Erwartungen an neue Regierung: Wie das Ausland auf die Bundestagswahl schaut


Stand: 14.09.2021 17:25 Uhr

Wenige Regierungschefs sind länger im Amt als Angela Merkel. Auch für Deutschlands Partner bedeutet die Bundestagswahl einen Einschnitt. Was erwarten sie von einer neuen Bundesregierung?

Europäische Union: Warten auf Berliner Signale

Es kommt nicht nur auf Deutschland an in der Europäischen Union. Aber ohne das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Mitgliedsland geht in wichtigen Bereichen wenig. Zum Beispiel in der Klimapolitik. Mitte Juli hat die EU-Kommission ein umfangreiches Paket an Maßnahmen vorgelegt, um Europas ehrgeizige Klimaziele zu erreichen: Ab wann müssen Neuwagen emissionsfrei sein, wie viele Ladesäulen für E-Autos werden eingerichtet, wie stark steigt der CO2-Preis und wie sieht ein Ausgleich für sozial schwache Familien aus – erst mit einer neuen Bundesregierung können auf europäischer Ebene die politischen Verhandlungen darüber beginnen. Im Bundestagswahlkampf positionieren sich Kandidatin und Kandidaten da sehr unterschiedlich.

Auch in der Finanz- und Wirtschaftspolitik wartet Brüssel auf Entscheidungen aus Berlin. Die EU bastelt seit Jahren an der Bankenunion, einem einheitlichen Regelwerk für den EU-Finanzsektor. Im Juni ist der jüngste Versuch gescheitert, dafür einen konkreten Fahrplan zu erarbeiten. Auch die Pläne für eine weltweite Mindestbesteuerung brauchen deutsche Beteiligung. Dazu steht eine Grundsatzdebatte an: Wie sollen die EU-Schuldenregeln reformiert werden, die derzeit wegen Corona ausgesetzt sind, aber ab 2023 wieder greifen sollen?

In der Außen- und Sicherheitspolitik drängt Brüssel nicht erst seit dem überstürzten Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan auf mehr Eigenständigkeit – Stichwort: strategische Autonomie. Hier erhofft sich vor allem Frankreich von einer neuen Bundesregierung mehr Engagement. Grundsätzlich einig sind sich Berlin und Paris in der Erkenntnis nach vier Jahren US-Regierung unter Donald Trump, dass sich Europa nicht länger nur auf Washington verlassen kann, sondern sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen muss. Jakob Mayr, ARD-Studio Brüssel

Frankreich: Projekte, die die Wahl überdauern

Der Elysée setzt auf Kontinuität. Denn konkrete Projekte der Zusammenarbeit sind so langfristig angelegt, dass auch die neue Regierung in Berlin sie mittragen wird: etwa die gemeinsame Produktion von Batteriezellen für Elektroautos oder die Entwicklung des zukünftigen Luftkampfsystems FCAS – hier investieren Deutschland und Frankreich jeweils Milliarden Euro. Seit die scheidende Kanzlerin Merkel dem EU-Wiederaufbaufonds zur Überwindung der Corona-Krise zugestimmt hat, hofft Präsident Emmanuel Macron, auch mit anderen Reformplänen in Berlin Gehör zu finden, etwa dem Wunsch nach mehr ökonomischer und militärischer Unabhängigkeit der EU.

Bleibt allerdings die Union an der Spitze der deutschen Regierung, bleiben auch die Fragen der europäischen Souveränität Streitthema. Sollten die Grünen ein gewichtiger Partner in der neuen Regierung werden, könnten der Export von gemeinsam gebauten Waffen und die militärischen Einsätze im Ausland zum Knackpunkt werden. Mit dem SPD-Kanzlerkandidaten und Finanzminister Olaf Scholz arbeitet man seit Jahren vertrauensvoll zusammen und weiß, woran man ist.

Einen Wunschpartner an der Spitze der neuen deutschen Regierung gibt es in Paris also nicht. Zwar geht mit Merkels Abschied eine Ära zu Ende, die auch Frankreich geprägt hat. Doch wie man die Zeit nach ihr gestaltet, hängt maßgeblich davon ab, wie die französische Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr ausfällt. Der Vorwahlkampf hat begonnen, die Parteien laufen sich warm. Und sollte die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen den Sieg davontragen, wären die Umwälzungen auf französischer Seite größer als alles, was eine neu gewählte Regierung in Berlin an Veränderungen für das deutsch-französische Verhältnis mit sich bringen könnte. Julia Borutta, ARD-Studio Paris

Er drängte auf mehr Europa, vielleicht flehte er manchmal auch: Das Verhältnis von Macron und Merkel war nicht ohne Interessengegensätze, aber auch vom Wissen um die gegenseitige Verlässlichkeit geprägt.

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Italien: Angst vor langen Koalitionsverhandlungen

Italien sieht die kommende Bundestagswahl eher gelassen. Auch nach dem Ende der Ära Merkel wird Deutschland aus Sicht vieler Italiener ein Garant für Stabilität und Verlässlichkeit bleiben. Die Umfragen, die zeigen, dass Deutschland wohl kein extremer Wandel bevorsteht, dass weder Parteien ganz rechts noch ganz links zur stärksten Kraft werden dürften, sind auch in Italien bekannt. Für das Land am wichtigsten: dass Deutschlands Engagement für die EU nicht zur Debatte steht, egal, ob am Ende Annalena Baerbock, Armin Laschet oder Olaf Scholz Kanzlerin oder Kanzler wird. Denn Italiens Wirtschaft schwächelt, das Land profitiert momentan stark von den Corona-Hilfen der EU.

Genau deshalb wären monatelange Koalitionsverhandlungen nach der Wahl das größte Problem für Italien, sagt Tobias Mörschel, Politikwissenschaftler und Chef des römischen Büros der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Denn so lange Deutschland führungslos ist, wird es wohl kaum neue Impulse in Europa setzen. Und nach der Regierungsbildung? Italien erhofft sich eine engere Zusammenarbeit mit Merkels Nachfolger oder Nachfolgerin, will erreichen, geopolitisch stärker miteinbezogen zu werden als bisher. Der aktuelle parteilose Ministerpräsident Mario Draghi stellt immer wieder klar: Italien sieht sich nach dem politischen Hin- und Her der vergangenen Jahre zurück auf der europäischen Ebene. Mit Deutschland als starkem Partner. Lisa Weiß, ARD-Studio Rom

Großbritannien: In Richtung Mittelmaß?

“Nach Merkel wird Deutschland in die Mittelmäßigkeit driften”, prophezeit Daniel Johnson, ehemaliger Deutschlandkorrespondent des konservativen “Daily Telegraph”. Ganz gleich ob am Ende der Unionskandidat Armin Laschet, der als Provinzpolitiker nicht das Zeug für die internationale Bühne habe, die unerfahrene Grüne Annalena Baerbock, die einen Bock nach dem anderen schieße oder der glanzlose Sozialdemokrat Olaf Scholz knapp gewinnen würde – in Deutschland stehe die nächste schwache Koalitionsregierung an. Eine Niete oder ein Neuling an der Spitze der stärksten Wirtschaftsmacht in Europa – das sei gefährlich, warnt Kolumnist Johnson.

Angela Merkel genoss einen guten Ruf in Großbritannien. Ihre zurückhaltende Art war für viele der Gegenentwurf zu eitlen Figuren an der britischen Regierungsspitze wie David Cameron oder Boris Johnson. Trotzdem wird Merkel in Großbritannien angekreidet, sie habe Cameron vor dem Brexit-Referendum im Stich gelassen, als sie nicht half, eine EU-Zuwanderungsbeschränkung nach Großbritannien auszuhandeln, was den Brexit vielleicht hätte verhindern können.

Für die Briten ist eine belastbare britisch-deutsche Beziehung gerade nach dem Brexit wichtig, auch um die nun auftauchenden Probleme zu lösen. Auf der anderen Seite ist in konservativen Kreisen auch die Hoffnung zu spüren, dass, wenn eine europäische Leitfigur wie Merkel abtritt und der charismatische französische Präsident Emmanuel Macron im kommenden Jahr die Wahlen verlieren könnte, Großbritannien als europäische Stimme außerhalb der EU an Bedeutung gewinnen könnte. Gabi Biesinger, ARD-Studio London

Berührungspunkte: Das deutsch-britische Verhältnis war lange vom Streit über die Umsetzung des Brexits geprägt – und der dauert an.

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Polen: Mehr Gemeinsamkeit und Kennenlernen erwünscht

In Polen hat man das europapolitische Engagement der deutschen Regierung unter Bundeskanzlerin Merkel immer sehr geschätzt. Die Polinnen und Polen hoffen und wünschen, dass die neue Bundesregierung in Berlin auch weiterhin zu einer besseren Zusammenarbeit in Europa beiträgt. Als Gegengewicht zu den Vorschlägen eines Europa der “unterschiedlichen Geschwindigkeiten”, wie es von Präsident Macron in Paris bevorzugt wird. Deutschland soll weiterhin ein Garant für den Fortbestand der Europäischen Union sein und bleiben.

Im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Propaganda und Desinformation durch ihre östlichen und fernöstlichen Nachbarn, Russland und China sehen die Polen durchaus noch Luft nach oben. Rund 80 Prozent der Menschen im Nachbarland erkennen hier einen Verbesserungsbedarf. In Umfragen haben mehr als die Hälfte der Befragten angegeben, dass sie große Unterschiede der beiden Regierungen in Warschau und Berlin in der Außenpolitik gegenüber der russischen Regierung erkennen. Hier werden in Zukunft bessere Absprachen und eine “klarere Kante” gegenüber Wladimir Putin gewünscht.

Mehr als 60 Prozent der Deutschen haben im vergangenen Jahr angegeben, seit der “Wende” in den Jahren 1989/1990 das Nachbarland Polen noch nicht einziges Mal besucht zu haben. Diesbezüglich wünscht man sich in Polen, dass die neue Bundesregierung verstärkt Werbung für “Kennenlern-Aufenthalte” im nahe gelegenen Ausland macht. Michael Reinartz, ARD-Studio Warschau

Moskau: Die unbequemste Variante heißt Baerbock

Bislang sind es noch andere Themen, die in Russland dringender scheinen als die kommende Bundestagswahl: die Konsequenzen aus dem Abzug der Amerikaner aus Afghanistan und natürlich die Duma-Wahl, die eine Woche vor der Wahl in Deutschland am 19. September stattfindet. Dennoch verfolgt man im Kreml aufmerksam den deutschen Wahlkampf. Und der ungewisse Ausgang ist auch jetzt schon Thema in den russischen Medien.

Spekuliert wird vor allem, welche Dreier-Bündnisse in Frage kommen und welche Partei am Ende das Kanzleramt besetzen könnte. Besondere Aufmerksamkeit widmet man den wachsenden Umfragewerten für SPD-Kandidat Olaf Scholz, konstatiert aber auch, dass es bislang wenig inhaltliche Debatten gegeben habe. Alles sei noch völlig offen. Der Kreml hält sich mit offiziellen Kommentaren zurück. Politische Beobachter halten aber die Kandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, für die unbequemste Option aus russischer Sicht. Bei Themen wie dem Krieg in der Ostukraine, Nord Stream 2, dem Umgang mit der Opposition, insbesondere Alexej Nawalny oder generell der Frage der Menschenrechte – bei all diesen Punkten vertreten die Grünen einfach entgegengesetzte Positionen. Bei den Kandidaten Laschet und Scholz vertraut man zumindest darauf, dass politische Streitpunkte von Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung losgekoppelt würden, so wie das im Großen und Ganzen auch unter Bundeskanzlerin Merkel der Fall war.

Vielleicht hatte Präsident Putin während ihres Abschiedsbesuchs in Moskau ja gerade deshalb auch die sehr positive Wirtschaftsbilanz zwischen beiden Ländern hervorgehoben. Eines ist wohl unstrittig: im Kreml wird man Angela Merkel als konstante, verlässliche Gesprächspartnerin vermissen. Stephan Laack, WDR

Der russische Präsident kann, zumal in den Prunksälen des Kreml, auch Blumen sprechen lassen. Dass sein Repertoire damit nicht erschöpft ist, weiß auch Merkel.

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Istanbul: Sympathie für “Baba Türk” Laschet

Der Blick der Türkei auf die Bundestagswahlen in diesem Jahr ist dem vor vier Jahren nicht vergleichbar. Damals waren die Beziehungen zwischen Berlin und Ankara auf dem Tiefpunkt. Der deutsch-türkische Zeitungskorrespondent Deniz Yücel, der Menschenrechtler Peter Steudtner und die Übersetzern Mesale Tolu waren im Gefängnis. Der Wahlkampf um das Verfassungsreferendum für ein Präsidialsystem in der Türkei im Frühjahr 2017 wurde auch in Deutschland ausgetragen. Deutsche Politiker wie der damalige Grünen-Chef Cem Özdemir riefen Deutsch-Türken dazu auf, dagegen zu stimmen. Wenige Monate später gab der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Wahlempfehlung für die Bundestagswahl ab. Deutsch-Türken sollten weder die CDU, noch die SPD, noch die Grünen wählen. Sie seien alle Türkei-Feinde. Vier Jahre später sind solche Töne nicht zu hören. Weder türkische Politiker noch türkische Medien heizen die Stimmung bezüglich der Bundestagswahl an.

Allerdings taucht Özdemir direkt oder indirekt immer wieder in der Berichterstattung auf. Eine starke Rolle der Grünen oder gar eine Grün-geführte Bundesregierung beurteilen nicht nur regierungsnahe Medien als kompliziert. Der “SuperGAU” scheint für viele eine Bundesregierung mit Beteiligung der Grünen und Linken. Vor allem die Linken gelten in Ankara als PKK-Sympathisanten.

Den Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet nennen sie in der Türkei auch “Türken-Laschet” oder “Baba Türk”, also “Türken-Vater”. Er ist bei vielen gut gelitten. “Und mit der Union weiß man, was man hat”, sagte eine regierungsnahe türkische Journalistin dem ARD-Hörfunkstudio Istanbul. Dass mit einer SPD-geführten Bundesregierung neuer Schwung in die Beziehungen beider Länder kommen könnte, glaubt sie nicht.

Inhaltlich interessieren sich Türken vor allem für Wahlkampfaussagen zu afghanischen Flüchtlingen. Für viele kommt das EU-Modell zu den Syrern nicht noch einmal in Frage, also die EU bezahlt, dafür hindert die Türkei die Flüchtlinge weiter nach Europa zu ziehen. Auch der neuen Bundesregierung wird wieder eine wichtige Rolle in der EU zugeschrieben. Karin Senz, ARD-Studio Istanbul

Peking: Die wichtigste Verbündete geht

Kanzlerin Merkel gilt in China als wichtigste politische Verbündete der kommunistischen Staatsführung in Europa. Der größte Wunsch der chinesischen Regierung wäre es, dass es unter einer neuen Bundesregierung genauso weitergeht. Doch ein Weiter-so in Sachen China ist nach der Bundestagswahl nicht zu erwarten. Das aggressiv-nationalistische Auftreten der kommunistischen Staatsführung, der Personenkult um Staatschef Xi Jinping, die Unterdrückung ethnischer Minderheiten in Xinjiang, Chinas Vorgehen in Hongkong sowie die Kriegsdrohungen gegen Taiwan sorgen in fast allen im Bundestag vertretenen Parteien zunehmend für Kritik.

Chinas Staats- und Parteiführung setzt darauf, dass entweder Armin Laschet oder Olaf Scholz ins Bundeskanzleramt einziehen. Von ihnen erwartet man sich in Peking zumindest mittelfristig eine gewisse Kontinuität in der China-Politik. Der schlechtmöglichste Wahlausgang wäre aus Sicht der chinesischen Führung ein Wahlsieg von Annalena Baerbock. Die Grünen werden in China als ausdrückliche Kritiker der chinesischen Politik wahrgenommen. Ähnliches gilt für die FDP, die sich aber – nach Ansicht des Außenpolitikanalysten Ye Jiang vom staatlichen Institut für Internationale Studien in Shanghai – im Falle einer Regierungsbeteiligung wohl letztlich dem Druck der als chinafreundlich geltenden deutschen Wirtschaft beugen werde. Steffen Wurzel, ARD-Studio Shanghai

Auch eine Frage der Perspektive: Merkel, hier mit Ministerpräsident Li 2016 im Sommerpalast des chinesischen Kaisers in Peking, verfolgte eine China-Politik, die manchem in der EU zu nachsichtig war.

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Jerusalem: Kontinuität und ein bisschen Wehmut

Zuverlässig, sachlich, ausgleichend – so ist das Image von Angela Merkel in Israel. Die bodenständige Kanzlerin, die selbst im Supermarkt einkaufen geht, ist beliebt bei den Israelis. Keiner ihrer Vorgänger hat Israel so oft besucht wie Angela Merkel. Für Ende August war ihr achter Besuch geplant. Wegen der Lage in Afghanistan wurde er verschoben. Unter Merkel fanden die deutsch-israelischen Beziehungen einen Höhepunkt, markiert durch ihre historische Rede vor der Knesset. Als erste ausländische Regierungschefin sprach sie vor dem israelischen Parlament und erklärte die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson. Damit stellte sie klare Weichen für die deutsche Israel-Politik. Dabei war Merkel nicht unkritisch, sie befürwortet eine Zwei-Staaten-Lösung und kritisiert den Siedlungsbau in den Palästinensergebieten.

Grundsätzlich gehe man in Israel aber davon aus, dass auch eine neue Bundesregierung die pro-israelische Politik fortsetze, sagt Dani Kranz, DAAD Visiting Professorin an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva. Wissenschaftliche Kooperationen, gemeinsame Forschung an Militärtechnologie, enge diplomatische Beziehungen, daran werde sich unter einem Kanzler Laschet, Scholz oder einer Kanzlerin Baerbock nichts ändern. Aber “die Wärme Merkels”, die “emotionale Bindung” zu Israel, die werde es nicht mehr geben, vermutet Avi Primor, ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland. “Wer sich in Israel mit Außenpolitik beschäftigt, weiß, dass die öffentliche Meinung in Deutschland nicht mehr die gleiche wie vor 50 Jahren ist”, sagt Primor. Die besondere Politik Deutschlands gegenüber Israel werde nicht sofort verschwinden, aber mit der Zeit verblassen. Sophie von der Tann, ARD-Studio Tel Aviv

Rabat: Ende der Eiszeit

Augenhöhe in der Zusammenarbeit, das Königreich als wichtigen Partner in der Region wahrnehmen und Finger weg von nationalen Interessen – so könnte man die Erwartungen Marokkos an eine neue deutsche Bundesregierung zusammenfassen. Seit März herrscht zwischen dem nordafrikanischen Königreich und Deutschland Eiszeit. Marokko hatte “die Zusammenarbeit mit der Botschaft und deutschen Institutionen einseitig ausgesetzt und eine Kontaktsperre gegenüber der Botschaft verhängt” – so heißt es auf der Seite der deutschen Botschaft in Rabat.

Gründe für die diplomatische Eiszeit gibt es aus marokkanischer Sicht viele. Für die marokkanische Seite der wohl schwerwiegendste und emotionalste Punkt: der Westsahara-Konflikt. Die ehemalige spanische Kolonie wird seit Mitte der 1970er-Jahre größtenteils von Marokko kontrolliert und gilt völkerrechtlich als umstritten.  

Die Erwartungen an die deutsche Bundesregierung seitens Marokko sind relativ klar – das liest man seit Monaten in marokkanischen Medien: Die Westsahara bleibt ein marokkanisches Tabuthema. Auch möchte Marokko als bedeutende Regionalmacht wahrgenommen werden. Seit Jahren positioniert sich der nordafrikanische Staat als internationaler Partner bei der Bekämpfung von Terror und illegaler Migration. Erst Mitte Mai hatte Marokko demonstriert, was es heißt, wenn marokkanische Sicherheitskräfte an spanischen Exklaven den Grenzschutz aussetzen. 10.000 Migranten hatten daraufhin unkontrolliert die Grenze überschritten. Marokko möchte so seine Bedeutung für die europäischen Nachbarn verdeutlichen. Das Königreich nimmt sogar in Kauf, dass seit der diplomatischen Krise wichtige Entwicklungshilfezahlungen aus Deutschland bis auf Weiteres auf Eis liegen – und das in schwierigen Pandemie-Zeiten. Dunja Sadaqi, ARD-Studio Rabat

Im Sommer ließen die Behörden Marokkos die Flucht Tausender Migranten in die spanische Exklave Ceuta zu.

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Johannesburg: Hoffen auf Freigabe der Corona-Impfpatente

Südafrika ist für Deutsche weitaus mehr als ein schönes Urlaubsland. Der Kap-Staat ist wirtschaftlich eine treibende Kraft auf dem afrikanischen Kontinent. Die Währung, der südafrikanische Rand, unterliegt aber erheblichen Schwankungen. Die Arbeitslosigkeit hat mit 34,4 Prozent im zweiten Quartal einen neuen Höchststand erreicht. Südafrika kann Impulse von außen folglich brauchen. Ohne Zweifel ist Deutschland ein in vielerlei Hinsicht geschätzter internationaler Partner Südafrikas – so die offizielle Lesart. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern sei vielfältig, tiefgründig, weitreichend und von strategischer Natur, heißt es aus dem Außenministerium in Pretoria. Zuletzt hat Deutschland das Gesundheitswesen unterstützt und Partnerschaften sowohl für den Energiesektor als auch im Ausbildungsbereich geschlossen.

Brennende Fragen drehen sich in Südafrika aber um das Impfen gegen Covid-19. Südafrika hatte gemeinsam mit Indien im vergangenen September beantragt, die Patente für die Covid-Vakzine zeitlich befristet auszusetzen. Bundeskanzlerin Merkel lehnte das ab. Die Haltung einer neuen Bundeskanzlerin oder eines neues Bundeskanzlers wird mit Interesse verfolgt werden. Zusammen mit Deutschland leitet Südafrika derzeit eine Arbeitsgruppe bei der Impfstoffinitiative der Vereinten Nationen, COVAX. Dabei geht es um den Aufbau einer Produktion in Afrika – bisher importiert der Kontinent 99 Prozent seiner Vakzine. Die Ergebnisse sollen auf dem G20-Gipfel in Rom Ende Oktober vorgestellt werden – sie werden dann womöglich bereits die Handschrift der neuen Regierung in Berlin tragen. Jana Genth, ARD-Studio Johannesburg

Kanzlerin Merkel und US-Präsident Biden im Weißen Haus: Die Erwartungen sind nach den Jahren des Trumpismus hoch.

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Washington: Erwartungen, die schwer zu erfüllen sind

Vom Wettstreit der Systeme, spricht US-Präsident Joe Biden in der Außenpolitik; vom Wettbewerb zwischen autoritären Staaten und liberalen Demokratien. Russland gilt in Washington als Spalter, China als System-Kontrahent. Im deutschen Wahlkampf teilt vor allem eine Partei die US-Weltsicht: Das sind die Grünen. Und zwar wörtlich.

In der Praxis bleibt es für die kommende Bundesregierung schwierig, alle Erwartungen der US-Regierung zu erfüllen. So existiert in Washington zum Beispiel ein Bild, wonach Deutsche – aber auch Franzosen und Briten – Russland vor allem als Absatzmarkt verstehen. Im Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 setzte die US-Regierung weitere Sanktionen aus. Aber gleichzeitig verlangt Biden, dass die europäischen Nationen den russischen Spaltereien mehr entgegensetzen. Von ehrgeizigeren Zielen in der Beziehung zur Europäischen Union ist in Washington die Rede. Dem Präsidenten widerstrebt es, sich weiter mit Putin zu beschäftigen, außer es betrifft unmittelbar die Interessen der Vereinigten Staaten.

Zwingen die USA Deutschland in einen Systemkonflikt zumal beim Thema China? Die Biden-Regierung prüft zum Beispiel neue Zölle auf Einfuhren aus der Volksrepublik als Strafe für überzogene staatliche Subventionen. Washington will dieses Mal die Schritte mit den Verbündeten abstimmen. Aber wenn eine Einigung unmöglich ist, gilt im Zweifel auch unter Biden “America First”. Womöglich kalkuliert Washington dabei so: Will die nächste Bundesregierung den US-Demokraten Biden nach Kräften unterstützen, auch aus Angst vor einer Rückkehr des reinen Trumpismus, wird sie auch schwierige Erwartungen erfüllen müssen. Torsten Teichmann, ARD-Studio Washington



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