Kurz-Affäre zwingt Österreich zum Blick in den Spiegel – POLITICO

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WIEN — Österreicher lieben kaum etwas mehr als einen saftigen Polit-Skandal, weshalb die Enthüllungen, die das Land in den letzten Wochen erschüttert haben, ein bisschen wie weiße Weihnachten und die Olympischen Winterspiele in einem sind.

Ob zu Hause oder am Arbeitsplatz, in einem Wiener Kaffeehaus oder einer Tiroler Hütte, die Chancen stehen gut, dass das Gespräch mit dem Satz „Hast du gehört …“ beginnt.

Inzwischen hat natürlich jeder den brisanten Textaustausch zwischen Altkanzler Sebastian Kurz und seinen Stellvertretern gehört, gelesen und wieder gelesen, der enthüllt, wie sie 2017 ihren Weg an die Macht geplant und geplant haben.

Kurz, der jegliches kriminelle Fehlverhalten bestreitet, wird mit neun Mitarbeitern beschuldigt, öffentliche Gelder missbraucht zu haben, um Meinungsforscher und Journalisten zu bestechen, um die Medienberichterstattung zu seinen Gunsten zu manipulieren. In dieser Woche wimmelte es in Wien von Gerüchten, dass jemand aus dem engsten Kreis von Kurz zum „Kronzeugen“ geworden sei.

Wie in jedem guten Skandal liegt auch in der Affäre Kurz ein voyeuristischer Reiz. Die Chats bieten der Öffentlichkeit einen seltenen Blick hinter den Vorhang sorgfältig ausgearbeiteter Gesprächsthemen, Doppeldeutigkeiten und versteckter Absichten, die die politische Kultur des Landes charakterisieren.

Einen besonders intimen Einblick in die Politik des Landes erhielt Österreich (und der Rest der Welt) natürlich erst vor zwei Jahren durch einen heimlich gefilmten Besuch des rechtsextremen FPÖ-Chefs. Heinz-Christian Strache, auf eine Finca auf Ibiza.

Der Skandal, der sich um Straches angeblichen Versuch drehte, einer Frau, die er für eine mächtige Russin hielt, politische Gefälligkeiten zu verkaufen, löste den Zusammenbruch von Kurzs erster Regierung aus, obwohl er persönlich nicht daran beteiligt war und bald an die Macht zurückkehrte.

Gerade als Österreich Popcorn für die mit Spannung erwartete Dramatisierung der Ibiza-Affäre kaufte (eine Miniserie soll am Donnerstag Premiere haben), tauchten die jüngsten Vorwürfe gegen Kurz auf.

Auch wenn die Österreicher das jüngste Spektakel eifrig aufnehmen, hat die Nähe der beiden Skandale eine unangenehme Frage in das kollektive Bewusstsein des Landes gedrängt: Sind wir schuld?

Stefan Griebl, ein österreichischer Humorist, der unter dem Pseudonym Franzobel schreibt, hat kürzlich einen lokalen Archetyp identifiziert – den „homo korrupt“ — der die Kufen des Pfropfsystems, das im kleinen Rathaus verwurzelt ist, mit Ranken bis ins Bundeskanzleramt schmiert.

Der stetige Skandalstrom schockiere die Bevölkerung nicht, schreibt Franzobel, denn die Einheimischen seien überzeugt, dass „Menschen zu allem fähig sind und Österreicher noch mehr“.

Wenn also die Frau des Finanzministers mit ihrem Baby – und dem Laptop ihres Mannes – nur wenige Minuten vor Eintreffen der Polizei zur Durchsuchung ihrer Wohnung spazieren geht, wie es im vergangenen März geschah, nimmt die Öffentlichkeit es gelassen. Und wenn ein Kanzlerassistent mehrere Festplatten professionell schreddern lässt – unter falschem Namen – lachen und zucken die Österreicher mit den Schultern.

Diejenigen, die hinter der Korruption stehen, trösten sich mit dem Wissen, dass sie, selbst wenn sie erwischt werden, wenig zu befürchten haben.

„Der Österreicher ist ein charmanter Stricher, der die Dinge zu seinen Gunsten zu verdrehen weiß, davon überzeugt, dass sowieso alles als kleiner Verstoß behandelt wird“, schloss Franzobel.

Wenn das hart klingt, denken Sie an die Liste der großen politischen Skandale der jüngeren Vergangenheit: die sogenannte Eurofighter-Affäre, bei der es um angebliche Schmiergelder in Höhe von bis zu 100 Millionen Euro im Zusammenhang mit der Beschaffung von Jets ging (nach mehr als einem Jahrzehnt der Ermittlungen nicht eine alleinstehende Person in Österreich verurteilt wurde); Der ehemalige Finanzminister Karl-Heinz Grasser wurde kürzlich wegen der Annahme von Bestechungsgeldern im Zusammenhang mit dem Verkauf von Sozialwohnungen zu acht Jahren Haft verurteilt; Währenddessen durchforsten Staatsanwälte noch immer die Trümmer der politisch verbundenen Hypo Alpe-Adria Bank, die 2014 zusammenbrach und den Steuerzahler fast 10 Milliarden Euro (ja, Milliarden) kostete.

Auch in anderen Ländern stehen Österreicher oft im Zentrum von Skandalen. Sowohl der Chief Executive als auch der Chief Operating Officer von Wirecard, dem deutschen Zahlungsunternehmen, das letztes Jahr aufgrund eines großen Finanzbetrugs zusammenbrach, sind Österreicher (Jan Marsalek, der Ex-COO, ist noch auf der Flucht). Beide Männer waren gut mit der politischen Elite Österreichs verbunden, auch mit dem engeren Kreis von Kurz.

Und doch verleugnet das Land seit langem seine Kultur der Korruption, die manche als Erbe jahrhundertelanger Monarchie bezeichnen, andere als Ergebnis seiner katholischen Sitten. Obwohl die meisten Österreicher nicht korrupt sind, hat ihre Toleranz gegenüber offiziellen Eingriffen, ob im kleinen oder großen Maßstab, sie zu Komplizen des Systems gemacht.

Österreichische regionale Dialekte und Slang sind voller bunter Ausdrücke, die notwendig sind, um durch das Netzwerk von Vetternwirtschaft und Mäzenatentum zu navigieren, wie zum Beispiel Freunderlwirtschaft, die Praxis, eine Hand die andere zu waschen, und Schmatt (ein Tipp) oder Maut (eine Straßenmaut) für Bestechungsgelder. Und trotz der langen Geschichte von Skandalen sind die Bemühungen, gegen die offizielle Korruption vorzugehen, nicht sehr weit gekommen.

Kurz, der sich den Wählern als frischgesichtiger Weltverbesserer verkaufte, der den alten Stil der krummen Politik beenden würde, ist das beste Beispiel für diese dämlichen Bemühungen. Glaubten ihm die Österreicher wirklich oder wollten sie sich nur täuschen lassen?

Als der Ibiza-Skandal vor zwei Jahren ausbrach, erklärte Präsident Alexander Van der Bellen, sichtlich schockiert über die Tiefe der schmutzigen Geschäfte, im Live-Fernsehen: “Das sind wir nicht.”

Die Kurz-Affäre, die gezeigt hat, inwieweit ein Großteil der Medien des Landes Hand in Hand mit der Regierung zusammengearbeitet hat, um ihre Agenda zu fördern, stellt diese Behauptung in Frage.

„Das sind wir“, schrieb Horst Pirker, Herausgeber des Magazins News, diese Woche. Die hochrangigen politischen und medialen Ränge des Landes, schloss er, seien weitgehend „faul“.


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