„Die mittlere Stimme“ von Han Kang

γῇ κεῖται γυνή.

Eine Frau liegt am Boden.

χιὼν ἐπὶ δειρῄ.

Schnee im Hals.

ῥύπος ἐπὶ βλεφάροις.

Erde in den Augen.

“Was ist das?” fragt die Philosophiestudentin, die in derselben Reihe wie sie sitzt. Er zeigt auf das Notizbuch, wo sie unvollständige Sätze auf Altgriechisch geschrieben hat, die auf γῇ κεῖται γυνή folgen, „Eine Frau liegt auf dem Boden“, was eines der Beispiele war, die sie früher in der Stunde gelernt hatten. Sie regt sich nicht auf, klappt das Notizbuch nicht hastig zu. Sie nimmt all ihre Kraft zusammen und blickt dem jungen Mann in die Augen wie in die Tiefe des Eises.

“Das scheint eine Menge Ärger zu sein, nur um schließlich aufzugeben.”

Karikatur von PC Vey

„Ist es Poesie? Gedichte auf Griechisch?“ Der Postgraduierte, der am Fenster sitzt, dreht sich zu ihr um, Neugier steht in seinem Gesicht. In diesem Moment kommt der Dozent zurück in den Hörsaal.

„_Seonsaengnim! _“ Der Philosophiestudent lacht verschmitzt. „Schau mal, sie hat Gedichte auf Griechisch geschrieben.“

Auf seinem Platz hinter der Säule dreht sich der Mann mittleren Alters mit erstaunter Bewunderung zu ihr um und bricht in lautes Gelächter aus. Aufgeschreckt von dem Geräusch klappt sie das Notizbuch zu. Sie sieht verständnislos zu, wie sich die Dozentin ihrem Stuhl nähert.

“Wirklich? Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich kurz nachsehe?“

Sie muss sich anstrengen, um sich auf seine Worte zu konzentrieren, als würde sie eine fremde Sprache entziffern. Sie sieht zu seiner Brille hoch, deren Gläser so dick sind, dass ihre Augen schwimmen. Plötzlich begreift sie die Situation und packt das dicke Studienbuch, ihr Notizbuch, Wörterbuch und Federmäppchen in ihre Tasche.

„Nein, bleiben Sie bitte sitzen. Du musst es mir nicht zeigen.“

Sie steht auf, schultert ihre Tasche, drängt sich an der Reihe leerer Stühle vorbei und geht zur Tür.

Vor dem Notausgang, der zur Treppe führt, packt sie jemand von hinten am Arm. Erschrocken wirbelt sie herum. Es ist das erste Mal, dass sie den Dozenten aus dieser Nähe sieht. Er ist kleiner, als sie dachte, jetzt, wo er nicht mehr auf der erhöhten Plattform vorne im Klassenzimmer steht, und seltsamerweise sieht sein Gesicht plötzlich gealtert aus.

„Ich wollte nicht, dass du dich unwohl fühlst.“ Er holt tief Luft und tritt näher. “Sind Sie . . . Hörst du vielleicht nicht, was ich sage?“ Er hebt die Hände und macht eine Geste. Er wiederholt die gleiche Geste ein paar Mal und spricht, als würde er sich selbst interpretieren, stockend die Worte: „Es tut mir leid. Ich bin rausgekommen, um zu sagen, dass es mir leid tut.“

Sie starrt ihm stumm ins Gesicht, sieht ihn an, als er noch einmal Luft holt und unbeirrt und nachdrücklich weiter signiert: „Wir müssen nicht reden. Sie müssen keinerlei Antwort geben. Es tut mir wirklich leid. Ich bin rausgekommen, um zu sagen, dass es mir leid tut.“

Ihr Sohn war sechs.

Es war ausnahmsweise einmal ein gemütlicher Sonntagmorgen, und nach einem ziellosen Gespräch schlug sie ihm vor, sich Namen auszudenken, je nachdem, welcher natürlichen Sache sie am ähnlichsten seien. Ihrem Sohn gefiel die Idee, er beanspruchte Sparkling Forest für sich und nannte sie dann auch. Entscheidend, als würde es ihr genau passen.

„Die Trauer des dick fallenden Schnees.“

“Was?”

„Das ist dein Name, Mama.“

Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, blickte sie in seine klaren Augen. Sie legte sich neben ihn und schloss die Augen. Wenn sie die Augen öffnete, schien es, als würde sie den dick fallenden Schnee sehen, also schloss sie sie noch fester. Mit geschlossenen Augen war nichts davon zu sehen. Weder die großen glitzernden sechseckigen Kristalle noch die federweichen Flocken. Weder das tiefviolette Meer noch der Gletscher wie ein weißer Berggipfel.

Bis die Nacht vorbei ist, gibt es für sie weder Worte noch Farbe. Alles ist vom dicken Schnee bedeckt. Ein Schnee, der wie Zeit ist, Zeit, die beim Gefrieren zerbricht, legt sich unaufhörlich über ihren steifen Körper. Das Kind an ihrer Seite ist nicht da. Sie liegt bewegungslos an der kalten Bettkante und ruft den Traum immer wieder ins Leben, um die warmen Augenlider ihres Sohnes zu küssen.

Die einspurige Einbahnstraße verläuft ein gutes Stück neben der Autobahn-Lärmschutzwand. Sie geht auf seinem Bürgersteig. Nicht viele Leute gehen diesen Weg, also hat der Rat es etwas vernachlässigt. Grasbüschel ragen zäh aus den Ritzen der Pflastersteine. Wie Arme strecken sich die dicken schwarzen Äste der Akazien, die statt einer Mauer in breiter Linie um die Wohnungen gepflanzt worden waren. Der abstoßende Nebel der Abgase vermischt sich mit dem Duft von Gras in der schwülen Nachtluft. So nah an der Straße schneidet das Dröhnen von Automotoren in ihr Trommelfell, wie scharfe Schlittschuhe in Eis schneiden. Im Gras zu ihren Füßen weint langsam eine Heuschrecke.

Es ist komisch.

Es ist, als hätte sie genau so eine Nacht schon einmal erlebt.

Es fühlt sich an, als wäre sie diesen Weg schon einmal gegangen, eingehüllt in ein ähnliches Gefühl von Scham und Verlegenheit.

Sie hätte damals noch Sprache gehabt, also wären die Emotionen klarer, stärker gewesen.

Aber jetzt gibt es keine Worte mehr in ihr.

Worte und Sätze verfolgen sie wie Geister, weit entfernt von ihrem Körper, aber nahe genug, um in Hör- und Augenweite zu sein.

Dieser Distanz ist es zu verdanken, dass jede Emotion, die nicht stark genug ist, von ihr abfällt wie ein Stück schwach haftendes Klebeband.

Sie schaut nur. Sie schaut und übersetzt nichts von dem, was sie sieht, in Sprache.

Bilder von Objekten bilden sich in ihren Augen, und sie bewegen sich, schwanken oder werden im Takt ihrer Schritte gelöscht, ohne jemals in Worte übersetzt zu werden.

In einer solchen Sommernacht, vor langer Zeit, hatte sie plötzlich angefangen, vor sich hin zu lachen, als sie eine Straße entlangging.

Sie hatte auf den Dreizehnten-Tages-Mond geblickt und gelacht.

Sie hatte gelacht, als sie dachte, es ähnele dem mürrischen Gesicht von jemandem, dass seine runden, eingesunkenen Krater wie Augen seien, die Enttäuschung verbergen.

Als ob die Worte in ihrem Körper zuerst in Gelächter ausgebrochen wären und es dieses Lachen gewesen wäre, das sich über ihr Gesicht ausgebreitet hätte.

In jener Nacht, als die Hitze, die kurz nach der Sommersonnenwende einsetzte, sich wie jetzt zögernd hinter die Dunkelheit zurückgezogen hatte.

In jener Nacht vor langer Zeit, die noch gar nicht so lange her ist, ging ihr Kind vor ihr her, während sie ihr folgte und eine riesige kalte Wassermelone in ihren Armen wiegte.

Ihre Stimme war liebevoll gewesen, als sie sanft nach außen drang und versuchte, so wenig Platz wie möglich einzunehmen.

Ihre Lippen hatten keine Anzeichen von zusammengebissenen Zähnen gezeigt.

Blut hatte sich nicht in ihren Augen gesammelt. ♦

(Übersetzt aus dem Koreanischen von Deborah Smith und Emily Yae Won.)

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