Mitbestimmung aus wirtschaftlicher Sicht – EURACTIV.com

Heutzutage stehen ganze Geschäftsmodelle unter Druck und Unternehmen testen neue Produktportfolios in neue technologische Richtungen. Diese Analyse gilt insbesondere für die Automobil- und Zulieferindustrie.

Dr. Daniel Hay ist wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Mitbestimmung und Corporate Governance der Hans-Böckler-Stiftung.

Der Übergang zu wasserstoffbetriebenen Motoren oder Elektroautos ist in vollem Gange. Auch der Stahlsektor, der seit vielen Jahren einem anhaltenden Wettbewerbs- und Preisdruck ausgesetzt ist, ist massiv betroffen. Gerade im Streben nach einer klimaneutralen Stahlproduktion braucht die europäische Industrie die Unterstützung der europäischen Politik, um eine Wasserstoffinfrastruktur zur Versorgung der Stahlunternehmen aufzubauen.

Wir stehen heute vor vielen Herausforderungen: Digitalisierung und Automatisierung, der sozial-ökologische Wandel, die Folgen der Covid-Pandemie. All diese Entwicklungen können eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt, die finanzielle Stabilität und unsere ökologische Zukunft darstellen. Wir erleben in Europa einen Krieg, der uns nicht nur dazu zwingt, unsere politische Position und unsere starken Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen, sondern auch einen enormen wirtschaftlichen Druck auf die Märkte ausübt.

Die Bewältigung mehrerer Krisen stellt nicht nur die Politik, sondern auch die Unternehmen und damit auch ihre Mitarbeiter vor enorme Herausforderungen. Wir wollen Klimaneutralität bis 2045 erreichen, was radikale Strukturänderungen klimafreundlicher Geschäftsmodelle erfordert. Für die Arbeitnehmer, insbesondere für die Arbeitnehmer im Industriesektor, steht viel auf dem Spiel.

In den letzten Jahren hat die EU fortschrittliche Gesetze vorgeschlagen, sei es der neue Entwurf zur Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD), zu Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit oder zur Sustainable Finance Taxonomy und ESG. Um das Ziel der CO2-Neutralität bis 2045 tatsächlich zu erreichen, stellt die EU-Gesetzgebung klare Anforderungen an Unternehmen. Es ist jetzt an der Zeit, dass die EU in sozialen und Governance-Angelegenheiten stärker wird. Nachhaltigkeit ist nicht nur eine Frage der Ökologie, sondern beinhaltet auch die Beteiligung der Arbeitnehmer. Wir müssen daher über Entscheidungsprozesse in Unternehmen sprechen, die ihre Mitarbeiter und die Gesellschaft als Ganzes betreffen.

In vielen Bereichen der europäischen Industrie müssen alte Geschäftsmodelle angepasst werden. Unser Ziel muss es sein, Schlüsselindustrien mit gut bezahlten und zukunftssicheren Arbeitsplätzen in Europa zu halten. Darüber hinaus haben wir immer noch Schwierigkeiten in vielen Lieferketten. Trotz gut gefüllter Auftragsbücher ist die Produktion zurückgegangen – mit negativen Folgen für Arbeitnehmer und Unternehmen. Aus diesem Grund müssen Unternehmen ihre Lieferketten stabilisieren und diversifizieren, während die EU Anreize für die Rückverlagerung der Produktion nach Europa in Betracht ziehen muss.

Die Stärkung der Produktion und damit der Industrie in der EU ist ein wesentlicher Bestandteil der Fokussierung auf mittel- und langfristige Perspektiven für das Unternehmen, anstatt nur kurzfristige Erfolge zu berücksichtigen, wie es Manager und Investoren oft tun. Das einzigartige Wissen der Arbeitnehmervertreter über das Unternehmen und seine Prozesse ist bei der Transformation von Geschäftsmodellen dringend erforderlich. Sie stärken die Nachhaltigkeitsperspektive des Aufsichtsrats und richten den Fokus auf den langfristigen Erfolg des Unternehmens und seiner Arbeitsplätze. Mitbestimmung stellt einen Ausgleich zu kurzfristigen Anlegerinteressen dar und ist für eine nachhaltige Unternehmensführung notwendig. Gute Unternehmensführung braucht daher die Beteiligung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Der Übergang zu neuen und nachhaltigen Konzepten für das Unternehmen muss beginnen, bevor neue Gesetze oder neue Umwelt- oder gesellschaftliche Umstände das Unternehmen daran hindern, so weiterzumachen wie bisher.

Das Institut für Mitbestimmung und Corporate Governance konnte wissenschaftlich nachweisen, dass mitbestimmte Unternehmen in Krisenzeiten besser abschneiden und sich schnell wieder erholen. Mitbestimmung ist in Krisenzeiten wirtschaftlich wertvoll und kann auch dabei helfen, Transformationsprozesse zu begleiten. Es kann die negativen Folgen einer Krise für die Arbeitnehmer abfedern und ist auch rein ökonomisch für Unternehmen von Vorteil. Unternehmen mit Arbeitnehmerbeteiligung in Aufsichtsräten investieren mehr in Forschung und Entwicklung und nutzen seltener die Grenzen des „Window Dressing“ für ihre Rechnungen.

Daher muss ganz klar sein: Die Mitbestimmung muss sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene gestärkt werden, da sie eine wirksame Maßnahme zur Krisenbewältigung und ein wichtiges Gut guter Unternehmensführung ist.

Was wir derzeit erleben, ist leider eher eine Erosion der Mitbestimmung. Unternehmen umgehen geltende Gesetze oder ignorieren sie einfach, um ihren Mitarbeitern die Mitbestimmung vorzuenthalten. Gäbe es keine Lücken im europäischen und deutschen Mitbestimmungsrecht, hätten statt 656 deutsche Unternehmen insgesamt 1000 Arbeitnehmervertreter im Gremium. Allerdings wird derzeit mehr als 2,1 Millionen Arbeitnehmern in Deutschland das demokratische Recht entzogen, Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat zu wählen.

Natürlich handelt es sich ausschließlich um deutsche Zahlen, aber die aktuelle Bedrohung der Mitbestimmung muss ganz Europa beunruhigen. 17 von 27 EU-Staaten haben eine Art Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat und damit auch Demokratie am Werk.

Darüber hinaus muss es eine wesentliche Aufgabe der Europäischen Union werden, die Demokratie für jeden einzelnen Bürger spürbar zu stärken. Wir sehen, dass demokratische Werte außerhalb, aber auch innerhalb der EU mehr denn je unter Druck stehen. Ausgehend vom unmittelbaren Arbeitsplatz muss erneut auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, die rechtlichen Lücken zu schließen. Die Arbeitnehmer müssen ihre Vertreter auf Unternehmensebene wählen können. Diese Vertreter müssen mit den notwendigen Rechten ausgestattet werden, Transformationsprozesse frühzeitig voranzutreiben und zu begleiten, um Auswirkungen auf die Arbeitsplätze der Arbeitnehmer zu minimieren und abzumildern. Arbeitnehmervertreter können einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Demokratie im Unternehmen leisten.

Warum also nicht so etwas wie „Democracy Mainstreaming“ einführen und sicherstellen, dass die Folgen für die gesellschaftliche Demokratie und die Demokratie am Arbeitsplatz in neuen Gesetzen immer berücksichtigt werden?

Das Erleben demokratischer Prinzipien am Arbeitsplatz macht die Demokratie selbst lebendiger und widerstandsfähiger. Die Sicherung und Stärkung der Arbeitnehmerbeteiligung muss daher nicht nur das Ziel starker Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen sein, sondern auch eine wesentliche Aufgabe nationaler und europäischer Politiker – im Interesse unserer Demokratie. In Zeiten erstarkender populistischer Bewegungen müssen demokratische Werte an erster Stelle stehen. Unsicherheiten hinsichtlich der sich verändernden Art und Weise, wie wir arbeiten und leben, können wir nur begegnen, indem wir die Beteiligung und Eigenverantwortung für den Prozess selbst stärken.


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