Fall “Maddie”: die Akte des Hauptverdächtigen Christian B.

Vergewaltigungen, Drogen und sexualisierte Gewalt gegen Kinder – Christian B., der Hauptverdächtige im Fall “Maddie”, hat ein langes Vorstrafenregister. Nun klagt die Staatsanwaltschaft ihn wegen weiterer schwerer Verbrechen an. Die Akte des Christian B. könnte noch dicker werden.

“Anklageerhebung gegen den Verdächtigen im Fall Madeleine ‘Maddie’ McCann” – die Überschrift der Pressemitteilung der Braunschweiger Staatsanwaltschaft vom Dienstagnachmittag ließ zunächst eine weltweite Sensation vermuten. Ist es den Ermittlerinnen und Ermittlern 15 Jahre nach dem Verschwinden des damals dreijährigen Mädchens an der portugiesischen Algarve gelungen, den Täter zu überführen?

Um es vorwegzunehmen: nein. Es geht um etliche andere schwere Straftaten, die die Behörden dem 45-jährigen Christian B. zur Last legen – und bei denen sie überzeugt sind, dass er sie begangen hat. Teilweise liegen diese mehr als 20 Jahre zurück.

Christian B. wegen fünf Straftaten angeklagt

“Mehrjährige, sehr intensive und aufwendige Ermittlungen in mehreren europäischen Ländern” seien der Anklage vorausgegangen, deren Umfang sich schon an einer Zahl ablesen lässt: Mehr als 100 Seiten dick ist allein die Anklageschrift. Die Ermittlungsakten füllen ganze Aktenordner.

Was die Ermittlerinnen und Ermittler darin zusammengetragen haben, zeichnet das Bild eines notorischen Schwerkriminellen: rücksichtslos, ohne Skrupel und brutal – die Akte des Christian B.

Warum zeigt der stern das Bild von Christian B. nicht vollständig?

Der Pressekodex und die journalistische Sorgfaltsplicht erlauben eine Veröffentlichung von Fotos oder vollem Namen von Tatverdächtigen nur unter bestimmten Umständen. Im Fall von Christian B. liegen diese nach Auffassung der stern-Redaktion nicht vor: Es gibt bisher kein Urteil, dass B. die ihm zur Last gelegten Straftaten begangen hat. Der Verdächtige befindet sich zurzeit wegen eines anderen Deliktes in Haft und damit auf dem Weg der Resozialisierung – diesem Ziel widerspräche eine Veröffentlichung des unverpixelten Fotos, wenn sich der Tatverdacht gegen ihn nicht erhärten sollte.

Nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes (BKA) lebte er zwischen 1995 und 2007 “mehr oder weniger dauerhaft” an der Algarve im Süden Portugals – dort, wo am 3. Mai 2007 auch Madeleine McCann verschwand. Seinen Lebensunterhalt soll der Verdächtige unter anderem durch Jobs in der Gastronomie, aber unter anderem auch durch Einbrüche und Drogenhandel bestritten haben. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft Braunschweig waren dies jedoch nicht die einzigen Verbrechen Bs. zu jener Zeit in Portugal.

Maddie oder Madeleine?

Das Verschwinden von Madeleine McCann geht seit 2007 als “Fall Maddie” um die Welt. Die Eltern des kleinen Mädchens selbst nannten und nennen ihre Tochter allerdings stets beim vollen Namen. Die Abkürzung “Maddie” benutzten zuerst britische Boulevardmedien. Der stern hat sich entschlossen, Madeleine so zu nennen, wie die Eltern es tun. Vor allem dann, wenn es in Texten um das Mädchen im Speziellen geht. Für viele Menschen ist der “Fall Maddie” allerdings ein fester Name geworden, das zeigen nicht zuletzt Google-Statistiken. Der stern  wird es in Ausnahmesituationen, vor allem dann, wenn es um den Fall, also die gesamte Geschichte geht, in Überschriften oder Textpassagen weiter die Bezeichnung “Fall Maddie” geben.

Laut Anklage fiel er damals immer wieder mit Sexualstraftaten auf. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm schwere Vergewaltigungen und “sexuellen Missbrauch von Kindern” vor. So soll er irgendwann zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2006 eine bislang unbekannte Frau in deren Schlafzimmer aufgesucht haben. “Dann soll der maskierte Angeschuldigte das Opfer gefesselt und vergewaltigt haben. Anschließend habe er mehrfach mit einer Peitsche auf das Opfer eingeschlagen”, erläutert der Braunschweiger Staatsanwalt Hans Christian Wolters in seiner Mitteilung. B. soll Videoaufnahmen der Tat gemacht haben.

Vergewaltigungs- und Misshandlungsvorwürfe

Fast derselbe Modus Operandi soll einer Tat im April 2004 zugrunde liegen. B. soll nachts eine damals 20 Jahre alte Irin in deren Wohnung überrascht, geweckt, mit einem Messer bedroht und vergewaltigt haben. “Anschließend habe der Angeschuldigte die Frau an einen Tisch gefesselt, geknebelt und erneut vergewaltigt”, so Wolters. “Sodann habe er das Opfer mit einer mitgebrachten Peitsche auf dem Rücken ausgepeitscht und schließlich gewaltsam den Oralverkehr mit dem Opfer ausgeführt.” Auch diesen Fall soll B. gefilmt haben.

Seine Brutalität lebte B. mutmaßlich auch an Minderjährigen aus: In den frühen 2000ern lief laut Staatsanwaltschaft ebenfalls seine Videokamera, als eine unbekannte Jugendliche von ihm nackt an einen Holzpfahl gefesselt und ausgepeitscht worden sein soll, ehe B. das Mädchen zum Oralverkehr gezwungen habe.

Wohnzimmer

Unter anderem dieses Wohnzimmer nutzte Christian B. laut BKA an der Algarve

© Bundeskriminalamt

2007 soll B. eine weitere Tat begangen haben. Er soll ein zehnjähriges Mädchen in den Felsen des Urlaubsortes Salema “grinsend” gezwungen haben, ihm bis zum Samenerguss bei der Selbstbefriedigung zuzuschauen, laut Anklage “um sich dadurch sexuell zu erregen”.

Im Juni 2017 dann die Festnahme Bs. Hier soll er während eines Volksfestes an der Algarve ebenfalls vor den Augen eines Kindes masturbiert haben. Das Opfer: ein elfjähriges Mädchen. Das Kind sei hilfesuchend zu seinem Vater gelaufen sein, der die Polizei alarmiert habe. Noch vor Ort wurde B. gestellt.

Bei allem Entsetzen über die in der Anklageschrift beschriebenen Taten: Dass Christian B. sie wirklich begangen hat, ist noch lange nicht bewiesen. Die Anklageerhebung ist nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer möglichen Verurteilung. Nun muss das Landgericht Braunschweig die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft beurteilen. Kommt das Gericht in dem Zwischenverfahren zu dem Schluss, dass B. “hinreichend verdächtig erscheint”, wie es in der Strafprozessordnung heißt, wird es die Anklage zulassen und die Eröffnung des Hauptverfahrens beschließen, an dessen Ende die Verurteilung des Verdächtigen stehen könnte. Wann es so weit sein wird, ist noch nicht abzusehen. Klar ist aber, dass eine Jugendkammer verhandeln würde, weil einige der mutmaßlichen Opfer damals noch Kinder oder Jugendliche waren.

Verdacht im Fall Madeleine McCann 

Auf eine mögliche Freiheitsstrafe hat dies jedoch keinen Einfluss. Da B. zum Zeitpunkt der ihm zur Last gelegten Taten mindestens 23 Jahre alt war, würde er nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden. 15 Jahre Haft wären möglich.

Bis zum vor Gericht erbrachten Beweis für eine Schuld Bs. gilt er als unschuldig. Darauf weist auch der Anwalt des Angeschuldigten hin: “Ich halte die Beweislage in allen Fällen für dürftig”, sagte der Kieler Strafverteidiger Friedrich Fülscher der Nachrichtenagentur DPA. Die Vorwürfe seien schon länger bekannt, an der Sachlage habe sich nichts geändert. Ein Anfrage des stern an den Juristen blieb am Mittwoch zunächst unbeantwortet.

Christian B. ist für die Sicherheitsbehörden kein Unbekannter, Verbrechen pflastern seinen Lebenslauf. Zuletzt wurde der 45-Jährige Ende 2019 zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt, der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil ein knappes Jahr später. Das Landgericht Braunschweig hatte ihm die Vergewaltigung einer 72-jährigen US-Amerikanerin im Jahr 2005, ebenfalls in Portugal, nachgewiesen. Ein Haar am Tatort lieferte den DNA-Beweis.

Zuvor saß B. laut BKA bereits mehrfach im Gefängnis, unter anderem wegen “sexuellen Missbrauchs” von Kindern. Aber auch wegen Diebstahls, Körperverletzung und Drogendelikten ist er übereinstimmenden Medienberichten zufolge gerichts- und polizeibekannt. Laut “Spiegel” finden sich mindestens 17 Einträge im Bundeszentralregister, für die erste sexualisierte Misshandlung eines Kindes wurde B. demnach 1997 als 17-Jähriger verurteilt.

“Gehen davon aus, dass ‘Maddie’ tot ist”

Ist Christian B. auch für das Verschwinden von Madeleine McCann verantwortlich? Die Indizien sprechen laut Braunschweiger Staatsanwaltschaft dafür, einige davon machten die Ermittlerinnen und Ermittler öffentlich: Der Verdächtige sei 2007 mit einem dunkelroten Jaguar und einem weiß-gelben VW-Bus an der Algarve unterwegs gewesen sein. “Es liegen Hinweise vor, wonach er (Christian B.; Anm. d. Red.) eines dieser Fahrzeuge zur Begehung der Tat genutzt haben könnte”, hieß es zuletzt beim BKA in Wiesbaden.

Auch soll B. rund um den Zeitpunkt des Verschwindens der Dreijährigen in Praia da Luz, dem Urlaubsort der McCanns, telefoniert haben. Nur Zufall?

Das glaubt die Staatsanwaltschaft nicht. Es bestehe Mordverdacht gegen Christian B. “Wir gehen davon aus, dass das Mädchen tot ist”, verkündete Wolters schon im Juni 2020 vor der versammelten Weltpresse. Es gebe “Sachbeweise” für den Tod Madeleines, sagte Wolters später in einem Interview. Zur Frage, um welche Beweise es sich handelt, wollte er auf Nachfrage keine Auskunft geben – möglicherweise, um die weiteren Ermittlungen nicht zu gefährden. Zuletzt bekräftigte Staatsanwalt Wolters seine Überzeugung im Interview mit einem portugiesischen Fernsehsender. “Wir sind sicher, dass er der Mörder von Madeleine McCann ist.” Wolters ergänzte: “Christian B. hat kein Alibi.”

Madeleine "Maddie" McCann

Madeleine “Maddie” McCann verschwand im Alter von drei Jahren. 2012 veröffentliche britische Behörden eine Computersimulation mit dem vermuteten späteren Aussehen des Mädchens.

© Teri Blythe / Metropolitan Police

Die gesammelten Indizien reichen aus Sicht von Wolters’ Behörde aber offenbar nicht aus, um auch im Fall “Maddie” Anklage gegen B. zu erheben. Die Ermittlungen gehen weiter. Daher “können diesbezüglich zum jetzigen Zeitpunkt auch weiterhin keine näheren Informationen (…) mitgeteilt werden”, hieß es. Man hoffe weiterhin auf Hinweise aus der Bevölkerung, teilte Wolters am Dienstag mit und verwies dazu auf einen Aufruf des BKA im Internet

Der Fall zählt zu den bekanntesten Vermisstenfällen weltweit. Madeleine verschwand am Abend des 3. Mai 2007 spurlos und unter ungeklärten Umständen aus der Ferienwohnung ihrer Eltern im portugiesischen Praia de Luz, während diese in einem nahe gelegenen Restaurant essen waren. Kate und Gerald McCann starteten eine medienwirksame Suchkampagne für ihre Tochter und schafften es, dass der Fall nie in Vergessenheit geriet. Doch die weltweite Sensation, die Aufklärung des Falles, lässt weiter auf sich warten.

Christian B. bestreitet, etwas mit der Entführung von Madeleine McCann und den möglichen Mord an dem Mädchen zu tun zu haben.

Unter anderem zu diesen beiden Autos bitten die Ermittlerinnen und Ermittler um Hinweise
© Bundeskriminalamt

Polizei bittet um Mithilfe

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig und das Bundeskriminalamt wenden sich zur Aufklärung des Falls unter anderem mit folgenden Fragen an die Öffentlichkeit:

  • Können Sie Angaben zu den vom Tatverdächtigen genutzten Fahrzeugen (VW-Campingbus T3 in weiß-gelb und dunkelroter Jaguar XJR 6, siehe Fotos oben) machen bzw. haben Sie diese Anfang Mai 2007 gesehen oder haben Kenntnis über ihre Abstellorte im genannten Zeitraum?
  • Können Sie Angaben zu den portugiesischen Telefonnummern Rufnummern + 351 912 730 680 und + 351 916 510 683 bzw. deren Nutzern im Mai 2007 machen?
  • Haben Sie sich Anfang Mai 2007 an der Algarve aufgehalten und verfügen ggf. noch über Bildmaterial wie Urlaubsfotos oder Videos?
  • Wurden Sie möglicherweise selbst Opfer einer Straftat durch diese Christian B.?
  • Weiterhin besteht Anlass zur Annahme, dass es neben dem Täter selbst noch weitere Personen gibt, welche über konkretes Wissen zum möglichen Tathergang und ggf. Ablageort der Leiche verfügen. Diese Personen bitten die Behörden, sich zu melden und ihr Wissen mitzuteilen.

Hinweise, die zur Aufklärung des Falls “Maddie” führen, nehmen das BKA unter der Telefonnummer (0611) 5518444 oder per Kontaktformular sowie jede andere Polizeidienststelle entgegen. Es ist eine Belohnung von 10.000 Euro ausgesetzt. Die Hinweise werden auf Wunsch auch vertraulich behandelt, verspricht das BKA.

Quellen: Staatsanwaltschaft Braunschweig (1), Staatsanwaltschaft Braunschweig (2)Bundeskriminalamt, StrafprozessordnungStrafgesetzbuch“Spiegel”, Fernsehsender RPT, “Daily Mail”, Nachrichtenagenturen DPA und AFP

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