Lernen Sie den neuen Bürgermeister kennen: Wie ein Flüchtling eine konservative deutsche Stadt gewann

Das Bier floss in Strömen, die Bratwurst brutzelte und die Blaskapelle des Dorffestes am 1. Mai führte die Menge mit immer beschwipsteren Darbietungen des örtlichen Trinkliedes an.

Überall stieß Ryyan Alshebl an, ein schlaksiger, bärtiger 29-Jähriger aus Syrien.

Vor acht Jahren war Herr Alshebl Teil des historischen Flüchtlingsstroms, der mit dem Beiboot das Mittelmeer überquerte und zu Fuß den Kontinent bereiste, um in Deutschland und anderen Ländern Asyl zu suchen.

Jetzt ist er der neue Bürgermeister von Ostelsheim, einem Dorf mit 2.700 Einwohnern und gepflegten Straßen, eingebettet in die sanften Hügel nahe dem Schwarzwald im Südwesten Deutschlands.

Ostelsheim scheint die erste deutsche Stadt zu sein, die unter den fast einer Million syrischen Flüchtlingen, die 2015 das Land erreichten, einen Bürgermeister wählte, eine Welle, die eine rechte Gegenreaktion hervorrief und die politische Landschaft auf den Kopf stellte. Und die Geschichte, wie dieses kleine, eng verbundene Dorf einen Flüchtling zum Bürgermeister wählte, birgt Hinweise auf eine Nation, die mit einer immer multikulturelleren Identität ringt.

„Wenn man sich unsere Landtagswahlen anschaut, ist Ostelsheim ein Ort, der so konservativ wählt. Ich dachte, es würde sehr, sehr hart für ihn werden“, sagte Yvonne Boeckh, eine Steuerberaterin, während sie auf dem Festival eine lautstarke Polka-Nummer übertönte. „Es ist einfach bemerkenswert.“

Als Herr Alshebl mit einem Hochschulabschluss im Bankwesen nach Deutschland kam, dachte er kaum an Politik. Allein ohne seine in Syrien zurückgebliebenen Eltern stürzte er sich in seine neue Welt und ihre Traditionen.

Doch wie viele der Flüchtlinge von 2015, die nun die Staatsbürgerschaft erhalten und sich ein neues Leben aufbauen, wollte er nie verbergen, woher er kam, oder sich dafür entschuldigen. Und er lehnte die alten deutschen Integrationsvorstellungen ab.

„Integration war ein Begriff, der bedeutete: Wir haben eine Gruppe von Menschen, denen wir einen Weg finden müssen, ihnen einen Teil der Sprache beizubringen und sie zum Arbeiten zu bringen“, sagte er. „Und was für Jobs? Für den Bäcker, den Metzger, den Schuhmacher arbeiten. Aber nicht, um Bürgermeister zu werden.“

Die Flüchtlinge von 2015 wurden zunächst mit einer überschwänglichen „Willkommenskultur“ begrüßt – und dem berühmten Ausspruch der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir schaffen das.“ Doch die Skepsis in Teilen der Bevölkerung wurde von der extremen Rechten ausgenutzt, die zu einer Kraft in der deutschen Politik wurde. Da die Zahl der Asylsuchenden wieder steigt, hat dieser Trend wieder Fahrt aufgenommen und sogar Mainstream-Politiker zu härteren Positionen gedrängt.

Ein Führer der Mitte-Rechts-Christdemokraten in Deutschland plädierte kürzlich dafür, die verfassungsrechtliche Verpflichtung Deutschlands, Asyl zu gewähren, aufzuheben. Heute ist mehr als die Hälfte der befragten Deutschen der Meinung, dass die Nachteile der Einwanderung die Vorteile überwiegen.

Dennoch hat die Mehrheit der Flüchtlinge des Jahres 2015 erfolgreich einen Job gefunden und die Sprache gelernt. Und einige haben sich nicht einfach integriert, sondern sind zu Führungskräften geworden. Für diese Neuankömmlinge war der Wahlerfolg jedoch schwieriger zu erreichen – selbst in großen, multikulturellen Städten wie Berlin.

Ein weiterer syrischer Flüchtling trat im Herbst 2021 in der Hauptstadt als Kandidat der Grünen für den Bundestag an. Er erhielt Morddrohungen, wurde an einer U-Bahn-Haltestelle angegriffen und zog schließlich seine Kandidatur zurück.

Die Reise von Herrn Alshebl aus Syrien begann in der Provinz Sweida, wo seine bürgerliche Familie eine Leidenschaft für Politik hatte, ihre Gespräche jedoch geheim hielt. Als ihn die autoritäre Regierung von Präsident Baschar al-Assad in die Armee einzog, floh er aus dem Land.

Zu ihm gesellte sich ein Freund, Ghaith Akel, ein fröhlicher Technikingenieur. Die beiden 21-Jährigen flüchteten in die Türkei und verbrachten acht nervenaufreibende Stunden auf einem Schlauchboot im Mittelmeer. Sie reisten mit Bahn, Bus und zu Fuß quer durch Europa nach Deutschland.

Deutsche Beamte schickten das Paar in die an Ostelsheim angrenzende Stadt Althengstett in der ländlichen Region Schwaben, wo viele Menschen in der Landwirtschaft oder in der berühmten Autoindustrie der Region arbeiten. Zunächst empfanden sie die Einheimischen – überwiegend weiße Deutsche mit starken regionalen Dialekten – als einschüchternd.

„Sie haben Grenzen gesetzt“, erinnert sich Herr Akel. „Man muss jede einzelne dieser Hürden überwinden, um sie zu erreichen. Alles Neue oder Merkwürdige empfinden sie als besorgniserregend – ‚er ist nicht blond, er spricht keinen schwäbischen Dialekt‘.“

Schließlich entdeckten sie den Schlüssel zur Akzeptanz in der Community. Sie schlossen sich den örtlichen Vereinen an.

Herr Alshebl arbeitete ehrenamtlich im Freizeitzentrum. Als eine Führungsposition bei der Organisation von Spielen frei wurde, kandidierte er.

„Die Leute hätten sagen können: ‚Nein, wir können diesen Syrer nicht haben, der nichts über diesen Ort weiß‘“, sagte er. „Aber sie haben mir eine Chance gegeben.“

Diese Erfahrung weckte sein Interesse an Politik neu. Er gelobte, seine Deutschkenntnisse zu perfektionieren, schrieb sich für eine Berufsausbildung zum Verwaltungsbeamten ein und bewarb sich um ein Praktikum bei der Stadtverwaltung Althengstett. Schließlich stellte ihn der Althengstetter Bürgermeister Clemens Götz ein.

Herr Alshebl lernte auch die lokale Küche schätzen.

Ulrich Gellar, Rentner aus Ostelsheim, strahlte über Herrn Alshebls Freude an Spätzle, einem Käsenudelgericht, und Maultaschen, den heimischen Knödeln. „Und er trinkt Bier mit uns“, sagte er. „Solche kleinen Dinge haben eine große Wirkung.“

Als Herr Alshebl letzten Winter von Ostelsheims Bürgermeisterwahl erfuhr, ermutigte ihn Herr Götz zur Kandidatur.

Der Hauptkonkurrent war ein wohlhabender Ostelsheimer mit drei Kindern und einem großen Familienhaus.

Sein Freund, Herr Akel, war nervös um ihn. „Es ist ein kleines Dorf“, sagte er und fügte hinzu: „Ihre Ansichten über Flüchtlinge sind nicht immer die nettesten.“

Aber Herr Akel half seinem Freund beim Wahlkampf mit einer einfachen Strategie: Reden Sie mit allen.

Herr Alshebl ging nicht nur von Tür zu Tür, er schaltete auch Anzeigen auf, in denen er Hausbesuche auf Anfrage anbot.

Als er bei der Feier zum 1. Mai Bier nippte, erinnerten sich die Einheimischen daran, wie aufmerksam er zugehört hatte. Mütter entlasteten ihre Beschwerden über Kita-Mangel. Die Senioren waren beeindruckt von seiner Vertrautheit mit den Beschwerden ihrer Seniorenheime. Zum ersten Mal seit Menschengedenken belebte eine Bürgermeisterkampagne das Dorf.

Nicht alle waren freundlich. Auf lokalen Nachrichtenseiten posteten einige Leser Kommentare mit der Frage, wie jemand für einen Flüchtling stimmen könne. Eine Familie konfrontierte Herrn Alshebl mit Nachrichtenberichten über Flüchtlinge, die anderswo in Deutschland Vandalismus begingen. Andere verbreiteten Gerüchte, er würde das islamische Scharia-Gesetz einführen.

Freunde in Ostelsheim drängten Herrn Alshebl, deutlich zu machen, dass er kein Muslim sei; Er gehört der drusischen Minderheit in Syrien an. Doch er lehnte ab: „Ich wollte Muslime nicht stigmatisieren.“ In der Wahlnacht gewann er deutlich – mit der größten Unterstützung der ältesten und konservativsten Einwohner Ostelsheims.

Rainer Sixt, Leiter der Band, die das Maifest spielt, betonte, der Überraschungssieg sei sinnvoll. „Die Werte an manchen Orten im Ausland, wie Tradition und Heimat, ähneln eher hier auf dem Land als in unseren eigenen Großstädten“, sagte er.

Im Anschluss an die Feier besuchte Herr Alshebl seinen Mentor, Herrn Götz. und seine Frau Isabel. Es sei lustig, so waren sie sich einig, wie lange es gedauert habe, bis Deutschland eine Identität als Einwanderungsland angenommen habe; Seit den 1950er Jahren nimmt es türkische Gastarbeiter, Balkan-Bürgerkriegsflüchtlinge und Ostblock-Exilanten auf.

„Das war in Deutschland lange Zeit Realität“, sagte Frau Götz. „Erst jetzt wurde der Öffentlichkeit endlich bewusst, dass Deutschland nicht mehr das ist, was es einmal war.“

Herr Alshebl nippte an seinem Kaffee und grinste verschmitzt: „Zumindest nicht seit der Wahl in Ostelsheim.“

Herr Alshebl, der nächsten Monat offiziell seinen neuen Job antritt, bewegt sich nun zwischen zwei Welten – einer komfortablen Welt in Deutschland und dem Leben seiner Familie in Syrien. wo sie ums Überleben in einem Land kämpfen, das von zwölf Jahren Krieg verwüstet wurde.

“Alles ok?” fragte er kürzlich seine Mutter und nahm ihren Anruf schnell in seinem Büro entgegen.

„Es geht uns allen gut – wir warten nur auf den Strom, wie immer“, sagte sie. Ihre unterschiedlichen Wege sind spürbar. Herr Alshebl wirft deutsche Wörter in das Gespräch ein, oft ohne sich der Verwirrung seiner Familie bewusst zu sein.

Er vergleicht sein Leben mit dem syrischer Freunde, die sich in weltoffenen deutschen Städten niedergelassen haben. Dort können sie eine kleine Gemeinschaft gründen, Geschäfte eröffnen, um bekannte Lebensmittel zu kaufen und gemeinsam Arabisch sprechen.

Doch als Herr Alshebl an Ostelsheims charmanten Steingebäuden vorbeifuhr, sinnierte er darüber, dass er nicht trotz seiner l-Gemeinde zum Bürgermeister gewählt wurde – sondern gerade deswegen.

„Vielleicht ist der einzige Ort, an dem man als Flüchtling Bürgermeister werden kann, tatsächlich eine konservative Landstadt“, sagte er. „Denn um hier zu leben, muss man ein Teil von ihnen sein.“

source site

Leave a Reply