Der Nikolaus und sein Begleiter: Wie zeitgemäß ist der Krampus noch?

Am 6. Dezember kommt ein Mann im Bischofkostüm, flankiert von gehörnten Finsterwesen, und ermahnt und schreckt die Kinder. Schwarze Pädagogik, rufen längst viele! Dabei steckt in dem Brauch der Mensch in allen Verwinkelungen, findet unser Autor. 

Es ist wohl eine der am weitesten zurückliegenden Momente meiner Erinnerung: Zwei Jahre nur war ich alt, als im Elternhause hinter der schummrig verglasten Türe des Esszimmers ein Eindringling rote Säckchen platzierte. Irgendwo von fern rasselte eine Kette. Meine Eltern wollten mich wohl als Kleinkind nicht allzu sehr einschüchtern und hatten den Nikolaus folglich auf Abstand gehalten. Erst als der Mann – später erfuhr ich, dass der damalige Volksschullehrer unseres Dorfes im Heiligenkostüm gesteckt hatte– fort war, wurde die Türe geöffnet, und ich machte mich über die Tüten voller Süßigkeiten her. Auf denen prangte, das weiß ich noch, der Aufkleber einer teuflischen Fratze, Vorbote der schrecklichen Begegnungen, die in den Jahren danach noch dräuen sollten.

Der Autor am 6. Dezember 1975 nach seiner ersten Bescherung 

Der Autor am 6. Dezember 1975 nach seiner ersten Bescherung 

Schon ein Jahr später geschah Beängstigendes: Dieser Bischof mit dem Sack voller Lebkuchen und Nüssen kam in Person und mit ihm ein finsteren Begleiter in geschnitzter Maske und Hörnern, referiert wurden aus dem goldenen Buch meine diversen Frechheiten und Verfehlungen jener Monate, der Krampus schwenkte seine Rute dazu. Brrrrrrr.

Man würde es heute wohl als „schwarze Pädagogik“ verdammen, was da seit ewigen Zeiten Kindern vorgeführt und mitunter angetan wird: als Bischof verkleidete Herren halten Strafpredigten über Kleinkinder, wieder andere in fratzenhaften Larven und furchterregenden Fellen knurren und brüllen dazu. Mich selbst wiewohl scheint es nicht allzu grob traumatisiert zu haben. Schließlich ging ich nur wenige Jahre später selbst als Nikolo von Haus zu Haus, flankiert von meinen Freundinnen Esa und Nani als Krampusse. 

Wer braucht noch archaischen Bräuche?

Doch was geschieht da eigentlich? Woher kommen diese dunklen Traditionen, die bis heute vor allem im Alpenraum Kindern das Fürchten lehren? Und braucht es diese Bräuche heute noch?

© Florian Kolmer

Die Verehrung des heiligen Nikolaus hat ihren Ursprung schon im 6. Jahrhundert, als der römische Kaiser Justinian herrschte. Dieser weihte dem Geistlichen eine Kirche in Konstantinopel, jener einst christlichen Metropole, die heute als Istanbul bekannt ist. Über Griechenland breitete sich der Nikolaus-Kult bald bis in die slawischen Länder aus, eroberte Russland und kam via Italien nach Mitteleuropa. Schon mit 19 Jahren wurde der junge Mann aus der Nähe des heutigen Antalya zum Priester geweiht und soll allerlei Wunder vollbracht haben, jedenfalls war er für seine Barmherzigkeit berühmt.

Dabei ist nicht einmal gesichert, ob ihn die katholische Kirche je heiliggesprochen hat, diesen Stars ihrer Religion. Die angebliche Heiligsprechung im Jahr 1222 auf einem Kirchenkonzil in Oxford gilt jedenfalls als historisch nicht gesichert. Zu seinen Heldentaten gehörte angeblich, drei junge Frauen vor der Prostitution bewahrt zu haben. Dem verarmten Vater der Mädchen soll das Geld für die Heirat seiner Töchter gefehlt haben, woraufhin der nette Mann aus Myra Goldstücke durch den Kamin des Hauses geworfen habe, die in den Söckchen der Mädchen landeten. All dies erkennen wir in den Santa-Claus-Überlieferungen wieder, und recht sicher handelt es sich, nun ja, um zusammengereimte Legenden.

© Florian Kolmer

Es gibt noch andere Geschichten dazu, wie der Nikolaus es schaffte, über Jahrhunderte zum Patron für Kinder zu werden. So soll der edle Kirchenmann Jugendliche, die von Piraten als Sklaven entführt worden waren, mit seinem Kirchenschatz ausgelöst haben. Bereits ab dem Mittelalter soll die Figur eine pädagogische Rolle gespielt haben, 1686 berichtete jedenfalls ein englischer Arzt von seinen Reisen nach Österreich, und dass man dort Kindern kleine Gaben im Namen des Nikolos in den Schuh zu stecken pflegte.

Im 18. Jahrhundert werden die Berichte über den Umzug des gabenbringenden Bischof und seines Krampus häufiger. Und über Missbräuche durch Krampusse, die auf der Straße umgingen und eskalierten, erzählt man sich. Was aber schon damals keines der großen Warenhäuser davon abhielt, Schokoladenfiguren, Masken, Andenken und „Zwetschkenkrampusse” gewinnbringend feilzubieten.

Die Tradition war stets im Wandel, sie passte sich an

Als ich gerade mal neunjährig die selbstgebastelte Nikolausmütze aufsetzte, war mir von alldem freilich wenig bewusst. Erst später erfuhr ich, dass sich, wie bei so vielen alten Bräuchen, auch diese christlichen Ausformung der Volksfrömmigkeit mit Überlieferungen der heidnischen Vorfahren mischen. In Deutschland kennt man vor allen Dingen den Knecht Ruprecht, der wie die alpenländischen Krampusse seine Herkunft wohl in den finsteren Geistern der Rauhnächte haben könnte. Dort gab es eine gewisse Frau Perchta, eine Verwandte der Frau Holle, auch als nordisch-göttliche Hulda bekannt. Sie war, so will es die Mythologie germanischer und slawischer Volksstämme, eine Richterin über faule und fleißige Leute. 

Bis heute spaziert jene Perchta bei alpinen Traditionsumzügen mit skurrilen Figuren voran, die auch deshalb „Perchtenlauf“ genannt werden. All dies ist wiederum mit den Rauhnächten verwoben, wie die zwölf Nächte zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag am 6. Januar bezeichnet werden, an denen die Gesetze der Natur angeblich außer Kraft gesetzt sind und die Grenzen zur „Anderswelt“ der Vorfahren und Geister aufgehoben. Der Begriff stammt möglicherweise vom mittelhochdeutschen Wort „rûch“ ab, das soviel wie „pelzig“ bedeutet, womit wir wieder beim Krampus wären. Sie kommen noch mit, ja?

Je weiter man in den Alpenraum kommt, desto archaischer und verstörender werden diese Bräuche nämlich. Und natürlich gibt es alljährliche Aufrufe, dem heidnischen Treiben ein Ende zu setzen, weil es nicht mehr zeitgemäß sei. Vierlerorts unterscheiden sich die Krampusläufe aber kaum noch von dem, was etwa weltweit zu Halloween veranstaltet wird: Horror-Kostüme, Teufelsmasken mit elektrischen Glutaugen und Feuerspuckvorrichtungen werden aufgetragen, Firlefanz und Mummenschanz also. Im vergangenen Jahr habe ich mich in den wichtigsten Ort des traditionellen Krampus-Brauchs gewagt, ins salzburgische Bad Gastein. Hier herrscht die ursprünglichste Form der Tradition, vermutlich aus Tirol angelandet, als aufgrund der Protestantenvertreibung im Salzburgischen dereinst die Arbeitskräfte fehlten. Schon damals, berichtet jedenfalls der Gemeindearchivar Horst Wierer, soll der Brauch christlich genutzt worden sein, wo erstmal 1450 von „Teufelslarven“ die Rede war, die auf geistlichen Sinnspielen zum Einsatz kamen. 

Zu Besuch beim Hüter des alten Spirits

Mit Rudi Mitterhofer lebt im Gateinertal eine Art Lordsiegelbewahrer der Überlieferung, der selbst die schönsten Krampuslarven (von „larva“, lateinisch für Gespenst) schnitzt. Er gewährte mir Einblick in seine Larvenschnitzkunst und das Innenleben der „Passen“, wie die kleinen Gruppen fast ausschließlich männlicher Jugendlicher genannt werden. Das hat weniger einen männerbündlerischen Aspekt als einen körperlichen. Die gigantischen Holzmasken und schweren Felle können nur von sehr sportlichen Jungs über Nächte hinweg geschultert werden. Als nicht sonderlich fitter 50-Jähriger war ich jedenfalls, man ließ mich einen Probelauf darin machen, nach einer Viertelstunde fix und fertig.

© Florian Kolmer

Und doch war allfällig, dass selbst die allerfürchterlichsten Teufelskostüme und Dämonenköpfe der Moderne gegenüber den primitiveren tradierten Holzschnitzereien bloß lächerlich wirken mussten. Vielleicht, so dachte ich mir, weil es eben nicht an Hollywoods Horrormovies erinnert, sondern an das, was indigene Gruppen auf der ganzen Welt ähnlich seit Urzeiten herstellen. Ob die berühmten Benin-Bronzen Afrikas, die fratzenhaften polynesischen Tiki-Masken oder manches Gesicht eines Totempfahls amerikanischer Ureinwohner: die alten Krampuslarven sind davon nicht weit entfernt. Am Wissen, dass die Vorfahren schon davor davongelaufen sind, nährt sich die Angst und Reste der Furcht mögen im Genpool abgelegt sein, wer weiß!

Nun will ich nicht verschweigen, dass die Krampusläufe in jedem Jahr Opfer fordern. 2020 diskutierte der Stadtrat von Bad Tölz, die Tradition zu beenden, als eine Frau grün und blau gedroschen worden war. In Berchtesgaden kam es Anfang diesen Jahres zu einem Gerichtsprozess, nachdem zwei Männer im Krampuskostüm eine Frau zu Boden gestoßen und sie mit Schnee eingerieben hatten. Anschließend soll einer der beiden der jungen Frau seine Zunge in den Mund gesteckt haben. Allzu wilde Krampusse verletzten auch einen Neunjährigen und brachen ihm den Mittelfußknochen, zuvor war in Braunau am Inn das Absperrgitter umgefallen bei der Hatz. Wer je selbst in einem solchen Kostüm steckte, weiß, wie schwierig die Orientierung fällt und eingeschränkt der Handlungsspielraum ist. 

Ein Verbot wäre dennoch falsch, ganz falsch.

Krampus und Karneval, Hochfest der Entgrenzung

Der bedeutende Philosoph Peter Sloterdijk hat den Karneval, den man als verwandte Tradition betrachten darf, mal als eine „der bedeutendsten Erfindungen der Zivilisation“ gepriesen. Wie den Faschingsumzügen wohnt Krampusumzügen und Perchtenläufen die Entgrenzung inne, das Anarchistische. Der Ausnahmezustand ist der Sinn dieser Traditionen, das Ekstatische sein bedeutendes Element. Wie bei jüngeren archaisch-anarchistischen Traditionen, etwa den Maikrawallen oder einem Pogotanz auf Rockkonzerten, muss es rau und wild zugehen, das Strafgesetzbuch bleibt dennoch in Kraft. Das Aufrührerische ist zeitlich beschränkt und funktioniert auch nur, solange die Ordnung aufrecht bleibt, gegen die nur ideell verstoßen werden darf.  

Gerade heute, wo das Regelwerk Überhand nimmt, die Gesetzbücher anschwellen und eine politisch-korrekte Morallehre zu immer neuen gesellschaftlichen Zwängen führt, braucht das Wilde und Freiheitslüsterne in uns seinen Auslauf. Doch auch ohne christlichen Rahmen bleibt das Prinzip aufrecht: Wer feiert, soll auch fasten. Und wer seine Teufel spazieren führt, muss sie auch wieder einfangen. 

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