Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist in die zerstörte Stadt Butscha gereist und hat seinen Vorwurf, Russland verübe einen Genozid an den Ukrainern bekräftigt. „Das sind Kriegsverbrechen und sie werden von der Welt als Völkermord anerkannt werden“, sagte Selenskyj am Montag vor Journalisten in der kleinen Stadt rund 25 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kiew.
Selenskyj trat in dunkelgrünem Pullover und einer Militärweste in Tarnmuster auf und machte sich in Begleitung von bewaffneten Sicherheitskräften ein Bild von den Zerstörungen.
Die Frage eines Reporters, ob es nun immer noch möglich sei, mit Russland über Frieden zu verhandeln, bejahte der ukrainische Staatschef: „Die Ukraine muss Frieden bekommen“, sagte er. Zugleich betonte er, ein baldiger Verhandlungserfolg sei in Russlands Interesse: „Je länger die Russische Föderation den Gesprächsprozess verzögert, desto schlimmer wird es für sie.“
Bilder von Einwohnern, deren Leichen nach dem Abzug russischer Truppen auf den Straßen lagen, lösen seit dem Wochenende weltweit Entsetzen aus. Die ukrainische Seite macht russische Soldaten für die Verbrechen verantwortlich. Moskau hingegen streitet die Schuld für den Tod der Zivilisten vehement ab.
Selenskyj hatte bereits am Sonntag von „Völkermord“ gesprochen. In einer Videobotschaft erklärte er, dass sich in Teilen des Landes, die noch unter russischer Kontrolle stehen, noch „schrecklichere Dinge auftun könnten“ als das, was bisher über die Verbrechen in der Stadt Butscha bekannt geworden ist. Er wolle, dass jede Mutter eines russischen Soldaten die Leichen der getöteten Menschen in Butscha und anderen Städten sehe, sagte der Regierungschef.
„Was haben sie getan? Warum wurden sie getötet? Was hat ein Mann getan, der mit dem Fahrrad die Straße entlang fuhr?“, fragte Selenskyj. „Warum wurden gewöhnliche Zivilisten in einer gewöhnlichen friedlichen Stadt zu Tode gefoltert? Warum wurden Frauen erdrosselt, nachdem sie ihnen die Ohrringe aus den Ohren gerissen hatten? Wie konnten sie Frauen vergewaltigen und sie vor den Augen der Kinder töten? Ihre Körper auch nach ihrem Tod verspotten? Warum haben sie die Körper von Menschen mit Panzern überfahren? Was hat die ukrainische Stadt Butscha Ihrem Russland getan?“
Selenskyj hatte auch Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem Besuch in Butscha aufgefordert. Merkel hatte daraufhin über eine Sprecherin ausrichten lassen, dass sie zu ihrer Entscheidung, der Ukraine den Nato-Beitritt 2008 zu verwehren, stehe. „Ich denke, sie hat mein Signal sehr gut verstanden“, sagte Selenskyj nun.
„Das ist eine Hölle, die dokumentiert werden muss“
Das in den USA ansässige Unternehmen Maxar Technologies veröffentlichte in der Nacht zum Montag neue Satellitenbilder aus der Stadt. Sie zeigen auf dem Gelände einer Kirche einen 14 Meter langen Graben. Die Bilder wurden am 31. März aufgenommen, dem Tag, als sich die russischen Invasoren aus der Stadt zurückzogen. Nach ukrainischen Angaben wurden in dem Graben von den russischen Truppen die Leichen Hunderter getöteter Zivilisten begraben. Insgesamt wurden bislang die Leichen von 410 Bewohnern geborgen.
Mehr als 50 Mitarbeiter von Staatsanwaltschaft und der Nationalen Polizei nahmen demnach erste Ermittlungen zu den Verbrechen im Gebiet Butscha auf, die nach dem Abzug russischer Truppen bekannt wurden. Auch in anderen Orten um Kiew und Tschernihiw soll es Untersuchungen geben.
In einem Keller in Butscha wurden nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft die Leichen von fünf gefolterten Männern entdeckt. Es handele sich um „unbewaffnete Zivilisten“, die von russischen Soldaten getötet worden seien, teilte die Behörde am Montagabend mit. Sie seien mit gefesselten Händen im Keller eines Kindersanatoriums in dem Kiewer Vorort gefunden worden.
„Das ist eine Hölle, die dokumentiert werden muss, damit die Unmenschen, die sie geschaffen haben, bestraft werden“, schrieb die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa am Sonntagabend auf Facebook. Seit Freitag seien bereits 140 der Leichen untersucht worden. Gerichtsmediziner und andere Spezialisten seien dafür im Einsatz.
„Die Generalstaatsanwaltschaft wird die Zahl der Ermittlungsbeamten weiter erhöhen, um eine möglichst schnelle und effiziente Sammlung von Beweisen für Kriegsverbrechen sicherzustellen“, schrieb Wenediktowa. Besonderes Augenmerk liege dabei außerdem auf den Gebieten um Mariupol, Charkiw, Sumy, Luhansk und Donezk. Wenediktowa betonte, dass an den Tatorten nur Profis arbeiten sollten und wies freiwillige Helfer an, die Arbeit nicht zu stören.
Die stellvertretende Verteidigungsministerin der Ukraine, Hanna Maljar, hatte zuvor mitgeteilt, dass die Armee mehr als fünf Wochen nach dem russischen Einmarsch wieder die volle militärische Kontrolle über die Region um Kiew erlangt habe.
Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow drohte mit Vergeltung: „So etwas Böses darf nicht ungestraft bleiben“, sagte er am Montag in Kiew. „Unsere Aufklärung identifiziert systematisch alle Eindringlinge und Mörder. Alle! Jeder wird zu seiner Zeit bekommen, was er ‚verdient‘ hat“, hieß es in der auf Facebook veröffentlichten Mitteilung.
Die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Nicola Beer (FDP), fordert daher ein „Sonderkriegsverbrecher-Tribunal ähnlich wie bei den Jugoslawien-Kriegen“ gegen die Verantwortlichen. „Für uns alle ist die Monstrosität dieser Taten unbegreiflich“, sagte Beer am Sonntagabend bei Bild-TV. „Das sind schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das sind Kriegsverbrechen.“
Ukraine erobert weitere Gebiete zurück
Etwa zwei Drittel der in der Umgebung der ukrainischen Hauptstadt Kiew eingesetzten russischen Truppen zogen nach US-Geheimdienstinformationen aus dem Gebiet ab. Sie seien entweder im Nachbarland Belarus oder auf dem Weg dorthin, sagte ein Vertreter des US-Verteidigungsministeriums, der anonym bleiben wollte der Nachrichtenagentur AP.
Weiter sagte er, die Truppen erhielten wahrscheinlich weitere Vorräte und würden verstärkt. Es habe zudem den Anschein, dass russische Streikräfte Artillerie und Soldaten neu positionierten, um die Stadt Isjum einzunehmen, die auf einer Schlüsselroute in den Donbass liege, sagte er.
Russische Truppen sollen auch begonnen haben, sich aus der ostukrainischen Region Sumy zurückzuziehen. Es sei aber noch zu früh, um von einer Befreiung der Region zu sprechen, sagte der Chef der Gebietsverwaltung von Sumy, Dmytro Schywyzkyj, der Agentur Unian zufolge in der Nacht zu Montag in einer Videobotschaft.
Das ukrainische Militär eroberte nach eigenen Angaben zudem einige Orte in der Region Tschernihiw von russischen Truppen zurück. Humanitäre Hilfe sei nun in diese Gegenden unterwegs, teilten die ukrainischen Streitkräfte mit. Die Stadt Tschernihiw ist nach Angaben des dortigen Bürgermeisters inzwischen zu 70 Prozent zerstört.
Russische Angriffe auf ukrainische Städte gehen unvermindert weiter
Auch die Angriffe Russlands auf andere Städte in der Ukraine gehen weiter. Nach Angaben der Regionalverwaltung ist die südukrainische Hafenstadt Odessa in der Nacht zum Montag erneut mit Raketen angegriffen worden. In der Hafenstadt Mykolajiw am Schwarzen Meer kam mindestens ein Mensch ums Leben und 14 weitere wurden verletzt, als russische Granaten einschlugen.
Bei einem Angriff auf ein Wohngebiet in Charkiw im Nordosten der Ukraine wurden nach ukrainischen Angaben sieben Menschen getötet und 34 weitere verletzt. Unter den Verletzten seien auch drei Kinder, teilte die örtliche Staatsanwaltschaft am Sonntag auf Telegram mit. Die russischen Truppen hätten am Sonntagabend ein Wohnviertel beschossen und dabei zehn Häuser und ein Bus-Depot beschädigt.
In der östlichen Region Donezk wurden bei russischen Angriffen sechs Menschen getötet und ein weiterer verletzt, wie der Leiter der regionalen Militärverwaltung Pawel Kirilenko auf Telegramm mitteilte. Nach dem Rückzug aus der Region um die Hauptstadt Kiew konzentrieren sich die russischen Truppen nach Angaben Kiews auf den Süden und Osten der Ukraine.
Mariupol bleibt weiterhin umkämpft
In dem von russischen Truppen belagerten Mariupol wiederum halten die schweren Kämpfe an. Das britische Verteidigungsministerium teilte mit, die Stadt werde weiterhin intensiv und wahllos angegriffen, doch die ukrainischen Streitkräfte leisteten hartnäckigen Widerstand und behielten die Kontrolle über die zentralen Bereiche.
Die ukrainische Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer ist nach Ansicht der britischen Militäraufklärung „höchstwahrscheinlich“ ein Schlüsselziel der russischen Invasion in die Ukraine. Mit der Einnahme der weiterhin schwer umkämpften Stadt könnte eine direkte Landverbindung zwischen Russland und der besetzten Halbinsel Krim hergestellt werden, verlautete in der Nacht zum Montag aus einem Update des britischen Verteidigungsministeriums unter Berufung auf Geheimdienstinformationen.
Russlands bisher einzige Verbindung vom Festland zur Halbinsel ist eine Brücke über die Meerenge von Kertsch.
UN zählt mehr als 1400 Tote
Die UN dokumentierten seit dem Einmarsch russischer Truppen den Tod von 1417 Zivilisten in der Ukraine. Unter ihnen waren 121 Kinder und Jugendliche, wie das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf mitteilte. Demnach gab es außerdem verifizierte Informationen über 2038 Verletzte, darunter 171 Kinder und Jugendliche. In die Zahlen gingen alle bis einschließlich Samstag dokumentierten Fälle ein. Russland hatte am 24. Februar seinen Angriff auf die Ukraine begonnen.
1504 der Opfer stammten den Angaben aus den Regionen Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine. Das Büro geht allerdings davon au, dass die tatsächlichen Zahlen erheblich höher sind: In einigen Orten, die schwer umkämpft sind, konnten demnach viele Berichte über zivile Opfer noch nicht bestätigt werden, darunter Mariupol und Irpin.
„Die meisten Opfer unter der Zivilbevölkerung wurden durch den Einsatz von Explosivwaffen mit großer Reichweite verursacht, darunter durch den Beschuss mit schwerer Artillerie und mit Raketenwerfern sowie durch Raketen- und Luftangriffe“, hieß es in der Mitteilung vom Sonntag.
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