Was die Deutschen diskutieren sollten – aber nicht – POLITICO



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Paul Taylor, ein mitwirkender Redakteur bei POLITIK, schreibt die Kolumne „Europa im Großen“.

Nur noch sechs Wochen bis zum Wahltag zur offensten und unberechenbarsten deutschen Bundestagswahl seit Jahrzehnten dominieren Persönlichkeiten, Desaster und Mikroskandale um Lebenslaufauffüllung und Plagiate den Wahlkampf.

Das wohlhabende Deutschland sieht sich jedoch einer Reihe von drohenden Problemen gegenüber, die eine ernsthaftere Debatte verdienen – einige von ihnen werden durch die stockenden Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie und die jüngsten tödlichen Überschwemmungen hervorgehoben. Aber Politiker und Medien weichen ihnen meistens aus.

Klimawandel; Entvölkerung; ein angespannter industrieller Wandel und eine Krise bei sauberer Energie; und chronische Unterinvestitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Wohnen gehören zu den langweiligen, aber lebenswichtigen Themen, die auf die Nachfolger von Bundeskanzlerin Angela Merkel warten.

Zwar haben die Sturzfluten, bei denen im vergangenen Monat in Westdeutschland über 180 Menschen ums Leben kamen, den Kampf gegen den Klimawandel ganz oben auf die politische Agenda gesetzt. Aber viele andere dringende Risiken sind noch zu diskutieren.

Stattdessen hat der Quizwettbewerb der Kampagne bisher das unangemessene Lachen des Christdemokraten Armin Laschet hervorgehoben, das vor der Kamera festgehalten wurde, als der Präsident mit den Flutopfern bedauerte; Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock übertreibt frühe Berufserfahrung im Lebenslauf und verspätete Deklaration von Parteibonuszahlungen; und Behauptungen, dass sowohl Baerbock als auch Laschet Inhalte für ihre Bücher plagiiert haben.

Aber Europas stärkste Volkswirtschaft steuert in den kommenden Jahrzehnten mit einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung und schrumpfenden Arbeitskräften auf eine demografische Krise zu. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes Jüngsten Prognosen zufolge könnte die deutsche Bevölkerung von heute 83 Millionen auf 74 Millionen im Jahr 2060 einbrechen, wenn die Nettozuwanderung gering bleibt.

Noch alarmierender ist, dass es bis dahin 11,8 Millionen Deutsche weniger im erwerbsfähigen Alter (21 bis 67), aber 5 Millionen mehr im Rentenalter gibt. Eine Verdoppelung der jährlichen Nettozuwanderung auf 311.000 könnte die Gesamtbevölkerung auf dem aktuellen Niveau stabilisieren – also bei einer unveränderten Geburtenrate. Aber selbst dann gäbe es 5 Millionen weniger Arbeitnehmer, um die Renten von 5 Millionen zusätzlichen Rentnern zu zahlen. Und ein weiterer Rückgang der Geburtenrate würde diese Kluft noch weiter vergrößern.

Ökonomen und Wirtschaftsführer machen sich Sorgen über diese langfristigen Trends, die den Arbeitskräftemangel verschärfen und Renten- und Gesundheitssysteme belasten werden. Doch viele Politiker reagieren immer noch auf die öffentliche Gegenreaktion gegen den Zustrom von fast 1 Million Asylbewerbern im Jahr 2015 und versprechen damit weniger Migranten, schnellere Überprüfungen und mehr Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber.

Deutschland steht auch in puncto Wirtschaft vor großen Herausforderungen, indem es die Industrien des 20. Doch dieses Thema wird oft auf symbolische Streitigkeiten um ein flächendeckendes Tempolimit auf Autobahnen, ein Verbot von innerdeutschen Kurzstreckenflügen, die Erhöhung der Kosten für günstige Mallorca-Reisen oder die Autofreiheit von Innenstädten reduziert.

Und während es den Grünen gelungen ist, Klimawandel und Umweltschutz für alle Parteien zu Pflichtthemen zu machen, kämpfen sie damit, das Image einer Verbotspartei – eine Partei der Verbote – bestrebt, das Autofahren, Reisen und Rauchen zu verbieten, das vielen einfachen Deutschen so am Herzen liegt.

Als die Grünen Anfang der 2000er Jahre das letzte Mal in der Regierung waren, entschied sich Deutschland vorschnell für einen schnelleren Ausstieg aus kohlenstoffarmer Atomkraft als aus stark umweltverschmutzender Kohle. Damit fehlt es dem Land schmerzlich an sauberer Energie: Nur an acht Tagen im Jahr decken Wind-, Solar- und Biomassestrom den Strombedarf des Landes vollständig. Angesichts eines Mangels an sicherer Energieversorgung ab 2023 muss Deutschland in Spitzenzeiten Strom von seinen Nachbarn importieren.

Merkel beschleunigte die Atomabschaltung nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 in Japan, aber Bürokratie und öffentlicher Widerstand haben Berlin weitgehend daran gehindert, die notwendigen Smart Grids zu bauen, um Windstrom aus Norddeutschland in den industriellen Westen und Süden zu bringen, sowie Ausbau des Intercity-Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes.

WAHLUMFRAGE DES DEUTSCHEN NATIONALPARLAMENTS

Weitere Umfragedaten aus ganz Europa finden Sie unter POLITIK Umfrage von Umfragen.

Dies liegt zum Teil auch an Mängeln in der öffentlichen Verwaltung – die personell unterbesetzt und in Bezug auf die Digitalisierung eine Generation hinterherhinkt – sowie an der Komplexität des föderalen Systems. Als die Pandemie ausbrach, mussten beispielsweise COVID-19-Statistiken per Fax erhoben werden, weil die lokalen Gesundheitsbehörden nicht vernetzt waren. Auch Heimarbeit und Schulbildung wurden durch den Mangel an Computern, VPN-Zugängen und Highspeed-Breitband behindert.

Wo Länder wie Frankreich und Italien schnell über Sperren, Ausgangssperren und soziale Distanzierungsregeln entscheiden konnten, war jede Entscheidung in Deutschland Gegenstand eines längeren Feilschens zwischen den 16 Ministerpräsidenten des Landes, die jeweils für das Gesundheitswesen und die Polizei zuständig sind. Merkel kämpfte oft darum, dass sich die Wissenschaft gegenüber der Politik durchsetzte. Einige Staaten haben die Regeln strenger durchgesetzt als andere.

Als nächstes, was das Wohnen angeht, Ökonomen der Deutschen Bank gehen davon aus, dass das Land mindestens 1 Million zusätzliche Wohnungen braucht. Etwa die Hälfte der Deutschen lebt derzeit in Mietwohnungen, und die Wohnungsknappheit hat die Marktmieten im letzten Jahrzehnt um durchschnittlich 35 % in die Höhe getrieben – in Großstädten wie Berlin sogar noch mehr.

Schließlich erfordern alle wichtigen Projekte, um Deutschland fit für das 21. Jahrhundert zu machen, umfangreiche öffentliche Investitionen sowie die Nutzung der Privatwirtschaft. Öffentliche Investitionen werden jedoch durch eine verfassungsmäßige Schuldenbremse, die zu Beginn der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 verabschiedet wurde, stark eingeschränkt.

Sowohl Laschet als auch der sozialdemokratische Kandidat Olaf Scholz, der derzeitige Finanzminister, haben geschworen, das vorübergehend ausgesetzte Kreditkorsett wieder einzuführen, sobald die Pandemie vorbei ist, wahrscheinlich ab 2023. Dies macht in einer Zeit, in der globale Investoren bereit sind, absolut keinen Sinn den deutschen Staat bezahlen, um ihr Geld zu leihen. Doch Mainstream-Politiker, die von fiskalischer Umsicht besessen sind, können es kaum erwarten, sich wieder die Hände zu binden.

Von Klima und sauberer Energie bis hin zu knarrender öffentlicher Infrastruktur steht Deutschlands komplexes, dezentralisiertes Governance-System vor einer Reihe von zugrunde liegenden Problemen, die ernsthaft diskutiert werden sollten.

Dies ist die erste Wahl seit 1949, bei der der amtierende Kanzler keine Wiederwahl anstrebt, und es sollte eine Gelegenheit für mutiges Denken und neue Gesichter sein. Dennoch scheinen die meisten Deutschen lieber den Kopf in den Sand zu stecken, als sich den großen Herausforderungen zu stellen, die die Zukunft ihres Landes trüben.

Wir können nur hoffen, dass sich die Kampagne vor dem 26. September den wahren Problemen der Nation zuwendet.

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