Wird Putin angreifen? – POLITIK



Maximilian Terhalle ist Gastprofessor am Grand Strategy Program des King’s College London und ehemaliger leitender Berater des britischen Verteidigungsministeriums. Kürzlich veröffentlichte er ein IISS Adelphi Paper zum Thema „The Responsibility to Defend: Re-thinking Germany’s Strategic Culture“ mit und Bastian Giegerich.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Kampf um die Nord Stream 2-Pipeline gewonnen. Nachdem US-Präsident Joe Biden vergangene Woche einräumte, dass weitere Sanktionen „nicht wirklich sinnvoll“ seien – 98 Prozent der Pipeline seien bereits fertiggestellt – trägt die viel kritisierte Unterstützung von Bundeskanzlerin Angela Merkel endlich Früchte.

Aber wenn die Ausgrabungen an Nord Stream 2 Ende August abgeschlossen sind, müssen transatlantische Strategen noch genauer über die Frage nachdenken, die dieser Dynamik zugrunde liegt: Wird Russland angreifen? Und wenn ja, wann?

Es ist wahrscheinlich, dass die Ukraine, die sich seit 2014 im Krieg befindet und durch die Pipeline selbst die minimale Kontrolle über Russland beraubt hat, jetzt dem Untergang geweiht ist. Auch Russlands kleinere benachbarte Nato-Mitglieder zittern zu Recht und fragen sich wieder einmal, wie glaubwürdig die Abschreckung des Bündnisses wirklich ist. Und das aus gutem Grund.

Der russische Präsident ist sicher ermutigt gewesen, dass Deutschland die scharfe Kritik Polens und der baltischen Staaten an der Pipeline nicht beachtete – ganz zu schweigen von Bidens jüngstem Hinweis, Russland sei für die USA eine geringere Sicherheitsherausforderung als China.

Letzte Woche erklärte Putin, es sei das angebliche „Anti-Russland-Projekt“ des Westens, das ihn veranlasst habe, einen Artikel darüber zu schreiben, warum Russland und die Ukraine tatsächlich eine Nation seien. Die Implikation war klar: Sudetenland, Kuwait – ist die Ukraine jetzt die nächste?

Diejenigen, die denken, die Antwort sei „nein“, verweisen auf Kommentare wie die des ehemaligen US-Außenministers Henry Kissinger, der in einem Interview mit der Financial Times 2018 betonte, dass Putin kein „Charakter wie Hitler“ sei. Viele Beobachter betrachten abweichende Einschätzungen nach wie vor als Untergangsurteil. Sie fühlen sich dadurch bestätigt, dass sich beispielsweise die Vorhersage des ehemaligen britischen Stabschefs im Land Command General Richard Shirreff von einem „2017: Krieg mit Russland“ als fehlerhaft herausgestellt hat.

Ehemalige Beamte verweisen auf das eiserne Gesetz der Nato-Abschreckung: Russland wird die Ostflanke des Bündnisses nicht angreifen, solange dort US-Soldaten stationiert sind – sprich: Deutsche, britische oder französische wären egal. Nach dem Tod des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump sind die US-Truppen hier, um zu sagen. Also, worum geht es bei all der Aufregung?

Admiral James G. Stavridis liefert einen Hinweis. In seinem Anfang des Jahres zusammen mit dem amerikanischen Autor Elliot Ackerman veröffentlichten Buch „2034: A Novel on the Next World War“ beschreibt er den Ausbruch eines amerikanisch-chinesischen Krieges. Stavridis, der Shirreffs Band von ganzem Herzen unterstützt hatte, verbindet seine neuesten Erkenntnisse nicht mit Europa und Russland. Aber andere haben, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt.

Als der damalige US-Verteidigungsminister James Mattis 2017 vom Senat gefragt wurde, ob die USA zwei große Kriege gleichzeitig führen könnten, antwortete er: „Nein, Sir!“ Und da könnte Putin auf eine Gelegenheit hoffen.

Ein Krieg zwischen den USA und China würde wahrscheinlich die meisten, wenn nicht sogar alle wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten der USA absorbieren und folglich ihre Glaubwürdigkeit als Abschreckungsmittel in Europa stark untergraben. Und deshalb würde ein solcher Konflikt Putin die lang ersehnte Gelegenheit geben, die Niederlage Russlands am Ende des Kalten Krieges 1991 wiedergutzumachen.

Ob es überhaupt zu einem Showdown zwischen den USA und China kommt, bleibt allerdings ungewiss. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich der anhaltende Wettbewerb zu einem Massenbrand entwickeln könnte, gerade weil es sehr unwahrscheinlich ist, dass beide Seiten bereit sind, in irgendeiner Weise Macht abzugeben.

In der Zwischenzeit sollte Europa, einschließlich Großbritanniens, angesichts der skrupellosen Bilanz Putins seine hohen Zusicherungen gegenüber der Ukraine nicht auf Vertrauen in den russischen Führer aufbauen.

Stattdessen sollten sie zukünftige Angriffe verhindern, indem sie auf zwei Ebenen agieren: Erstens sollten die europäischen Mächte Putin klar demonstrieren, dass sie bereit sind, Russland vom belgischen SWIFT-System – dem globalen Netzwerk, das internationale Banktransaktionen ermöglicht – abzuschneiden. Zweitens sollten die Europäer die Möglichkeit einer Abstimmung und Erweiterung ihrer Nukleararsenale in Form einer Euro-Abschreckung innerhalb der NATO überdenken.

Putins Nord Stream 2-Sieg hat der Abschreckung der Nato einen Schlag versetzt. Die Beschwichtigung hat sich durchgesetzt – aber sie sollte nicht das letzte Wort haben.

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