Drei Ukrainerinnen erzählen von ihrer Rolle in der Kriegsgesellschaft

Zu Kriegszeiten werden Frauen gerne als das „Rückgrat der Gesellschaft“ bezeichnet. Schon die deutschen Frauen im Ersten Weltkrieg dienten „an der Heimatfront“ zwischen Küche und Kriegsindustrie. Aber auch an der heißen Front sind Frauen im Einsatz, seit es organisierte Armeen gibt. Im Krieg in der Ukraine dienen auf ukrainischer Seite dem Verteidigungsministerium zufolge knapp 43.500 Frauen.

Sie sind freiwillig dort, denn unter die Mobilisierung fallen nur Männer. Diejenigen, die nicht kämpfen, kümmern sich um ihre Kinder, oder halten die Wirtschaft am Laufen. Aber längst werden Stimmen laut, die die verpflichtende Einberufung der weiblichen Hälfte der Bevölkerung fordern.

Welche Rolle spielen Frauen zu Kriegszeiten in der Gesellschaft? Hier erzählen drei Ukrainerinnen von ihrem Verhältnis zu Krieg und Mobilisierung und ihrer Rolle als Frau.


Nastya Stezenko versucht erst, ihre Tränen zu unterdrücken. Doch sie rollen trotzdem, als sie von Georgij, ihrem Ehemann, erzählt. Sie öffnet das Küchenfenster für ein bisschen Frischluft. Draußen erstrecken sich über den Horizont die Häuserblöcke einer Wohnsiedlung in Boryspil, einer Kleinstadt 30 Kilometer von Kyjiw entfernt.

Wirklich gerne wohnt Stezenko, aufgewachsen im ostukrainischen Charkiw, hier nicht – vor allem nicht allein. Ihr Mann kämpft an der Front gegen Russland. Sein vollständiger Name und sein genauer Einsatzort sollen nicht öffentlich gemacht werden. Stezenko befürchtet, dass sein Kommandeur ihm sonst Ärger machen könnte. Sie geht nämlich dafür auf die Straße, dass er vom Kriegsdienst befreit wird.

Anastasiia Stezenko wartet nicht nur darauf, dass ihr Ehemann von der Front zurückkehrt – sie geht auch für seine Demobilisierung auf die Straße. 

© Maria Kotsev/Tsp

Stezenko ist in der Bewegung von ukrainischen Soldatenfrauen und -müttern organisiert, die ihre Demobilisierung fordern. Ihre Männer und Söhne sind zumeist zu Beginn des großangelegten Angriffskriegs losgezogen, um ihre Heimat vor russischen Truppen zu verteidigen. So auch Georgij. „Er konnte einfach nicht anders. Ich habe auch nicht versucht, ihn davon abzuhalten“, sagt Stezenko. Jetzt kämpfen er und seine Kameraden seit zwei Jahren an der Front, die sich gerade – wie selbst Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich zugab – im Patt befindet.

Für Männer wie Georgij bedeutet das: weitermachen, ohne Aussicht auf eine baldige Rückkehr nach Hause. Auch, weil ein umstrittener Gesetzentwurf zur Mobilisierung noch im Parlament, der Werchowna Rada, hängt.

Er soll strengere Regeln zur Einberufung ukrainischer Männer einführen und sieht eine Demobilisierung von Soldaten nach 36 Monaten Kriegsdienst vor. Doch über 3.700 Änderungsanträge sind dem Sekretär des Sicherheitsausschusses der Rada zufolge vor der zweiten Lesung des Gesetzes eingereicht worden. Zu groß sind die Meinungsverschiedenheiten, unter den Abgeordneten und in der Gesellschaft.

Das war am Anfang das Härteste. Allein aufstehen, Frühstück machen, die Katzen füttern.

Anastasiia Stezenko, 27, demonstriert für die Demobilisierung ihres Mannes.

Groß ist allerdings auch der Personalmangel in der Armee. Laut Daten des Global Firepower Index verfügt Russland über 420.000 aktive Soldaten mehr. Ein Grund, weshalb Georgij seinen Fronturlaub, den er für Januar beantragt hatte, doch nicht nehmen durfte.

Für Frauen wie Stezenko bedeutet das ein Leben auf der Wartebank. Sie weiß, dass sie nicht in ihr altes Leben zurückkehren kann. Aber ohne Georgij weitermachen, behagt ihr auch nicht. Es gäbe zwar auch gute Seiten am Alleinsein: für sich kochen können, was immer man möchte, zum Beispiel. Aber nur, wenn das selbstgewählt ist.

Frauen spenden sich gegenseitig Trost

In der erzwungenen Einsamkeit findet Stezenko Trost unter anderen Soldatenfrauen. Sie trifft sie nicht nur bei den Demonstrationen, sondern auch online, im Zoom-Meeting. Es wird von zwei Psychologen moderiert. „Es hat mir geholfen, zu verstehen, ob meine Gedanken und Sorgen normal sind, ja, ob ich normal bin“, sagt Szezenko. Sie lacht: „Und ja, ich bin normal.“

Anastasiia Stezenko demonstriert dafür, dass ihr Mann von der Front zurückkehren kann. In der Zwischenzeit lebt sie allein mit ihren zwei Katzen in der gemeinsamen Wohnung.
Anastasiia Stezenko demonstriert dafür, dass ihr Mann von der Front zurückkehren kann. In der Zwischenzeit lebt sie allein mit ihren zwei Katzen in der gemeinsamen Wohnung.

© Maria Kotsev/Tsp

Stezenko und ihr Mann, damals beide junge Schauspieler, lernten sich mit 17 Jahren auf Georgijs Geburtstagsparty kennen. Seither sind sie ein Paar. Das ist jetzt zehn Jahre her. In all der Zeit hätte Georgij jedes ihrer gemeinsamen Frühstücke zubereitet, sagt Stezenko. „Das war am Anfang das Härteste: allein aufstehen, Frühstück machen, die Katzen füttern.“

Doch, wenn sie genauer darüber nachdenke, seien auch die Abende schwer. Allein einschlafen. Heute braucht sie dafür die Hintergrundgeräusche des Fernsehers. Stezenko ist in den vergangenen zwei Jahren unruhiger geworden. Um die Nerven zu schonen, so gut es geht, trinkt sie nun Tee statt Kaffee.

Stenzenko hat viele ihrer Gewohnheiten an den Kriegsmodus angepasst. Sie holt ihren Rucksack aus dem Flur und zieht ein Tourniquet heraus: ein Verband, eine Schere, Desinfektionsmittel. Sie trage es überall hin mit sich. Schließlich könnten immer Trümmerteile abgeschossener Drohnen und Raketen vom Himmel fallen.

Außerdem nimmt Stezenko Kurse in Gebärdensprache. Das sei nützlicher als eine Fremdsprache zu lernen. Schließlich würden viele künftige Veteranen mit geplatzten Trommelfellen nach Hause zurückkehren. Die Gesellschaft müsse jetzt schon über ihre Reintegration nachdenken. Frauen müssten sich zudem körperlich fit halten. Stezenko gehe regelmäßig ins Fitnessstudio und springe Trampolin – für Kraft und Kondition. „Wir müssen auf alles gefasst sein.“

Auch Frauen zu mobilisieren, das halte sie im Großen und Ganzen für eine gute Idee. Wer etwa Pharmazie studiert hat, kann an der Front durchaus nützlich sein. Doch ihr gefalle die Gehässigkeit, die bei der Forderung manchmal mitschwinge, nicht. „Wenn du unbedingt bei deinem Mann sein willst, dann kämpfe doch auch.“ Das sei unfair, sie wolle nicht mit ihrem Mann zusammen sterben, sondern leben.


Eine, die die Mobilisierung von Frauen fordert, ist Inna Sovsun. Sie ist Oppositionsabgeordnete in der Partei „Golos“. Die studierte Politologin löst damit sehr gemischte Reaktionen in der ukrainischen Gesellschaft aus: Wut, Empörung, sicherlich auch Angst.

Dass nur Männer mobilisiert werden, ist für Sovsun die größte Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in der Ukraine. Frauen hätten zu Kriegszeiten stärker die Rolle der Mutter und Hausfrau eingenommen – gezwungenermaßen. Für viele sei dies ein Rückschritt.

Sovsun ist dafür, dass in Familien mit Kindern ein Elternteil zu Hause bleibt – doch welches das ist, sollte nicht vom Geschlecht abhängen. Sie kenne auch Frauen, die freiwillig in die Armee gingen, weil sie dort eine sicherere Anstellung gefunden hätten als in der freien Wirtschaft. „Wir sehen eine Entwicklung in zwei Richtungen. Eine Maskulinisierung der Gesellschaft durch den Krieg. Aber gleichzeitig dient eine Rekordzahl von Frauen in der ukrainischen Armee.“

Es ist schwierig, im Krieg über Gerechtigkeit zu sprechen, aber wir können Ungerechtigkeiten erkennen.

Inna Sovsun, Politikerin der Oppositionspartei „Golos“

Es gehe aber nicht darum, Frauen massenhaft in die Schützengräben zu schicken. „Wenn eine Frau im Schützengraben stehen will, dann soll sie das auch dürfen“, sagt Sovsun. Aber es gebe genügend andere Positionen hinter der Front, die Frauen in der Armee einnehmen könnten.

Inna Sovsun ist Oppositionsabgeordnete der Golos-Partei im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada.
Inna Sovsun ist Oppositionsabgeordnete der Golos-Partei im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada.

© Golos-Partei Ukraine

„Die Verantwortung, das Land zu verteidigen, sollte gleich auf die Geschlechter aufgeteilt werden“, sagt Sovsun. Auch ihr Partner kämpft in der Armee, auch er meldete sich am ersten Tag der Vollinvasion zum Dienst. „Wir als Familie haben aufgrund dessen eine größere Last zu tragen.“

„Wir sind im Krieg. Es ist schwierig, im Krieg über Gerechtigkeit zu sprechen, aber wir können Ungerechtigkeiten erkennen: Und die größte Ungerechtigkeit ist, wenn diejenigen, die seit zwei Jahren kämpfen, weiterkämpfen müssen.“


Wäre Kafa nach dem 24. Februar 2022 nicht in den Krieg gezogen, könnte sie heute nicht in den Spiegel schauen. Damals lebte die Ukrainerin, die mit den Pronomen „she/they“ angesprochen werden möchte, seit drei Jahren in Berlin. Sie engagierte sich in Organisationen zur Hilfe ukrainischer Geflüchteter – geflohen vor russischer Okkupation auf der Halbinsel Krim und in den Regionen Donezk und Luhansk. Kafa stammt selbst von der Krim, lebte zu Beginn unter der Besatzung. „Ich weiß, was ‚die russische Welt‘ bedeutet“, sagt sie.

Kafa ist mittlerweile Soldatin und als Drohnenpilotin an der Front im Donbas im Einsatz. Zwischen 2019 und 2022 lebte sie in Berlin und engagierte sich für Ukrainer:innen in Deutschland.
Kafa ist mittlerweile Soldatin und als Drohnenpilotin an der Front im Donbas im Einsatz. Zwischen 2019 und 2022 lebte sie in Berlin und engagierte sich für Ukrainer:innen in Deutschland.

© privat

Seit September 2022 ist Kafa – das ist ihr Rufname – Drohnenpilotin in der ukrainischen Armee, mit der 93. Motorisierten Infanteriebrigade stationiert im Donbass. Knapp 2000 Kilometer trennen ihren Einsatzort von Berlin. Sie zurückzulegen, nennt sie zwei Jahre später „ihre eigene Wahl, ohne eine Wahl gehabt zu haben“. Mit dem Tagesspiegel kommuniziert sie über Messenger-Dienste.

Auf ihrem Instagram-Account schrieb sie damals: „Freunde, es ist offiziell, ich trete den Vereinigten Streitkräften bei.“ Kurz darauf postete sie ein Foto von sich in hellgrüner Tarnuniform, ihre rot geschminkten Lippen formen ein breites Grinsen.

Ich kämpfe, bis das letzte Stück Land von Russland befreit ist.

Kafa, Drohnenpilotin in den Ukrainischen Streitkräften

Zu Beginn musste sie sehr beharrlich sein, um von Kommandeuren ernst genommen zu werden. „Als Zivilistin, und dann auch noch weiblich gelesen, stößt man auf Vorurteile.“ Vor allem die älteren Berufssoldaten und Kommandeure würden häufig sagen, Krieg sei „keine Frauensache“.

Als Frau oder queere Person in der Armee zu dienen, sei noch immer „etwas Neues“, auch, wenn es mittlerweile zur Normalität gehöre. Von den Kameraden ihrer Einheit fühlt Kafa sich aber akzeptiert. „Solange du deinen Job machst, gibt es kein Problem.“

Kafa ist seit Herbst 2022 als Drohnenpilotin in der ukrainischen Armee im Einsatz.
Kafa ist seit Herbst 2022 als Drohnenpilotin in der ukrainischen Armee im Einsatz.

© privat

Ihr Job als Drohnenpilotin ist es, „das Auge der Armee“ zu sein. Mal rückt sie in einem Team von bis zu vier Leuten zu Aufklärungsmissionen aus, observiert feindliche Truppenbewegungen. Oder aber sie unterstützt die Infanterie bei Angriffen. Dann trägt Kafa eine Art Virtual-Reality-Brille, nur, dass das, was sie sieht, wirklich passiert: Mithilfe dieser Brille und einem „Joystick“ steuert sie die FPV-Drohne und beschießt feindliche Fahrzeuge oder Infanteristen. „Damit ziele ich genauer als ein gewöhnlicher Scharfschütze.“

Und dann gebe es noch die Missionen, auf denen man nach Soldaten aus den eigenen Reihen suche, nachdem „etwas schiefgelaufen ist“. Der Erfolg von Kafas Drohnenmissionen hängt sehr davon ab, ob Russland Waffen zur radioelektronischen Kriegsführung einsetzt. Die können das Signal der Drohne stören, Kafa die Sicht rauben, oder ihre Drohne ganz zu Fall bringen. „Das ist meistens eine 50/50-Situation.“

Nach Einsätzen ist Kafa oft froh, einfach nur am Leben zu sein. Sie kämpfte bis zum Fall Bachmuts dort. Danach flog sie Operationen in der mittlerweile ebenfalls gefallenen Stadt Awdijiwka, als die russische Armee sie Stück für Stück umzingelte. Die Situation dort war „sehr hart“, weil die Russen immer weiter vorrückten. „Ich habe Horror gesehen, der nicht für das menschliche Auge bestimmt ist.“

Aber immer, wenn sie zweifelt, versucht sie sich daran zu erinnern, dass sie im Februar 2022 nicht wusste, ob Kyjiw noch stehen würde. Ob sie ihre Freunde jemals wiedersehen würde. Das konnte die ukrainische Armee verhindern. Das gibt Kafa Kraft. „Ich kämpfe, bis das letzte Stück Land von Russland befreit ist.“

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