst.

Zwei Ministerpräsidenten, die im Regen stehen und über Bäume philosophieren. In der Geschichte der Christdemokratie sind schon Männerfreundschaften unter weniger melancholischen Umständen entstanden – und wieder zerbrochen.

Rhein will bei der Landtagswahl in wenigen Wochen schaffen, was dem Kollegen aus NRW vergangenes Jahr gelungen ist: mit kurz vorher zugefallenem Amtsbonus einen Sieg einfahren. “Ich bin ganz gelassen”, sagt er.

Ganz gelassen erlebt man auch Wüst auf dieser Wanderung. Irgendwo steht ein Schlagbaum am Rand, windschief hochgeklappt. Wüst sagt: “Zwischen NRW und Hessen gibt es keine Grenzpatrouillen.” Irgendwann kreuzen Schafe den Weg. Wüst sagt: “In Berlin würden sie das mindestens mal für Tiger halten.” Vorher hat er noch einen Scherz über Pferde und Robert Habeck gemacht.

Man muss nicht besonders originell sein, um einer durchnässten Medienmeute ein paar Lacher zu entlocken.

Zwei Grenzgänger im Wahlkreis von Friedrich Merz

Einige hundert Meter vor den Schafen hat Wüst die Grenze überschritten. Er ist jetzt wieder in dem Land, das er regiert. Und damit auch: in Wahlkreis 147, Hochsauerland, dem Wahlkreis von Friedrich Merz. War da nicht was?

NRW-Tagestourist Rhein sagt: “Ich finde, dass der Bundesvorsitzende gut führt.” Wandervogel Wüst bewundert unterdessen die 77 Hektar große Hochheidelandschaft, die sich vor ihm auftut und durch die nun der Weg zum Mittagessen führt. “Hätten Sie nicht gedacht, dass wir in NRW sowas haben, oder?”

Wüst hat keine Eile. Ein geschwächter Parteichef Merz kommt ihm durchaus gelegen – allerdings nur, wenn der noch ein bisschen im Amt bleibt. Das letzte, was Wüst gebrauchen kann, ist ein zusätzlicher Job als Krisenmanager in Berlin. Er regiert in Düsseldorf einigermaßen geräuschlos mit den Grünen und nutzt das Landesvater-Image, um sich bundesweit als Familienpolitiker zu profilieren. Das darf ruhig so weitergehen.

Die Partei wird ihn schon rufen, wenn es mit Merz nicht mehr geht. So weit die strategischen Überlegungen. Aber was sagt man da jetzt öffentlich?

Wüst fordert erneut Mitspracherecht für Landeschefs

Es regnet immer noch, als die polit-mediale Wandergruppe das Ziel erreicht, eine Hütte in der Heide. Kurz ankommen, Jacke aus, dann gibt es Statements fürs Fernsehen. Rhein sieht aus, als sei er gerade schwimmen gewesen. Wüst sieht aus, als sei er mit Auto gekommen. Trockenes Hemd, trockene Haare.

Die Ministerpräsidenten sprechen ein bisschen Text aus ihrer Pressemitteilung. Überraschenderweise gibt es keine weiteren Fragen zu Tourismus, Wald, Sport. Aber zu allem anderen.

Wie war das jetzt mit der Annäherung an die AfD? “Es ist alles dazu in der ausreichenden Klarheit gesagt worden”, sagt Wüst. “Das Thema ist beendet.” Wer Merz unterstelle, er betreibe eine Annäherung, der kenne Friedrich Merz nicht.

Was sagen Sie dazu, dass Sie in Umfragen besser abschneiden als Merz? “Umfragen sind völlig irrelevant. Das kommentiere ich nicht”, sagt Wüst.

Ein Journalist versucht es auf die besonders clevere Art: “Nochmal zur Kanzlerfrage: Sie haben ja schon gesagt, Sie würden bereitstehen. Wie geht es denn da weiter?” Wüst guckt rüber zu Rhein, dann zurück zum Fragesteller: “Wen meinen Sie jetzt?” Er lacht, und wird schnell ernst. Er sei nicht sicher, sagt Wüst, “wo Sie das Zitat herholen.” Aber es sei verabredet, dass diese Frage im nächsten Jahr geklärt werde.

Klingt zurückhaltend, doch Wüst ist noch nicht fertig. Hier stünden nun auch einmal zwei Landesvorsitzende ihrer Partei, sagt er, “die es für klug halten, dabei auch die Landesverbände einzubeziehen”.

“Hendrik Wüst hat vollkommen recht”, sagt Boris Rhein.

Und das passt ja gut in diese Grenzregion der weniger Bescheidenen: Dass hier zwei Landesfürsten ihrem Oberfürsten in dessen Wahl- und Heimatkreis die Bedingungen diktieren.  

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