Armut: Herr Wehner muss gesund bleiben – Gesellschaft

In einer blitzsauberen Dachgeschosswohnung kauert ein Mann am Esstisch und schämt sich, über seine Not zu sprechen, die ihn zwingt zu lügen und zu betrügen, die ihn einsam macht und die ihn beinahe das Augenlicht gekostet hätte. Der Mann ist mittelgroß, schmal und Anfang sechzig, er trägt das braune Haar kurz. Er soll in diesem Text Herr Wehner heißen, sein richtiger Name geht niemanden etwas an.

Herr Wehner ist nicht krankenversichert. Seit sieben Jahren schon. Ihm fehlen mehrere Zähne im Unterkiefer. Oft hat er Zahnschmerzen. Er hat Angst vor einer Wurzelentzündung. Dann müsste er zum Arzt, würde lügen, er sei privatversichert, würde sich behandeln lassen – im Wissen, die Rechnung wahrscheinlich niemals begleichen zu können. Betrug. Vorsatz. Will er ärztlich versorgt werden, macht er sich zum Kriminellen.

Früher hatte Wehner eine kleine Firma, installierte Decken und Inneneinrichtungen für Forschungszentren, Labore und Büros. Das meiste machte er alleine. Eine Zeit lang lief es gut. Er fuhr einen 5er-BMW, Vollausstattung, graues Leder. Er stellte sich eine Küche nach seinen Wünschen zusammen. Er baute einen extragroßen Backofen ein. Mit Drehscheibe und Grill. Er legte Wert auf gutes Essen, sagt er.

Dann lief es schlecht. Also setzte er die Zahlung an die Krankenversicherung aus. Der nächste Auftrag würde wieder genügend Geld einbringen – hoffte er. Er erzählt von Ausschreibungen, von Konkurrenz aus Rumänien, die es für die Hälfte machte, er erzählt von Auftraggebern, denen er zu teuer geworden sei. Wehner spricht ohne Hass, ohne Neid. Mit dem Traum von der Selbständigkeit, vom Erfolg, vom Geld – damit hat er längst abgeschlossen. Jetzt geht es ihm nur noch um sein Leben.

Jeder Mensch in Deutschland ist verpflichtet, krankenversichert zu sein. Aber keine Versicherung nimmt Wehner auf

Jahrelang zahlte er keine Krankenversicherungsbeiträge. Wie lange, daran kann er sich nicht mehr erinnern, sagt er. Vielleicht möchte er sich auch nicht erinnern. Vielleicht ist es ihm unangenehm. Verlieren tut weh.

Aber wegen ausstehender Zahlungen darf einem die Krankenversicherung nicht kündigen. Wehner zeigt ein Schreiben der Versicherung, eine Mail, er hat sie ausgedruckt und auf den großen Esstisch gelegt. Darin wirft der Konzern ihm vor, “depressive Stimmungslagen und eine Alkoholproblematik” vor vielen Jahren in seinem Aufnahmeantrag verschwiegen zu haben. Ein Vertrag unter falschen Voraussetzungen, findet die Versicherung – und kündigte ihm. Für ihn ist das nur ein Vorwand, um ihn loszuwerden. Weil er nicht bezahlte.

War diese Kündigung rechtens? Fragt man bei der hessischen Verbraucherzentrale nach, erklärt dort eine freundliche Frau, dass das Recht tatsächlich aufseiten der Versicherung liegt. Eine verschwiegene Erkrankung kann zur Auflösung des Vertrags führen, sagt sie, jedoch verjährt die unterlassene Meldung nach zehn Jahren. Aber Wehner befindet sich noch in der Frist.

Und es stimmt ja: Es gab eine Zeit, in der Wehner zu viel trank. Manchmal waren es zehn Bier am Tag, schätzt er. Seine Beziehung zerbrach. Er dachte an Suizid. Es ging weiter bergab. Schulden, Insolvenz, Jobcenter – seit einem Jahr ist er jetzt als arbeitslos gemeldet, lebt vom Bürgergeld, rund 450 Euro im Monat, die Miete übernimmt das Jobcenter. Wäre er noch krankenversichert, würde das Jobcenter die Kosten übernehmen. Aber in seinem Fall ist es nicht zuständig. Auf der Webseite des Jobcenters gibt es sogar ein Merkblatt für Unversicherte: “Sie müssen sich (…) selbst umgehend um Ihren Versicherungsschutz kümmern! Bitte beachten Sie: Das Jobcenter übernimmt für Personen ohne Krankenversicherungsschutz keine Kosten einer medizinischen Versorgung.”

Dabei ist jeder Mensch in Deutschland verpflichtet, krankenversichert zu sein. Aber keine Versicherung nimmt Wehner auf. Die Gesetzliche darf es nicht. Ein Gesetz verbietet das. Eigentlich ein gutes Gesetz, es verhindert, dass langjährig Privatversicherte ab 55 Jahren in eine gesetzliche Kasse wechseln, um im Alter Geld zu sparen – auf Kosten der gesetzlich Versicherten. Das Gesetz soll verhindern, dass Bessergestellte das Versicherungssystem ausnutzen. Die Privaten dagegen müssten Wehner wieder aufnehmen, weil er dort zuletzt versichert war. Zwar nur in einem aufs absolute Minimum an Leistungen beschränkten Basistarif, doch Wehners Aufnahmeanträge sind alle gescheitert, wie seine Dokumente belegen.

Wehner ist nicht allein. In Deutschland gibt es laut Statistischem Bundesamt 61 000 Menschen ohne Krankenversicherung. Die Zahl stammt aus dem Mikrozensus von 2019, einer Haushaltsbefragung. Die Hilfsorganisation Ärzte der Welt geht dagegen von mehreren Hunderttausend Unversicherten in Deutschland aus. Geflüchtete, die sich hier illegal aufhalten. Osteuropäische Saisonarbeiter, deren Arbeitserlaubnis abgelaufen ist – oder die nie eine hatten. Wohnungslose. Und ehemals Selbständige wie Herr Wehner. Diese Menschen fielen meistens durch das Raster einer Haushaltsbefragung, mutmaßt die Hilfsorganisation, die in Berlin, Hamburg, München und Stuttgart kostenlose medizinische Versorgung für Menschen ohne Krankenversicherung anbietet. Die Ärzte verschenken dort Medikamente und untersuchen die Kranken auf hausärztlichem Niveau.

Eine Möglichkeit, die Wehner nicht hat. Aber er bekommt Unterstützung. Zwei Männer sitzen mit Wehner am großen Esstisch. Der eine ist sein Sozialarbeiter, Jens Rottacker vom Verein Soziale Hilfe Darmstadt. Der andere ist Wehners ältester Freund. Sie kennen sich seit ihrer Jugend. Wehner wirkt verzweifelt. Er schlafe oft bis zum Mittag, weil er nachts keine Ruhe finde. “Ich gammle so vor mich hin”, sagt er. In seinem großen Backofen mit Drehscheibe backt er jetzt Tiefkühlpizzen von Lidl oder Aldi auf. Ab und zu trinkt er ein Bier dazu. “Ich weiß, ich ernähre mich schlecht. Ich esse zu fettig – und dann mal einen Tag gar nichts”, sagt er.

Unterstützt Unversicherte wie Herrn Wehner: Jens Rottacker, 58, vom Verein Soziale Hilfe Darmstadt.

(Foto: Constantin Lummitsch)

Den Kontakt zum Sozialarbeiter hat Wehners Vermieterin hergestellt, vor mehr als einem Jahr. Wehner hat Mietschulden. Sein ganzes Leben scheint ihm zu entgleiten. Rottacker trifft ihn einmal pro Woche. Auch der alte Freund versucht zu helfen. Er ist seit einem Jahr in Rente. Bis dahin arbeitete er für eine große private Versicherung – zuständig für Krankenversicherungen. Er reicht seine Visitenkarte. Googelt man ihn, kommt man auf die Seite der Versicherung. Ein Foto. Er sitzt am Schreibtisch. Der Chef wünscht ihm alles Gute für den Ruhestand.

Der Freund berichtet von rund zehn Prozent seiner Kunden, die ihre Krankenversicherungen nicht bezahlen konnten, zumindest zeitweise. BMW-Kunden habe man dazu im Konzern gesagt. Bäcker. Metzger. Wirte. Selbständige, die oft Wert auf einen schicken Firmenwagen legen würden, aber auch rasch in Zahlungsnot geraten könnten. Und bei der Krankenversicherung würde dann zuerst gespart. Ein riskanter Aufschub. Denn säumige Krankenversicherungsbeiträge müssen nachträglich bezahlt werden, eine zusätzliche Hemmschwelle für Unversicherte, denn mit erneutem Versicherungsbeitritt kommt ein Schuldenberg auf sie zu. Erst nach vier Jahren verjähren die ausstehenden Beiträge.

Der Freund war es auch, der Wehner vor zwei Jahren drängte, einen Arzt zu betrügen. Wehner sah auf einem Auge immer schlechter, bis er damit nur noch hell und dunkel unterscheiden konnte, alles andere verschwamm zu einem trüben Nebel. “Sein Auge war ganz grau, ich habe mir große Sorgen gemacht”, sagt der Freund. Wehner geht zum Augenarzt, der warnt, dass eine Erblindung drohe, es ist Grauer Star, fortgeschrittener Zustand. Wehner behauptet, privat versichert zu sein, macht einen Termin für die Operation aus. Die kostet 2000 Euro. Die er nicht hat. Die Operation klappt. Er kann wieder auf dem Auge sehen. Die Rechnung sitzt er aus. Ein Inkassounternehmen schaltet sich ein. “Die schreiben mir jetzt alle sechs Wochen einen Brief”, sagt er.

“Das kann so nicht weitergehen”, sagt Rottacker, 58, ein Mann mit Geheimratsecken und großer Brille. Seine Stimme ist kraftvoll und ruhig. Er sagt, als Sozialarbeiter habe er Menschen in schlimmsten Situationen vorgefunden – und immer eine Lösung gefunden. “Nur hier weiß ich nicht mehr weiter.”

Eine Versicherung macht ein Angebot – 870 Euro im Monat. Wehner lebt vom Bürgergeld

Wehner hat ihm eine Vollmacht erteilt, um für ihn mit Versicherungen in Kontakt zu treten. Rottacker hat seitdem eine gesetzliche Krankenversicherung angeschrieben, in der vagen Hoffnung, eine lange zurückliegende Mitgliedschaft könnte einen erneuten Beitritt rechtfertigen. Die Versicherung lehnte ab, berief sich zu Recht “auf Paragraf 5, Absatz 1 Nr. 13 Buchstabe a SGB V”: Wehner war zuletzt privatversichert, daher ist der Weg in die Gesetzliche für ihn versperrt. Und er ist über 55, ein Alter, in dem man nur in Ausnahmefällen von der privaten und die gesetzliche Kasse wechseln kann – aber Wehner ist ja noch nicht mal versichert.

Sie schreiben Wehners ehemalige private Versicherung an, die ihm vor sieben Jahren kündigte. Sie bitten um erneute Aufnahme. Die Versicherung verweist auf die “Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht” und lehnt ab.

Rottacker und Wehner versuchen es bei einer anderen Privaten. Prompt kommt ein Vertragsangebot. Basistarif. Rund 870 Euro pro Monat. Rottacker antwortet, dass Wehner Hartz-IV bekommt, der Basistarif also angepasst werden müsse. Denn bei Bedürftigen muss der Beitrag für den Basistarif halbiert werden und das Jobcenter bezahlt. Ein schlechtes Geschäft für die Versicherung – die sich nie wieder meldet.

Rottackers Versuche haben bisher also nichts gebracht. Aber er vermittelt Wehner zu den Maltesern. Die bieten mittwochs im Darmstädter Krankenhaus eine Sprechstunde für Unversicherte an. Ehrenamtlich. Wehner lässt sich dort zweimal untersuchen, sagt er. Dr. Karl Keil ist einer der Ärzte, die ihn behandeln. Keil ist 72 und eigentlich Kinderarzt. Zu viert kümmern sie sich in Darmstadt um die Verlorenen, erzählt er am Telefon. Bis zu 600 Patienten sind es pro Jahr. Fast alle unversichert. Keil erzählt von illegalen Bauarbeitern. Er erzählt von einem Frankfurter Architekten. Er erzählt von Krebs und Herzkranken. In seiner Sprechstunde kann er nur das Nötigste versorgen, er hat zwar ein Ultraschallgerät, aber sonst kann er nicht viel mehr machen als ein Hausarzt.

Er erzählt von Kliniken, die sich vor der Aufnahme von Unversicherten drückten. Nur wenn einer fast krepiere, müsse das Krankenhaus helfen. Sonst wäre es unterlassene Hilfeleistung.

Im November bekommt Wehner Corona. Er ist nicht geimpft. Es erwischt ihn mit voller Wucht, sagt er später. Kopfschmerzen, kein Geruchssinn, kein Geschmack. Hustenanfälle. Schleim. Die Lunge brennt. Er wird immer schwächer. Er will den Notarzt rufen. Er denkt an die Rechnung. Er hat Angst, auf der Intensivstation zu landen. Er ruft nicht an. Er hofft durchzukommen. Er lässt es drauf ankommen. Es wird Nacht. Er hält das Telefon in der Hand. Er will immer wieder anrufen. Er lässt es. Es wird Morgen. Es wird etwas besser. Er hält durch. Er schafft es.

Wer nicht versichert ist, bekommt keinen Job. Wie soll Wehner aus diesem Kreislauf rauskommen?

Wehner ist ein geschickter Handwerker. Er baute für renommierte Kunden. Seine offene Küche ist ein Unikat. Selbst angefertigt. Auch der große Esstisch. Er weiß mit Holz umzugehen, mit Elektronik und Deckenbau. Er hat sich bei Baufirmen in der Region beworben. Wurde eingeladen. Sollte eingestellt werden. Aber wenn die Chefs die Papiere fertig machen wollten, kam immer die gleiche Frage:

Wo bist du versichert?

Gar nicht.

Ohne Versicherung – kein Job, heißt es.

Er wirft Briefe inzwischen oft ungelesen weg, erzählt er. Sind sowieso nur Mahnungen und Aufforderungen vom Inkassobüro. Welchen Grund gibt es für ihn durchzuhalten? Im Gefängnis gäbe es wenigstens eine Versicherung. Wenn er eine Postfiliale überfiele, was wäre dann?, sagt er, halb im Scherz. Die Mietschuld arbeitet er ab. Für die Vermieterin macht er Hausmeisterjobs. Schwarz. Irgendwann hat er zumindest diese Schuld beglichen, sagt er. Wenn das Jobcenter davon erfährt, bekommt er Probleme. Aber irgendwie muss er ja da raus, sagt er.

Wehner könnte den Rest seines Lebens unversichert bleiben, befürchtet Rottacker. Wer gesund und gefestigt ist, kann sich durch Formulare und Anträge kämpfen, sagt er, aber wer unten ist, keinen Sinn mehr im Leben erkennt, der gibt irgendwann auf.

Am Ende des Gesprächs, bei Kippe und Kaffee, erzählt Wehner von den vier verdächtig dunklen Muttermalen auf seiner Haut. Hoffentlich ist es nur was Harmloses, sagt er dann noch. Krebs könne er sich einfach nicht leisten.

source site