Rückkehr des deutschen Königsmachers – POLITICO

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WERMELSKIRCHEN, Deutschland — Nicht so viele Menschen bekommen eine zweite Chance in der Politik. Aber es sieht so aus, als ob Christian Lindner seinen bekommt.

Nach dem Wahlschluss bei der Bundestagswahl am Sonntag dürfte sich Lindner, der Vorsitzende der wirtschaftsfreundlichen FDP, in einer sehr vertrauten Position wiederfinden: Die des Mannes, der die nächste Koalitionsregierung des Landes machen oder brechen kann .

Die SPD hat in den vergangenen Wochen einen kleinen, aber stetigen Vorsprung in Umfragen behauptet, Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat bereits angekündigt, mit den derzeit drittplatzierten Grünen eine Koalition bilden zu wollen. Doch angesichts der gebrochenen politischen Landschaft in Deutschland bräuchten SPD und Grüne einen dritten Partner, um eine Koalition bilden zu können.

Die Umfragewerte liegen nahe genug, dass die Christdemokraten der nach der Wahl zurücktretenden Bundeskanzlerin Angela Merkel noch überraschend auf den ersten Platz kommen könnten. Aber auch sie würden mit ziemlicher Sicherheit ein paar zusätzliche Parteien brauchen, um zu regieren – und sie möchten, dass die FDP eine von ihnen ist.

Betreten Sie den 42-jährigen Lindner, einen Luftwaffen-Reservisten und Draufgänger, zumindest nach den biederen Maßstäben der deutschen Politik. Lindner hat bereits Koalitionsgespräche geführt, aber beim letzten Mal lief es nicht so gut.

Es war die letzte Bundestagswahl 2017, Lindner hatte die FDP aus dem politischen Nahtod zurückgeholt und damit das bisherige Ergebnis der Partei mehr als verdoppelt. Es schien, dass die verjüngte Partei in einer neuen Koalitionsregierung mit Merkels CDU und den Grünen eine entscheidende Rolle spielen würde.

DEUTSCHLAND WAHLUMFRAGE DES NATIONALPARLAMENTS

Weitere Umfragedaten aus ganz Europa finden Sie unter POLITIK Umfrage von Umfragen.

Doch nach wochenlangen Koalitionsgesprächen und mitten in nächtlichen Verhandlungen ging Lindner abrupt weg und sagte, er habe die FDP-Politik nicht durchsetzen können.

Viele in Deutschland empörten sich darüber, dass Lindner das Land ruderlos verlassen hatte, und am Ende mussten die CDU und ihre bayerische Schwesterpartei, die CSU, wieder gemeinsam in einer großen Koalition mit der SPD regieren – ein Schicksal vieler Mitglieder wollten diese Parteien vermeiden.

Jetzt steht Lindner bei einer FDP-Umfrage von 11 Prozent unter großem Druck seiner eigenen Anhänger, die Chance zur Regierung zu ergreifen.

Lindners potenzielle Rolle in Deutschlands nächster Regierung ist auch für Staats- und Regierungschefs in ganz Europa von großem Interesse, da seine finanzkonservativen Ansichten die Ambitionen einiger Mitgliedsstaaten, die Haushaltsregeln und Schuldengrenzen zu lockern, durchaus in den Schatten stellen könnten.

Doch wie genau die FDP in eine linksgeführte Koalition mit SPD und Grünen passen würde, ist zumindest oberflächlich kaum vorstellbar. Eine solche Koalition – wegen der Farben Rot, Grün und Gelb der Parteien „Ampelkoalition“ genannt – wäre ideologisch unzusammenhängender als die, von der Lindner vor vier Jahren abgewichen ist.

Die Tatsache, dass Lindner deutlich gemacht hat, dass er für seine mögliche Zusammenarbeit eine große Belohnung will – die Leitung des Finanzministeriums – hat die Rechnung nicht einfacher gemacht.

Aber hinter der scheinbaren ideologischen Undurchführbarkeit einer solchen Koalition verbirgt sich politische Zweckmäßigkeit, die sie möglicherweise zum Funktionieren bringt.

Ideologische Gegensätze?

Bei einer Wahlkampfkundgebung im nordrhein-westfälischen Wermelskirchen, der Stadt, in der der FDP-Chef aufgewachsen ist und ein Teil des von ihm im Bundestag vertretenen Bezirks ist, hat Lindner gezeigt, dass er es mit der Regierung ernst meint.

„Die Situation ist enorm spannend“, sagte Lindner vor einigen hundert Anhängern. „Die FDP nimmt bei der Weichenstellung für eine neue Regierung eine Bedeutung ein, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten.“

Lindner fuhr fort, seine Partei als Bollwerk gegen einen drohenden Linksruck in der deutschen Politik darzustellen. Seine Partei stehe für persönliche Freiheit, wirtschaftsfreundliche Politik sowie Steuersenkungen.

Wermelskirchen, ein Ort, an dem der Mittelstand dominiert, ist ein fruchtbarer Boden für diese Botschaft, und Lindners Unterstützer bei der Kundgebung reagierten begeistert. Doch wie die Positionen, die er artikulierte, mit denen seiner potenziellen Koalitionspartner harmonieren würden, blieb fraglich.

Lindner zum Beispiel will Steuern auch für Besserverdiener senken, SPD und Grüne wollen die Steuern für die Reichen erhöhen. Als „mathematischen Voodoo“ in Sachen Budgetausgleich und „moralisch schwer zu rechtfertigen“ bezeichnete Scholz zuletzt Lindners Steuervorschläge.

Auch die Klimapolitik der FDP steht im Widerspruch zu den Grünen. Die Partei bevorzugt „marktbasierte Instrumente“ sowie Bürokratieabbau, um die globale Erwärmung zu bekämpfen. Doch die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, vertrat kürzlich in einer Rede im Parlament das Gegenteil. „Kein Markt wird die Klimakrise regulieren, weil der Markt sich nicht um die Menschen kümmert“, sagte sie.

Aber abgesehen von diesen scheinbar grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten gibt es mehr Raum für Kooperationen, als man denkt. Das gilt insbesondere für Lindner und Scholz.

Scholz ist finanzkonservativ, zumindest nach traditionellen SPD-Maßstäben, und hat in Sachen Ausgaben tatsächlich viel mit Lindner gemeinsam. Beide Staats- und Regierungschefs befürworten die Rückkehr der verfassungsmäßigen Schuldenbremse – die die Ausgaben einschränkt und während der Corona-Pandemie ausgesetzt wurde –, obwohl sie sich uneins sind, wie bald dies geschehen soll.

Für Scholz könnte Lindner bei den Ausgaben möglicherweise Deckung aus der linken Flanke der eigenen SPD bieten. Ebenso könnte Scholz auch auf Lindner als Bösewicht hinweisen, wenn er sagt nein auf Vorschläge anderer EU-Staaten zur Lockerung von Haushaltsregeln und Schuldengrenzen.

Scholz weiß auch, dass sein anderer potenzieller Koalitionspartner, die Linke, eine linksradikale Partei mit Wurzeln in der kommunistischen DDR, seine Koalition wahrscheinlich für Zentristen im ganzen Land zu links machen wird und ihn für politische Angriffe aus dem Land öffnen wird rechts.

So gesehen ist Lindner vielleicht doch kein so schlechter Partner.

Auch für Lindner ist das politische Kalkül klar. Ein erneutes Verlassen der Koalitionsgespräche würde riskieren, seine Partei an den Rand zu verbannen – ein Ort, den sie nur allzu gut kennen.

Turbulente Zeiten

Als Lindner 2013 den Vorsitz der FDP übernahm, war er erst 34 Jahre alt, und die Partei lag in Trümmern.

Die FDP hatte die meiste Zeit der Nachkriegszeit eine entscheidende Rolle dabei gespielt, deutsche Koalitionsregierungen zu bilden oder zu brechen. Erstmals seit ihrer Gründung 1948 verfehlte die Partei nun mit nur 4,8 Prozent der Stimmen die Hürde für den Einzug in den Bundestag.

Lindner machte sich daran, die FDP zu modernisieren und ihr Image als Partei für alte, reiche Männer abzustreifen. Er konzentrierte sich auf Themen wie Bildung und die Verbesserung der digitalen Infrastruktur in Deutschland. Er überarbeitete das Parteilogo, um es als jugendlich und zukunftsorientiert umzubenennen.

Seine Bemühungen zahlten sich aus und die FDP feierte 2017 mit 10,7 Prozent der Stimmen ihr Comeback. Innerhalb seiner Partei wurde Lindner als Held gefeiert. Aber als er die Koalitionsgespräche verließ, war die Gegenreaktion heftig.

Lindner wurde von manchen als mehr um sein Image und Ego als um das Wohl des Landes angesehen. Andere meinten, er habe Kompromisse gezögert, weil er befürchtete, seine frisch wiederbelebte Partei könnte als Verrat an ihren Prinzipien für lukrative Regierungsämter angesehen werden und wieder an Unterstützung verlieren.

Lindner seinerseits hat die Entscheidung grundsätzlich dargestellt. „Es ist besser für uns, gar nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, sagte er damals.

Lindner ist eine spaltende Figur in der deutschen Politik, und verschiedene Kontroversen im Laufe der Jahre haben ihm nicht geholfen, seine Anziehungskraft zu erweitern.

Eine Regierungskrise in Thüringen im vergangenen Jahr, in der der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit Unterstützung der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, löste einen bundesweiten Aufschrei aus. Lindner brachte Kemmerich schließlich zum Rücktritt, reagierte jedoch spät und ließ die Krise zu lange köcheln.

Auch im vergangenen Jahr machte Lindner einen weithin als sexistisch empfundenen Witz über die scheidende Generalsekretärin der Partei, Linda Teuteberg. Er sagte Parteimitgliedern, er und Teuteberg seien „rund 300 Mal gemeinsam in den Tag gestartet“. Als Antwort auf das Gelächter des Publikums fügte er hinzu: „Ich spreche von unserem täglichen Telefonat am Morgen zur politischen Situation. Nicht das, was du jetzt denkst. “

Trotz dieser Tiefststände konnte sich die Partei die Frustration über die Pandemiereaktion der Bundesregierung bei einigen Bevölkerungsgruppen zunutze machen und sich als akzeptabler Kritiker von Sperrbeschränkungen positionieren – und damit als Mainstream-Alternative zur AfD.

In letzter Zeit kommt auch der FDP ein Abfall konservativer Wähler von der CDU zugute, der die Partei dem schwer fassbaren Regierungsziel wieder näher bringt.

Trotzdem scheint Lindner die Möglichkeit einer Ampelkoalition oft auszuschließen.

Bei der Kundgebung in Wermelskirchen betonte er, wie „sehr weit auseinander“ die Parteien seien.

„Mir fehlt derzeit tatsächlich die Vorstellungskraft, was Herr Scholz und die Grünen der FDP anbieten könnten, was für uns attraktiv wäre“, sagte er.

Das hätte zweierlei bedeuten können. Entweder ist die Ampelkoalition von vornherein zum Scheitern verurteilt, oder Lindner versuchte, sich in den anstehenden Koalitionsgesprächen Druck zu verschaffen. Er schien darauf hinzuweisen, dass letzteres der Fall ist.

„Kompromisse sind möglich“, sagte Lindner POLITICO nach der Kundgebung auf die Frage, ob er zu Koalitionsgesprächen bereit sei. „Aber der Charakter von Kompromissen muss am Ende doch die eigene Position offenbaren.“

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